Herti Zug: Besuch im angegrauten Einkaufszentrum

Rollatoren, muffige Teppiche und eine Spur von Heimatgefühl

Claudio D'Onofrio ist seit über einem Jahr der Besitzer des Coiffeursalons Dieter.

(Bild: wia)

Heute kommt das Hertizentrum ziemlich altbacken daher. Das dürfte sich mit dem geplanten Umbau ändern. Wir waren dort, haben zugehört, welche Bedeutung dem Herti zukommt, und gemerkt, warum ein Umbau nicht nur für Firmen, sondern auch für Stammgäste unschön werden könnte.

Es ist kein Wunder, dass man dem Hertizentrum einen neuen Glanz verleihen will (zentralplus berichtete). Das Mikro-Einkaufszentrum ist in die Jahre gekommen, hat etwas leicht Muffiges, Angegrautes. Das dürfte auch damit zu tun haben, dass sich das Center etwas ausserhalb der Stadtmitte befindet und in unmittelbarer Umgebung zum Altersheim steht. Zeit für einen Augenschein an diesem Ort. Denn wer weiss, wie lange es noch das alte ist. Mit Sandi, Fischbis und Teppichhändler.

Wir steuern rein mit klarem Plan. Suchen den Coiffeursalon Dieter auf, denn wenn jemand Geschichten erzählen kann, ist es bestimmt der Dieter, der, so haben wir uns sagen lassen, bereits seit 30 Jahren da arbeitet. Wir treten ein und werden von einem Herrn empfangen. Dieter? Nein, nein, der Dieter sei vor über einem Jahr verstorben, erklärt er bedauernd. Doch auch er selbst arbeite schon fast 30 Jahre beim selben Coiffeurladen.

Das Hertizentrum soll ein Facelifting erhalten. Wann genau, steht noch in den Sternen.

Das Hertizentrum soll ein Facelifting erhalten. Wann genau, steht noch in den Sternen.

(Bild: wia)

Angestellte, die während Dekaden bleiben

Der Mann, der sich als Claudio D’Onofrio vorstellt, lotst uns zu einem Tisch, wir setzen uns, und er beginnt zu erzählen. «Dieter war ein guter Chef. Grosszügig, er verbreitete ein familiäres Ambiente», sagt der Baarer. Dass einige der Mitarbeiter bereits seit mehreren Jahrzehnten im Salon arbeiten sei Ausdruck dieses guten Arbeitsklimas.

«Wenn Frau Huber als 80-Jährige in den Coiffeursalon kommt und als 55-Jährige wieder rausläuft, dann ist das schön.»

Claudio D’Onofrio, Coiffeur

Tatsächlich gäbe es auch einige Kunden, die seit fast dreissig Jahren regelmässig wiederkämen. Überhaupt habe man nur nette Leute hier. Gibt’s denn einen Lieblingskunden oder eine Lieblingskundin? «Nicht wirklich. Aber klar bediene ich lieber eine knackige junge Frau als eine alte Schachtel.» Und dann verrät uns D’Onofrio noch, was sein Ziel ist als Coiffeur: «Wenn Frau Huber als 80-Jährige in den Coiffeursalon kommt und als 55-Jährige wieder rausläuft, dann ist das schön.» Und er fügt an: «Auch wenn wir keine Wunder vollbringen können.»

Über die Folgen, welche eine mögliche Renovation des Zentrums mit sich bringen würden, macht sich der Coiffeur keine Gedanken: «Ich weiss ja noch nicht mal, was morgen ist. Was lohnt es sich da, wenn ich mir den Kopf über eine Veränderung zerbreche, die möglicherweise in einigen Jahren eintritt?» Dennoch drückt durch, wie viel D’Onofrio dieser Ort bedeutet: «Wenn ich durch Baar laufe, etwa an der Chilbi, dann kenne ich kaum mehr jemanden. Hier kenne ich hingegen fast jeden. Das ist toll.»

Totale Reizüberflutung im Teppichladen

Unsere nächste Destination ist eine eigenartige. Ein Kleiderladen, der gleichzeitig auch als Teppichhandel dient. Bis auf den Verkäufer hat sich niemand hierher verirrt. Das ist nicht erstaunlich, denn die vollgestopfte Verkaufsfläche verursacht – zumindest bei uns – das Gegenteil von Kaufrausch. Der Laden laufe überhaupt nicht, sagt der Verkäufer denn auch ohne Umschweife. «Die Ladenmiete liegt bei 3’000 Franken, da lohnt sich das Geschäft gar nicht», sagt er.

