Wer steckt hinter den «Abseits Luzern»-Führungen?

Nicht «randständig», aber bestimmt ein bisschen durchgeknallt

Siegrid und Pit beim Zöpfli in der Luzerner Altstadt.

(Bild: jav)

Die «Abseits»-Stadtführungen in Luzern sind in aller Munde. Wir haben zwei der ungewöhnlichen Guides getroffen und erfahren, wie viel harte Arbeit dahintersteckt und weshalb sie mit dem Wort «randständig» so gar nichts anfangen können.

Die neuen sozialen Stadtführungen in Luzern haben es schon auf alle Titelseiten geschafft. «Abseits» heissen die Touren, welche die Stadt abseits der schicken Türme und Brücken zeigen sollen und dafür Menschen und Organisationen ins Zentrum rücken, welche sich ausserhalb des Normalo-Alltags bewegen.

Die Führungen interessieren und polarisieren. Sie geniessen einen grossen Zulauf und das Crowdfunding lief besser als erwartet (zentralplus berichtete). Doch es gibt auch Kritik und die Frage nach Voyeurismus steht im Raum.

Zwei geborene Erzähler

Pit (57) und Siegrid (63) sind zwei der Guides der neuen Führungen. Wir treffen den (Über-)Lebenskünstler und das Stadtoriginal kurz vor einer Führung beim Zöpfli in der Altstadt.

Pit hat dieses lauschige Plätzchen an der Reuss als Lieblingsort in der Stadt Luzern angegeben. Weshalb, wird schon bei der herzlichen Begrüssung klar. Nach einer festen Umarmung von beiden, bisher Unbekannten, und einer ausgiebigen Beschnüffelung durch Siegrids Hündin Dana erzählt Pit bereits von einer wilden Liebesnacht, welche er an diesem Platz vor vielen Jahren mit einer wundervollen Frau verbracht habe.

Schnell beginnen die beiden, sich gegenseitig mit Anekdoten zu überbieten und es braucht eine Weile, bis wir uns auf die Bank gesetzt haben und die neuen Stadtführungen Thema werden.

zentralplus: Sie sind als Team für Abseits unterwegs. Wie ist das bisher angelaufen?

Pit: Wir sind uns menschlich schon sehr nahe gekommen. Körperlich jedoch nicht. (Er grinst schelmisch.)
Siegrid:
(Lacht und winkt ab.) Es funktioniert sehr gut. Wir ergänzen uns.
Pit:
Wir sind bereits ein eingespieltes Team. Die fixen Punkte und Informationen sind klar, aber wir improvisieren auch. Jede Führung ist anders – je nach Wetter, Tagesform und je nachdem, wie die Leute drauf sind, wo sie nachhaken.

«Wir haben im Kopf zu jedem Ort eine Schublade mit tonnenweise Informationen bereit, die wir nur aufziehen müssen.»
Pit

zentralplus: Wie sind Sie beide dazu gekommen, diese Führungen zu machen?

Siegrid: Bei mir war es im vergangenen Sommer, als Toni Häfliger von der SIP mich darauf angesprochen hat. Anschliessend traf ich Marco Müller, den Präsidenten des Vereins Abseits Luzern. Er hat mir seine Geschichte erzählt und ich ihm meine. Danach war klar: Das passt.
Pit: Bei mir war es ähnlich. Ich bin seit elf Jahren unter Beistandschaft. Dabei habe ich immer wieder neue Sachen ausprobiert. Ich bin mir wirklich für nichts zu schade. Meine Beiständin hat mir schliesslich letzten Herbst den Tipp für diese Führungen gegeben. Und als ich Marco getroffen habe, hat es sofort klick gemacht. Da ging es nicht mehr lange, und ich war in der Ausbildung.

zentralplus: Und was hat diese Ausbildung alles beinhaltet?

Siegrid: Wir haben alles über die verschiedenen sozialen Institutionen gelernt: über die Notschlafstelle, die Heroinabgabe, Selbsthilfegruppen und so weiter. Bis ins letzte Detail. Es ist der Wahnsinn.
Pit:
Wir müssen das natürlich für die Führungen komprimieren, aufs Wesentliche reduzieren. Aber wir sassen da stundenlang bei den einzelnen Institutionen und bekamen alles – von der Struktur bis hin zur Geschichte – genau erklärt. Ich wurde im Winter oft ausgelacht, wenn ich in der Wärme weggenickt bin. Wenn ich gewusst hätte, wie streng es ist, hätte ich nicht angefangen. (Er lacht.) Aber jetzt haben wir im Kopf zu jedem Ort eine Schublade mit tonnenweise Informationen bereit, die wir nur aufziehen müssen.

zentralplus: Wie haben denn Verwandte und Bekannte auf Ihren neuen Job reagiert?

Pit: Sehr skeptisch, besonders zu Beginn. Doch mittlerweile ist meine Familie freudig gespannt, da ich ihnen viel erzählt habe.
Siegrid:
Bei mir war es unterschiedlich. Meine Tochter, die in Amerika lebt, fand es sofort toll. Mein Sohn hingegen war zunächst nicht so begeistert – inwischen schaut er aber mit einem positiven Blick aufs Ganze. Er mochte es nie wirklich, dass ich mich am Bahnhof zu den Randständigen setze und ihm war es oft eher unangenehm, wenn ich ihm Menschen wie Philipp – er mit den Tüchern – vorgestellt habe. Aber das ist ein Teil von mir. Ich habe bis vor 14 Jahren in der Gassenküche gearbeitet und kenne da wirklich alle. Und es sind tolle Menschen.

zentralplus: Wie gehen Sie bei den Führungen mit solchen Vorurteilen um?

