Besuch bei Irène Zappa in Luzerns buntestem Haus

«Gibi 6»: Wo früher Feste stiegen, herrscht nun das Chaos

«We are Family»: Irène Zappa vor ihrem Haus, in dem sie sich seit einigen Jahren verbarrikadiert.

(Bild: jwy)

Müll, Möbel, Malereien: Immer mehr Kram hat sich über die Jahre um das Haus an der Gibraltarstrasse 6 ausgebreitet. Dies ist die tragische Geschichte der Bewohnerin, die sich mit dem Quartier angelegt hat, und nicht mehr loslassen kann. Wir blickten in ihr Reich und ihre Vergangenheit.

«Dieses Haus ist halb verfallen
Und es knarrt und stöhnt und weint
Dieses Haus ist noch viel schlimmer als es scheint»

(Bruce Low: «Das alte Haus von Rocky Docky»)

Es regnet in Strömen und Irène Zappa spaziert mit einem durchsichtigen Regenschirm um ihr Haus. In der Hand hält sie vier Hüte, für jede Etage des Hauses einen. Das ist ihr wichtig und so hat sie es angekündigt.

Sie zeigt auf die Fenster, hinter denen riesige Zahlen hängen. «Ein Adventskalender», sagt sie. «Den habe ich gemacht, um mich zu wehren, weil sie mir das Haus wegnehmen wollen.» Es wird nicht die einzige Aussage von ihr bleiben, bei der man stutzt. Und wie man versucht die Information einzuordnen, so redet sie bereits vom nächsten Thema. So ergeht es einem dauernd, wenn man mit der sichtlich verwirrten Frau spricht.

Alles ist vollgestellt: Fenster, Trottoir, Treppenhaus

Irène Zappa freut sich über den Besuch und zeigt gern ihr «Hexenhäuschen» an der Gibraltarstrasse 6, an dem so mancher täglich vorbeispaziert und sich fragt: wer wohnt da? Und was geht hier vor sich? Die 69-Jährige ist ein Lokalkolorit. Die alleinige Besitzerin des dreistöckigen Hauses lebt mit Unterbrüchen seit bald 40 Jahren darin. Wer sich ab und zu im Bruchquartier aufhält, wer hier arbeitet oder wohnt, kennt die Frau. Und manche fürchten und meiden sie seit ein paar Jahren.

«Ich habe mich verbarrikadiert und das Haus belagert.»

Das «Gibi 6» fällt auf wie ein bunter Hund. Nicht aufgrund der schönen Fassaden-Malerei des Künstlers Arno Kauflin, sondern weil alles vollgestellt ist: Fenster, Trottoir, Eingang. Rund um das Haus stehen Pflanzentöpfe, Karton- oder Plastikstücke und allerlei Plunder. Zudem sind die Wände vollgeschrieben mit Botschaften: «Atelier 3fach», «We are Family», aber auch unmissverständliche Warnungen an ihre «Feinde».

Eine geteilte Terrasse

Selbstgezogene Linien markieren ihr Grundstück. Sogar die gemeinsame Terrasse mit dem benachbarten Haus an der Nummer 8 ist jetzt eine geteilte Terrasse. Die Grenze ist deutlich markiert.

Denn in diesem Quartier herrscht Krieg – und Irène Zappa baut sich ihren Bunker. «Ich habe mich verbarrikadiert und das Haus belagert», sagt sie – und so sieht es auch aus. Sie hat sich ebenso mit den Behörden angelegt wie mit der Nachbarschaft. Gegner sieht sie überall: Personen, ihr Beistand, die Vögel auf dem Baum oder sogar Parkplätze.

Auffällig steht es mitten im Gibi-Quartier: Das Haus an der Gibraltarstrasse 6 sorgt seit Jahren für Gesprächsstoff.

Auffällig steht es mitten im Gibi-Quartier: Das Haus an der Gibraltarstrasse 6 sorgt seit Jahren für Gesprächsstoff.

(Bild: jwy)

Einst in der «Schweizer Illustrierten»

Ein Schild neben dem Haus zeugt von Zeiten, als es hier noch friedlicher zu- und herging: «Cantina Gibi», nannte Irène Zappa ihr Haus. Gemeinsam mit Anwohnern organisierte sie bis vor einigen Jahren noch das «Gibi-Fäscht». Sie selber hat in ihrem Haus indisch gekocht und es gab Musik, später auch an den Bruch-Weihnachten. Das habe «gfägt», sagt sie, ebenso die monatlichen Vollmondessen. Das ist heute alles undenkbar. Irène Zappa fürchtet nur eines: Dass man sie wegsperrt und ihr das Haus wegnimmt.