Orient-Teppiche und Kleidungsstücke buhlen um die Aufmerksamkeit des Kunden.

Orient-Teppiche und Kleidungsstücke buhlen um die Aufmerksamkeit des Kunden.

(Bild: wia)

Deshalb ziehe man im Januar bereits wieder aus. Nach nicht einmal einem Jahr. Wir verabschieden uns und steuern geradewegs ins gegenüberliegende Lokal. Die Rollatoren, die davor herumstehen, deuten untrüglich darauf hin, was im «Auforum» verkauft wird. Tatsächlich. Hier automatische Betten, dort Rollstühle, an der hinteren Wand reihen sich diverse Inkontinenz-Artikel.

«Sobald man eine Gehhilfe nützt, entledigt man sich seiner eigenen Körperressourcen.»

Stefan Miroll, Mitarbeiter von Auforum

Der Verkäufer Stefan Miroll sitzt hinter einem grossen Pult, wir nehmen auf einem der davorstehenden Stühle Platz. Der Laden laufe gut, sagt er, und wir sind nicht erstaunt. Viele ältere Leute sieht man durch die Gänge des Hertizentrums schlurfen und rollen. Es ist unverkennbar, dass hier in der Nähe ein Altersheim steht. Was denn besonders gefragt sei? «Ganz klar Rollatoren. Die machen etwa einen Viertel unserer Verkäufe aus.»

Geschenke, die nicht jeder will

Besonders zu Weihnachten würden viele Rollatoren verschenkt, sagt Miroll schmunzelnd, und ergänzt: «Häufig kommt es vor, dass daraufhin die Beschenkten hierher kommen und den Rollator zurückbringen, weil sie finden, dass das gar nicht nötig sei.» Doch der Verkäufer verurteilt sie nicht. «Sobald man eine Gehhilfe nützt, entledigt man sich seiner eigenen Körperressourcen. Dabei sollte man doch eigentlich fördern, was man noch hat.»

«Wenn der Umbau kommt, müssen wir wohl weg.»

Stefan Miroll, Mitarbeiter von Auforum

Noch ist Miroll ziemlich entspannt, was den möglichen Ausbau des Hertizentrums anbelangt. «Es steht ja noch in den Sternen, ob der Umbau wirklich zustande kommt. Doch wenn, dann müssen wir wohl weg. Unsere Kunden brauchen direkten Autozugang zum Laden.» Und der Deutsche deutet auf die zwei Behindertenparkplätze gleich neben dem Geschäft, welche äusserst wichtig seien. «Sollte das Zentrum vergrössert werden, sind wir nicht mehr am Rande, sondern mitten im Gebäude, womit die Parkplätze wegfallen.»

Die Rollatoren vor der Türe verratens: Hier geht's vor allem um Senioren-Angelegeneheiten.

Die Rollatoren vor der Türe verratens: Hier geht’s vor allem um Senioren-Angelegeneheiten.

(Bild: wia)

Als wir den Laden verlassen, fällt unser Blick auf ein altes Ehepaar. Der Mann sitzt auf einer Bank, seine Frau zusammengesunken im Rollstuhl. Er tippt an seinem Handy herum und hält zwischendurch inne, um der Frau aus einem orangen Plastikbecher zu trinken zu geben.

Wer hat denn heute noch Zeit, um Hemden zu bügeln?

Wir schlendern vorbei an Migros und Coop und steuern in einen kleinen Reinigungssalon, wo wir vor einer leeren Theke und einer riesigen Regalwand stehenbleiben. Wie geheissen klingeln wir, worauf eine südeuropäisch anmutende Frau aus dem Hintergrund erscheint. Ihre beiden Hände sind in Verbände eingewickelt. Ja, das sei ihr Geschäft, bestätigt die Dame freundlich und stellt sich als Dania Tramontano vor. Bereits im neunten Jahr ist sie damit selbständig. Und das Geschäft läuft gut.

«Ich weiss schon gar nicht mehr, was Langeweile ist.»

Dania Tramontano, Besitzerin einer chemischen Reinigung

«Ich weiss schon gar nicht mehr, was Langeweile ist», sagt die dreifache Mutter. Hauptsächlich seien es Männer, die vorbeikommen, um ihre Hemden bügeln zu lassen. Tatsächlich hängen da Dutzende von säuberlich aufgereihten Hemden. «Dafür hat man ja heute keine Zeit mehr, wenn man voll berufstätig ist», sagt Tramontano verständnisvoll.

