In Inwil brachten Zuger Firmen ihre Arbeiter unter

In diesem Scheibenhaus fühlt man sich fast wie in einem Penthouse

Eine Wohnmaschine mit Penthouse-Flair – zumindest, was die Aussicht in den obersten Etagen betrifft: eines der «Scheibenhäuser» in Baar/Inwil, das 1966 gebaut wurde und früher Landis&Gyr gehörte.

(Bild: woz)

Wer an diesen riesigen Häusern im kleinen Inwil vorbeifährt, der fragt sich: Will man hier tatsächlich wohnen? Doch die zehnstöckigen Scheibenhäuser wirken innen nicht nur sehr wohnlich. Sie sind auch ein Beispiel für firmeneigenen Wohnungsbau – als Zuger Unternehmen noch danach schauten, dass ihre Mitarbeiter ein gutes Dach über dem Kopf haben.

Ortstermin im neunten Stock. Bei Familie Zendeli. Tochter Mirlanda öffnet freundlich die Wohnungstür und zeigt dem unerwarteten Besucher die geräumige Wohnung. Vom Balkon hat man eine grandiose Sicht auf Baar, Zug und den See. Ein Panorama, das man eher am Zugerhang von einer Millionärsvilla aus erwarten würde.

Wie Ozeandampfer im Häusermeer

Doch wir sind hier mitten im Arbeiterviertel in Inwil, im Baarer Boomdorf (zentralplus berichtete). Die vier gigantischen Gebäude wirken wie Ozeandampfer, die durch die Häuserzeilen pflügen. Scheibenhäuser heissen sie, weil sie auf dem Grundriss einer Scheibe entwickelt wurden. Sie strahlen die Atmosphäre lateinamerikanischer Mietskasernen und Wohnmaschinen aus. Andererseits wirken sie extrem modern – mit dem luftigen Gebäudesockel à la Corbusier.

Zuger Panorama: die Aussicht aus dem neunten Stock.

Zuger Panorama: die Aussicht aus dem neunten Stock.

(Bild: woz)

Zurück in der Wohnung im neunten Stock, hoch oben gen Himmel. Dort kommt man sich auf den ersten Blick tatsächlich fast wie in einer Penthousewohnung vor. So edel wirken neben der hochkarätigen Aussicht auch die dekorativen Ölgemälde an den Wänden – Blumenarrangements in Weiss, Silber und Gold. «Die habe ich selbst gemalt», sagt Mirlanda stolz.

Mutter Gazije Zendeli erinnert einen indes wieder an die Bodenständigkeit des Milieus im Scheibenhaus: Angesichts des plötzlichen Gastes hängt sie die Wäsche auf dem Balkon ab, wischt den Wohnzimmertisch sauber. Dabei wirkt alles gemütlich und behaglich.

«Es ist sehr ruhig hier, man hört nichts von den anderen Wohnungen.»

Mirlanda Zendeli, Bewohnerin

Familie Zendeli kommt aus Mazedonien. Aus Gostivar, dem albanischen Teil des Landes. Die Zendelis fühlen sich sehr wohl in ihrer Wohnung. «Es ist sehr ruhig hier, man hört im Prinzip nichts von den anderen Wohnungen», berichtet Tochter Mirlanda, die am besten von allen in der Familie Deutsch spricht. 

Scheibenhäuser wurden 1966 gebaut

1966 wurde dieses 54-Familien-Haus an der Rigistrasse 163–165 in Inwil fertiggestellt. Von den drei anderen, identischen Häusern entstand ein weiteres im selben Jahr, zwei andere errichtete man im Folgejahr.

Die Familie Zendeli lebt im neunten Stock im 54-Familien-Hhaus in Inwil: Mutter Gazije und Tochter Mirlanda sitzen auf dem Sofa. Das hübsche Gemälde hat Mirlanda gemalt.

Die Familie Zendeli lebt im neunten Stock im 54-Familien-Hhaus in Inwil: Mutter Gazije und Tochter Mirlanda sitzen auf dem Sofa. Das hübsche Gemälde hat Mirlanda gemalt.

(Bild: woz)

«Als erster Entwicklungsschub Inwils sind in den 1960er-Jahren diese Scheibenhochhäuser mit den rund 160 Wohnungen der Verzinkerei Zug zu verstehen», sagt der Baarer Architekt Thomas Baggenstos. Die Zuger Fabrik wollte preiswerte Wohnungen im Grünen für die eigenen Arbeiter bauen, welche eine hohe Wohnqualität besitzen.

«Das Quartier war, typisch für die damalige Zeit, relativ gut erschlossen, am Rande der Siedlungsgebiete.»

Thomas Baggenstos, Baarer Architekt

Bis dato präsentierte sich Inwil an der alten Verbindungsstrasse zwischen Zug und Baar nämlich noch in seinem ursprünglichen Ausdruck als Bauernweiler – umstanden von Hunderten von Obstbäumen.

«Das Quartier war, typisch für die damalige Zeit, relativ gut erschlossen. Am Rande der Siedlungsgebiete – aber mit entsprechendem Umschwung und auf der grünen Wiese», erklärt der Architekt. Die Wohnsiedlung habe über viel Aussenraum verfügt, welcher durch die Konzentration der Wohnnutzung auf wenige hohe Gebäude frei blieb.

Gehörte früher auch der Landis&Gyr

Die Scheibenhäuser sind ein gutes Beispiel dafür, wie Zuger Unternehmen dafür sorgten, dass ihre Arbeiter ein gutes Dach über dem Kopf hatten. Das 54-Familien-Haus zählte später zu den zahlreichen Zuger Liegenschaften der Landis&Gyr. Seit 1995 gehört das Hochhaus der BVK Personalvorsorge des Kantons Zürich, einer Pensionskasse.