Lange Zeit führte sie zudem ein Coiffeurgeschäft am Hirschengraben, später dann im Haus an der Gibraltarstrasse. Im Medienarchiv findet man einen Artikel der «Schweizer Illustrierten» von 1978, wie sie einem Mann mit Gitarre die Haare schneidet. Einmal im Monat akzeptierte sie Naturalien als Zahlungsmittel – etwa einen Song. Auch heute redet sie immer wieder von Geld, der Konsumgesellschaft und den Auswüchsen, mit denen sie nicht klarkommen kann oder will.

1978 war Irène Zappa mit ihrem Coiffeur in der «Schweizer Illustrierten».

1978 war Irène Zappa mit ihrem Coiffeur-Salon in der «Schweizer Illustrierten».

(Bild: zvg)

Für jedes Stockwerk einen Hut

An den Briefkästen herrscht ein Wirrwarr von Namen und Beschriftungen. Nun aber rein ins Trockene, Irène Zappa öffnet die Tür. Drinnen riecht es wie in einem Second-Hand-Kleiderladen und es wirkt wie eine Mischung aus Brockenhaus, Künstleratelier, Fasnachtsbazar und – man kann es nicht anders sagen – Müllhalde.

«Alles, was Sie hier drin sehen, habe ich gefunden», flüstert sie geheimnisvoll, als könnte es jemand hören. Auch das Treppenhaus ist vollgestellt und überall hängen Kleider. «Meine Vergangenheitsbewältigung», nennt sie das Treppenhaus und sie beginnt das «Alte Haus von Rocky Docky» zu singen …

«Ich trolle im Haus herum, bis ich irgendwo einschlafe.»

Bevor wir in den ersten Stock steigen, ist es Zeit für den ersten Hutwechsel. Für jedes Stockwerk eine andere Kopfbedeckung, eine andere Identität. Einen ganz edlen aus Paris habe sie hier, später muss auch ein abgeschnittener Ärmel genügen, den sie sich über den Kopf zieht.

«Gibi 6»: Fassaden-Malerei, Zahlen hinter den Fenstern und lauter Kram

«Gibi 6»: Fassaden-Malerei, Zahlen hinter den Fenstern und lauter Kram

(Bild: jwy)

Waisenhaus für alte Pullover

Irène Zappa ist eine dünne Frau mit stechendem Blick, beschwörend schaut sie einen an, wenn sie etwas sagt. Und bestätigt sich jeweils selber: «Äbe.» Sie wohnt nicht etwa in diesem Haus, das betont sie immer wieder, sie arbeitet hier. Sie habe sich selber auf den Etagen eingemietet, jedes Jahr auf einem Stockwerk mehr. Jetzt habe sie wieder fast das ganze Haus für sich. Bis auf die Dachwohnung, die sei immer noch vermietet.

Das Chaos bezeichnet sie als Zwischenlager. «Ich trolle im Haus herum, bis ich irgendwo einschlafe, je nachdem, wo ich gerade arbeite.» Auf jeder Etage gibt’s einen Schlafplatz, momentan schläft darauf eine ihrer zwei Katzen.

Ein kleiner Weg bahnt sich durch die überfüllten Räume: Schachteln, Kleider, Möbel, Holzstücke, und auf einmal erspäht man ein schönes altes Wandtelefon. Auch aus Abfallsäcken, von der Kartonabfuhr und aus Deponien sammelt sie ihre Dinge zusammen, selbst das habe man ihr verboten. Sie habe hier ein Waisenhaus für all die alten Pullover, die niemand mehr haben will. «Das alles wollen sie mir wegräumen.»

Hexenküche und Labor

An den Wänden gibt es alte Fotos, auf denen Irène Zappa kaum wiederzuerkennen ist, etwa beim Gibi-Fest. Es hat Briefe, Notizen, alte Flyer und immer wieder kritzelt sie Termine, Telefonnummern und Namen an die Wände oder auf den sogenannten Grabstein, eine Holztafel. Ein Protokoll des Elends, «weil mir das sonst niemand mehr glaubt», sagt sie, die mehrmals von Mietern beschissen worden sei. «Ich weiss nicht, wie viel Leid ich noch runterschlucken muss.»

Irène Zappa und ihre Hüte – auf dem Kopf trägt sie den «edlen aus Paris».

Irène Zappa und ihre Hüte – auf dem Kopf trägt sie den «edlen aus Paris».

