Serie «An der Grenze des Kantons Luzern», Teil 1

Übernachten im Wohnzelt: Die schwer erträgliche Stille im Hinterland

Andrea Weibel lebt seit 17 Jahren in einer Jurte.

(Bild: pze)

Im Wallfahrtsort Luthern Bad steht seit sieben Jahren eine Siedlung aus handgefertigten Jurten. Und das Angebot boomt: Rund 3’000 Personen übernachten jährlich in den Zelten. Die Gäste schätzen die Ruhe und Abgelegenheit – doch nicht alle halten die Stille des Tales aus.

Andrea Weibel putzt gerade die Doppeljurte, in der sie selber lebt – die turbulente Sommersaison ist vorbei. Bevor die Arbeiten des Winters begannen, gönnte sich die 45-Jährige eine Auszeit in Italien. Dort habe sie ihren «Hide-Out», sagt sie. Doch besucht man die Gründerin des Jurtendorfs in ihrem Zuhause, fragt man sich: Hide-Out wovon? Viel versteckter könnte Weibels Dienstleistung kaum sein: In Luthern Bad hat sie einen ganz speziellen Rückzugsort, einen Ort der Ruhe geschaffen.

Hier, eingebettet in ein naturbelassenes Tal, nur zu Fuss oder mit einem 4×4-Geländewagen erreichbar, findet man ein Dorf aus handgemachten Jurten, also grossen Wohnzelten. Ein kurzer Blick auf das Handy zeigt: Handynetz gibt es hier nicht. Der Wallfahrtsort am Fusse des Napfs ist der perfekte Ort für sogenanntes «Digital Detox» – also den Entzug von Computern und Smartphones. In der heutigen Zeit der ständigen Erreichbarkeit ein Trend.

Im Winter mit Öfen geheizt

Weibel kennt den Begriff nicht. Sie sagt aber: «Die Leute kommen her wegen der Stille.» Spazieren, Entspannen, fast möchte man sagen: Wellness-Ferien. Der Alltag hier ist kaum einmal gleich. Weibel und ihr Team betreuen die Gäste, reparieren Jurten, putzen, kochen, gärtnern – in ihrem kleinen Reich gibt es viel zu tun. Im Sommer sind die Gäste das Hauptgeschäft, gut 2’000 Besucher hat das Dorf während der Sommersaison – das macht im Schnitt rund 15 pro Tag. Im Winter sind es weniger.

Das Gelände des Jurtendorfs erstreckt sich über eine grosse Fläche.

Das Gelände des Jurtendorfs erstreckt sich über eine grosse Fläche.

(Bild: pze)

«Während der kälteren Monate haben wir viele Seminargruppen, die uns besuchen», erklärt Weibel. Bei den Gästen gehe die Nachfrage im Winter zwar zurück, aber Weibel macht klar: «Wir können geheizte Unterkünfte anbieten. In jeder Jurte steht ein Ofen.» Dennoch baut das Team einige der Zelte – vor allem die ganz grossen – während des Winters ab. «Es lohnt sich nicht», erklärt Weibel. «Die Jurten nehmen durch das nasskalte Wetter im Winter nur Schaden. Ausserdem müssen wir die Dächer räumen, sollte es einmal richtig schneien.» Das bedeute für das Team unnötigen Mehraufwand.

Ein Rückzugsort für Mitarbeiter

Insgesamt besteht das Team aus sechs Erwachsenen und zwei Kleinkindern. Die Familie zieht nun als Erste ins alte Bauernhaus, das auf dem Gelände steht. Langsam hat man dieses in den letzten Jahren renoviert – das meiste in Eigenregie. Nur das Dach hat man neu decken lassen. «Dafür mussten wir Spezialisten engagieren», sagt Weibel.

«Als wir in dieses Tal gekommen sind, spürte ich gleich: Hier bleiben wir.»

Andrea Weibel

Ein Huhn trippelt über den Platz vor dem Haus, es ist eines von vielen, die im Jurtendorf leben. «Dieser Bereich ist für die Teamer als Rückzugsort reserviert. Die Gäste wissen: Hier dürfen sie nicht hin», sagt Andrea Weibel.

Die Beherbergung der Gäste und der Unterhalt der Jurten sei viel Aufwand – auch weil die Bereiche Freizeit und Arbeit oft fliessend ineinander übergingen, so Weibel. «Wir leben dort, wo wir arbeiten. So stellt sich das Gefühl ein, man sei ständig nur am ‹bügle›», sagt die Bernerin. Im Team sei es ein konstantes Thema. Bewusst aus dem Jurtendorf wegzugehen sei eine gute Möglichkeit, die Freitage auch als solche wahrzunehmen.

Seit 17 Jahren in Jurte unterwegs

Die Frau mit den langen braunen Haaren kennt das Leben in der Jurte seit 17 Jahren. Um die Jahrtausendwende ist die damals 28-jährige Bernerin in ihr eigenes transportierbares Heim gezogen – von der Häuslichkeit in die Natur. «Zuerst sind wir in der ganzen Schweiz umhergezogen, haben ständig den Standort gewechselt», so Weibel. Das Jurtendorf gründete sie zusammen mit einer Freundin. Man suchte sich stets neue Orte, baute alle Jurten auf und blieb ein paar Monate. Während acht Jahren zog man so umher.

Andrea Weibel beim Einfeuern in ihrer Jurte.

Andrea Weibel beim Einfeuern in ihrer Jurte.