Dass ein Foto von Harold Kreis in der chemischen Reinigung hängt, kommt nicht von ungefähr.

Dass ein Foto von Harold Kreis in der chemischen Reinigung hängt, kommt nicht von ungefähr.

(Bild: wia)

Und ergänzt etwas stolz: «Im Gegensatz zu vielen Kleiderreinigungen mache ich alles von Hand. Das ist viel schonender.» Auf die Frage, was mit ihren Händen los sei, lächelt sie gequält. «Der heisse Dampf tut ihnen nicht gut und verursacht eine Art Verbrennung.» Ideal wäre es, über eine längere Zeit in die Ferien zu verreisen. «Doch das sind halt die Nachteile der Selbstständigkeit», sagt die Frau. Mit der einen verfügbaren Mitarbeiterin lassen sich nicht alle Schichten abdecken. Was passiert mit ihrem Geschäft, wenn tatsächlich umgebaut wird im Herti? «Es kommt darauf an, wie sich die Mietpreise dann entwickeln», sagt sie. «Wenn die zu stark ansteigen, wirds’s schwierig für mich.»

Harold Kreis ist Stammkunde

Übrigens. Was hat es mit dem signierten Foto von Harold Kreis auf sich, das neben Dutzenden Ferienfotos am Regal klebt? «Das ist ein guter Kunde von uns. Überhaupt habe ich viele EVZ-Spieler als Kunden.»

Unsere letzte Station ruft. Wir treten ins «Sandi» ein, der Pizzeria, in der die Zeit seit dreissig Jahren stillzustehen scheint. Wände und Decke sind holzgetäfert, es riecht nach amerikanischer Pizzabude. Es ist noch vor Feierabend, dennoch sitzt schon die eine oder andere Gestalt im Lokal. Verstreut sitzen einzelne ältere Männer, ausnahmslos alle trinken ein Bier und lesen Zeitung. Und dann gibt es da eine Art Stammtisch, an dem einige Männer und eine Frau im Rollstuhl sitzen. Wir setzen uns dazu, ernten kurz verwunderte Blicke, dann freundliches Nicken.

Man trinkt Weissen, Bier und auch mal Roten aus dem Bierglas. Einer der Herren, ein älterer, ist ein regelrechter Witzbold. Erzählt Geschichten, über deren Wahrheitsgehalt nur spekuliert werden kann. Seine blasse Frau scheint sich die Sprücheklopferei und das eher raue Gesprächsklima gewohnt zu sein und kann durchaus mithalten. Ganz ohne zu poltern.

«Ich bin in diesem Quartier aufgewachsen und kenne das Sandi, das früher mal Cindy hiess, seit der Eröffnung.»

Ein Stammkunde im Sandi

Ein etwas jüngerer Mann mit Dächlikappe nippt an seinem Bier. Und sagt dann: «Ich bin in diesem Quartier aufgewachsen und kenne das Sandi, das früher mal Cindy hiess, seit Beginn.» Was sich denn seit dieser Zeit verändert habe? «Nichts. Es ist immer noch gleich wie bei der Eröffnung.» Und obwohl er heute nicht mehr in der Gegend wohne, sei er noch immer mindestens einmal täglich hier. Der Grund? «Hier trifft man immer Kollegen. Der Ort hat eine Anziehungskraft.» Und sein Kollege nickt.

Zwei Stammgäste sitzen im Sandi und diskutieren über Gott und die Welt.

Zwei Stammgäste sitzen im Sandi und diskutieren über Gott und die Welt.

Die Frau im Rollstuhl ergänzt: «Ich wohne hier im Alterszentrum um die Ecke. Und jedes Mal, wenn ich hierher komme, werde ich freundlich begrüsst. Jemand hat immer ein Wort für mich. Das sind teils fast schon Kollegschaften geworden.» Was passiert, wenn das Hertizentrum und das Sandi nicht mehr in dieser Form existieren? Dann verlieren die eingefleischten Stammkunden wohl auch einen Teil ihrer Identität und Heimat. Doch vorläufig müssen sie sich nicht fürchten. Bis die letzten Entscheide um den Herti-Umbau gefällt werden, dürfte es noch Jahre dauern.

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