(Bild: jwy)

Das Haus ist bis unters Dach vollgestopft mit ihrem Kram – am ärgsten ist es im Keller, wo ein einsames Radio Nachrichten verbreitet und wo es muffig riecht. Sie zeigt auf eine kleine Küche, die man aus genannten Gründen nicht betreten kann. «Das ist meine Hexenküche, mein Labor», sagt sie. Da mache sie Rezepte ausfindig. Wenn sie nicht schlafen könne, lege sie eine Nachtschicht ein.

Indianische Seele und indische Kaiserin

Sie erzählt von früheren Mietern, von Familienmitgliedern in der Dachwohnung und wie sie das Haus seit zwei Jahren «umbaut und arrangiert». Sie habe die Abwarts-und Verwaltungsaufgaben selber übernommen und mit Kunst angefangen. Auch Bibelstunden habe sie hier gegeben.

Doch ihre Leidenschaft sei das Malen: «Mein Traum ist eine Ausstellung im ganzen Haus», sagt sie, doch schon dreimal habe man ihr die ganze Ausstellung abgeräumt und in den Keller gebracht. Und man rätselt, ob sie mit Ausstellung all den Kram meint.

Sie spricht von einem Beizli, das sie einst in Kanada eröffnen wollte – doch der Kauf sei im letzten Moment gescheitert. «Seit diesem Tag werfe ich nichts mehr weg», sagt sie. Sie redet von ihrer indianischen Seele in der Brust und davon, dass sie eine indische Kaiserin wäre: «Wenn ich geheiratet worden wäre und wenn es das Kaisertum noch gäbe.»

Auch das Treppenhaus gehört zur «Ausstellung» – Irène Zappa nennt es ihre Vergangenheitsbewältigung.

Auch das Treppenhaus gehört zur «Ausstellung» – Irène Zappa nennt es ihre Vergangenheitsbewältigung.

(Bild: jwy)

Freimütig breitet sie ihr Leben aus, sie erzählt sehr Persönliches von ihren Töchtern, von ihrem Vater, von Trennungen und ehemaligen Partnern. Und immer wieder davon, dass ihr Beistand oder der Psychiater sie abholen kommen und, dass man ihre Galerie räumen wolle. «Die haben ihre Finger überall drin: in meinem Herz, in meiner Seele, in meinen Kindern, in meinen Gedanken.»

In St. Urban sei sie länger «in den Ferien» gewesen, um zu entspannen. «Nur weil ich hier auf vier Etagen nichts mache, sagen sie: Die Frau spinnt, sie ist krank. Aber es gibt andere, die machen auf 20 Etagen nichts.»

Und ob man «Der Besuch der alten Dame» gelesen habe? Die Geschichte sei genauso in diesem Haus passiert. Die Leute hätten angefangen zu spekulieren, als sie weg war.

Ihre letzte Chance

Die Nachbarschaft und die Stadt akzeptieren die wachsende Müllhalde um das Haus nicht mehr. Irène Zappa sagt dazu: «Muss ich das verstehen? Muss ich das für die Leute schön machen?» Und antwortet selber: «Äbe.»

Zuvor sei es 30 Jahre lang tiptop gelaufen, nun wolle man ihr Haus und Parkplätze wegnehmen, darum breitet sie sich rund ums Haus demonstrativ aus: auf dem Platz hinter dem Haus oder auf dem Trottoir vor dem Eingang. Die Stadt sei zu spitzfindig, findet sie. «Die fahren mir die Kübel einfach um, dabei bedeutet doch öffentlicher Grund, dass man hier machen kann, was man will», so ihre eigenwillige Interpretation. Projekte, Eingabe, Vorschriften: Sie habe doch nicht gewusst, was man dürfe und was nicht.

«Unabhängig, selbständig, so war ich immer.»

Irène Zappa redet von einem Neubeginn auf dem Land, von wiederholenden Kreisläufen und, dass sie die Ateliers wieder auftun werde und wieder Fuss fasse. Und man möge ihr doch gleich helfen, ihren neuen Lebensabschnitt in Angriff zu nehmen.

Nachher käme ein Spezialist und bringe den Computer vom oberen Stock nach unten, damit sie wieder «den Geschäften nachgehen» könne. «Seit fünf Jahren will ich mich wieder hier installieren, aber es gelingt mir nicht», klagt sie. Sie sei ja jetzt pensioniert, da wolle man, dass sie ruhig sei und die Fensterläden putze. «Ich habe jetzt noch eine Chance», sagt sie, bevor man sie ganz wegräume. «Unabhängig, selbständig, so wie ich immer war.»

Lesen Sie im nächsten Beitrag von einer polizeilichen Räumung des «Gibi 6» und was die Stadt und die Nachbarn sagen. Mehr Bilder gibt’s in der Galerie:

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