(Bild: pze)

Aus der Zeit habe sie viele bleibende Erinnerungen behalten. So habe sie einst ihre Jurte am Ufer der kleinen Emme aufgebaut. Um den Stellplatz zu erreichen, mussten sie den Fluss überqueren, also bauten sie eine eigene Hängebrücke. In der Nacht regnete es dann so stark, dass es die Brücke wegschwemmte.

Vor nun sieben Jahren suchte Weibel einen festen Standort für die inzwischen zahlreichen Jurten. Da bot sich Luthern Bad an. «Als wir in dieses Tal gekommen sind, spürte ich gleich: Hier bleiben wir.» Man habe sie mit offenen Armen empfangen, heute gehört das Zeltdorf als fester Bestandteil zur Ortschaft. Weibel und ihre Jurten sind angekommen.

Ein Sparsäuli gegen das schlechte Gewissen

Unkonventionell ist bis heute die Preispolitik Weibels. Sie sagt: «Das Geld soll nie ein Grund dafür sein, nicht ins Jurtendorf kommen zu können.» So gibt es keine klaren Preise, die Gäste können ihren Beitrag in einem Sparschwein hinterlegen. «Anonym, sodass man sich auch nicht schämen muss, wenn man weniger gibt», erklärt Weibel.

Damit die Gäste einen Anhaltspunkt haben, gibt es Richtpreise: Dieser ist pro Nacht auf dem bezogenen Doppelbett mit Decke auf 55 Franken, für eine Nacht auf dem Klappbett und mit eigenem Schlafsack auf 25 Franken festgelegt. Lohnt sich das? «Wir kommen mit unserem Einkommen gut zurecht, reich werden wir mit unserem Jurtendorf aber nicht», sagt Weibel. 

Jurten kann man kaufen

Die Zeit ohne Trubel im Winter sei gut, als Abwechslung, aber auch als Erholung. Ausserdem werde die Zeit aufgewendet, um neue Jurten zu bauen. Denn: Andrea Weibel verkauft die wetterfesten Zelte auch an interessierte Kunden.

Die Wohnjurte ist häuslich eingerichtet.

Die Wohnjurte Weibels ist häuslich eingerichtet.

(Bild: pze)

Zwischen 7’000 und 25’000 Franken kosten die handgemachten Stoffrunde – je nach Grösse. Umgeben sind die Jurten von einer wetterfesten Stoffschicht – diese müsse alle fünf bis acht Jahre ausgetauscht werden. Tut man dies konsequent, so seien die Wohnzelte sehr langlebig, sagt Weibel.

20 Stück wurden dieses Jahr bestellt. «Pro Jurte rechne ich mit einem Monat Arbeit für eine Einzelperson», sagt Weibel. Ein ambitioniertes Ziel, gibt auch Weibel zu. «Wir kommen an eine gewisse Kapazitätsgrenze. Mehr als das können wir nicht leisten.»

Ruhe für viele eine Herausforderung

Die Reaktionen ihrer Gäste seien für sie interessant. Vielen gefalle die Ruhe im Naturtal bei Luthern Bad. «Es kommt vor, dass Leute frühzeitig abreisen», sagt Weibel. Das könne daran liegen, dass man in der Abgeschiedenheit auf sich selber zurückgeworfen werde. «Hier muss man sich mit sich selber beschäftigen – es gibt Menschen, die davon überfordert sind», so die 45-Jährige. Tatsächlich sind die Minuten in Luthern Bad etwas länger, alles geht etwas langsamer. Vielleicht ist genau dies das Wellness-Programm, das viele heute nötig hätten.

Mehr Impressionen vom Jurtendorf gibt es in der Bildstrecke:

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Lutz Bürger
    Lutz Bürger, 27.12.2019, 18:43 Uhr

    » «Hier muss man sich mit sich selber beschäftigen – es gibt Menschen, die davon überfordert sind», so die 45-Jährige. »

    Ein Erklärungsmuster. allerdings: Nur eines.

    Ein anderes – aus eigenem Erleben vor langer Zeit, als noch recht junger Mann, für 14 Tage einquartiert in einem abgelegenen Alpenkloster, um in einer sehr schweren, weil vielschichtigen und zunächst scheinbar kaum lösbaren Lebenskrise wieder einen Weg zu finden: Manchmal genügen von den geplanten 14 bis 24 Tagen Auszeit schon 2-3 Tage Ruhe, um wieder man selbst zu sein, es fällt einem mitunter schon nach ganz kurzer Zeit wirklicher Ruhe wie Schuppen von den Augen und man weiß wieder, wie und wo es weitergeht und es eröffnen sich bereits in dieser kurzen Zeit derart viele und gute neue Perspektiven, daß es einen garnicht mehr hält und man sofort zur Tat schreiten muß! Ja: Muß!
    Ich denke, nicht alle, die vorzeitig abreisen, tun dies, weil sie die Stille nicht «aushalten», es kann gut das Gegenteil der Fall sein und so wird manch einer dabei sein, bei dem sich der «Knoten im Kopf» bereits schon nach kurzer Zeit löst – wer kann das aber vorher wissen?
    Man kann dann nur auf eine faire Preisverhandlung auf beiden Seiten hoffen …
    Im Zweifelsfalle sollten dem Gaste der Erkenntnisgewinn etwas wert sein, oder?
    Wenn das Zahnziehen nicht eine Stunde, sondern nur fünf Minuten dauert, ist man ja auch froh, oder? 😉

    Mit einem herzlichen Gruß an Anbieter solcher wichtigen Orte der Stille UND all ihre Gäste

    Lutz Bürger
    Dipl. Dirigent, Vater ohne Kind, Spielmann, Notwehrjournalist
    (der Name ist Programm)

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