Dabei begann die Unterbringung der Arbeiter in Zug schon Anfang des 20. Jahrhunderts. Schon früh bemühte sich die Geschäftsleitung des Zuger Stromzählerherstellers, für Frauen und Männer, «welche nicht in der Nähe wohnten oder keine öffentlichen Transportmittel benützen konnten, Unterkunfts- und Verpflegungsmöglichkeiten zu suchen», wie der langjährige Denkmalpfleger Heinz Horat in seinem neuen Landis&Gyr-Buch «Die Fabrik in der Stadt» (2017) erklärt.

Anno 1908: Dieses Arbeiterhaus der Metallwarenfabrik an der Metallstrasse, das heute das «Centro Italiano» beherbergt, ist noch das letzte architektonische Original seiner Art.

Anno 1908: Dieses Arbeiterhaus der Metallwarenfabrik an der Metallstrasse, das heute das «Centro Italiano» beherbergt, ist noch das letzte architektonische Original seiner Art.

(Bild: woz)

Logierhäuser für Arbeiter waren die Lösungen der ersten Stunde. Konkret waren es das Kurhaus Waldheim, das Landis&Gyr in Zug als Frauenhaus kaufte, und das Hotel Löwen für Männer.

Erste Arbeiterhäuser standen in der Metallstrasse

Später folgten bescheidene Arbeitersiedlungen in der Stadt Zug. Als erstes Stadtzuger Industrieunternehmen liess die Metallwarenfabrik in ihrer direkten Umgebung durch Karl Peikert Arbeiterhäuser an der Metallstrasse 12–19, an der Bleichistrasse und an der Haldenstrasse 1–20 errichten. Das älteste und einzig originale Haus der Häuserzeile in der Metallstrasse ist das Gebäude des «Centro Italiano», es stammt aus dem Jahr 1908.

«Die ersten Mehrfamilienhäuser waren 1907 bezugsbereit.»

Heinz Horat, Autor des neuen Landis&Gyr-Buchs «Die Fabrik in der Stadt»

«1907 waren die ersten Mehrfamilienhäuser bezugsbereit, rasch folgten weitere Mehrfamilien- und Einfamilienhäuser, so dass 1914 total 16 Häuser mit 60 Wohnungen, jede mit Gartenanteil, bereitstanden», sagt Horat.

Das erste grosse Arbeitersiedlungsprojekt war dann die Zuger Gartenstadt. Die Landis&Gyr erbaute die «Gartenstadt» zwischen 1919 und 1960. Sie steht unter Ortsbildschutz.

Auch in anderen Zuger Gemeinden haben Unternehmen, wie die Spinnereien etwa, Häuser für ihre Arbeiter gebaut – die Höllhäuser in Baar und die Kosthäuser in Hagendorn. Letztere wurden sogar unter Denkmalschutz gestellt und auf nobel saniert.

13 Häuser der Gartenstadt sollen für Neubauten abgerissen werden

Mehr als nur nobel umbauen wollen die Baugenossenschaft Familia Zug und die kantonale Gebäudeversicherung in den nächsten Jahren ihre 13 Wohnhäuser in der Gartenstadt entlang der Aabach- und Hertistrasse. Die Häuser sollen abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden. Ausserdem soll eine grosse Autoeinstellhalle gebaut werden. Dagegen wehrt sich der Verein Pro Gartenstadt Zug.

Die Gartenstadt wurde von der Landis&Gyr zwischen 1919 und 1960 für ihre Arbeiter gebaut. Sie steht unter Ortsbildschutz – 13 Häuser sollen nun wegen eines geplanten Neubaus abgerissen werden.

Die Gartenstadt wurde von der Landis&Gyr zwischen 1919 und 1960 für ihre Arbeiter gebaut. Sie steht unter Ortsbildschutz – 13 Häuser sollen nun wegen eines geplanten Neubaus abgerissen werden.

(Bild: woz)

Die «Gartenstadt» ist ursprünglich ein vom Briten Ebenezer Howard im Jahr 1898 in England entworfenes Modell als Antwort auf die schlechten Wohn- und Lebensverhältnisse der Fabrikarbeiter in Industriestädten.

Der Garten diente als Nutzgarten, Spiel- und Erholungsbereich und verhalf den Arbeitern zu einer gesunden Ernährung und Lebensweise. Die «Gartenstadt» in Zug gehört längst zur grünen Lunge in Zug und bietet Geringverdienenden und Familien zu günstigen Mietzinsen schöne Wohnungen.

Die Ingenieur-Bungalows in der Tellenmatt in Oberwil

Doch die Landis&Gyr hat auch noch ganz andere Immobilien für ihre Mitarbeiter bauen lassen. Und zwar nicht nur für ihre Arbeiter, sondern auch für das Kader.

Zwischen 1976 und 1981 liess das Stromzählerunternehmen einige Bungalows für die Ingenieure in der Tellenmatt in Oberwil errichten. Direkt am See, dem Strassenlärm um eine Etage enthoben und versteckt zwischen viel Grün geniessen die Bewohner direkte Seesicht, viel Ruhe sowie eine lauschige Gartenatmosphäre.

Fast feudal – für ihre Ingenieure liess die Landis

Fast feudal – für ihre Ingenieure liess die Landis&Gyr in den 70er-Jahren in der Tellenmatt in Oberwil einige Bungalows bauen. Diese haben Seesicht und sind diskret versteckt.

(Bild: woz)

 

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