Pit: Die pulverisieren wir gleich. Das ist eines der Ziele: Vorurteile abzubauen. Wir wollen zeigen, dass wir alle auch Menschen sind und wo uns geholfen wird. 

«Wir haben alle grosse Rucksäcke zu tragen.»
Siegrid

zentralplus: In den Zeitungen wird von «Randständigen» gesprochen, welche die Führungen machen. Sind Sie «Randständige»?

Beide: Überhaupt nicht.
Siegrid:
Freunde haben mich das auch schon gefragt. Bei jedem von uns ist es ein anderer Bezug, den wir zu den sozialen Insitutionen oder den besuchten Orten haben: Es gibt ehemalige Obdachlose, Drogensüchtige und so weiter. Bei mir steht Stadtoriginal – das ist mir wichtig.
Pit:
Bei mir ist es die Armutsbetroffenheit. Aber die Aussage in der Presse «Randständige bieten Führungen an» hat mich sehr geärgert. Schau uns an: Wir sind nicht randständig. Wir sind anständig. (Er lacht.) Ich bin dabei, da ich die Führungen eine tolle Sache finde und wichtig, damit die Leute mehr über diese Institutionen und Angebote erfahren. Aber ich fühle mich auch überhaupt nicht «Abseits».

zentralplus: Wie viel Persönliches geben Sie eigentlich bei den Führungen Preis?

Siegrid: Wir erzählen unsere Geschichten. Das ist ein wichtiger Teil der Führung und das Persönliche wird sehr gerne gehört. Wir haben auch alle grosse Rucksäcke zu tragen.

«Ich sehe nur ehrliches, kein voyeuristisches Interesse.»
Pit

zentralplus: Was wollen Sie den Leuten bei der Führung vermitteln?

Pit: Was ich selbst bei den Vorbereitungen gelernt habe, dieses Wissen möchte ich weitergeben. Wir können aufzeigen: Wenn’s dir mal schlecht geht, dann gibt es jemanden, dann gibt es eine Anlaufstelle, wo dir geholfen wird.
Siegrid:
Ich will auch die Freude weitergeben, tolle Menschen kennenzulernen.

zentralplus: Wie sind die ersten Reaktionen bei den Führungen ausgefallen?

Pit: Die Reaktionen sind super. Besonders die Interaktion zwischen uns Guides wurde gelobt. Wie wir uns gegenseitig Fragen stellen, aufeinander reagieren und uns ergänzen, sei faszinierend. Das wurde auch bei mir und Noah herausgehoben (ebenfalls ein Guide und Führungspartner von Pit – Anm. d. Red.). Wir suchen nun auch Sponsoren für unsere Autogrammkarten – könntet ihr das bitte streuen? (Er lacht.)
Siegrid:
Bei mir gibt es noch einen Punkt: Ich muss lauter sprechen. Daran arbeite ich jetzt.

zentralplus: Wie erklären Sie sich den Erfolg und die grosse Aufmerksamkeit?

Siegrid: Ich glaube, die Leute sind vor allem «gwundrig», weil es Orte und Angebote sind, mit welchen der Normalbürger oft gar nicht in Berührung kommt.
Pit:
Zudem bieten wir nicht nur Fakten. Wir erzählen neben den Informationen auch von früher – aus der Eisengasse oder dem Vögeligärtli. Das alles mit persönlichem Bezug, spontan und nicht so bierernst.

Die Führungen

Bei «Abseits Luzern» stehen sieben verschiedene Touren zur Auswahl, bei denen jeweils zwei Guides ihre persönliche Lebensgeschichte erzählen und Einblick in soziale Institutionen gewähren. Die Stadtführungen dauern 2,5 Stunden und werden von Montag bis Samstag angeboten.

Um das soziale Projekt überhaupt lancieren zu können, haben die Initiatoren mittels Crowdfunding innert 45 Tagen über 16'000 Franken gesammelt.

zentralplus: Aber geht es bei einer Heroinabgabestelle oder einer Notschlafstelle nicht eher um Voyeurismus?

Pit: Gar nicht. Das Gefühl hatte ich bisher bei keiner einzigen Person. Ich sehe im Moment nur ehrliches, kein voyeuristisches Interesse. Damit sich das auch nicht ändert, besuchen wir die Notschlafstelle am Tag und das Drop-in dann, wenn es nicht in Betrieb ist. Zum spürbaren Interesse kann ich noch sagen, dass wir kürzlich nach der Führung noch fast eine Stunde weiter mit den Leuten gesprochen haben – das war toll.

zentralplus: Was haben Sie von den Führungen bisher für sich selbst mitnehmen können?

Pit: Ich war sehr erstaunt, dass ich mich einfach vor eine grosse Gruppe hinstellen und erzählen kann. Das hätte ich nicht gedacht.
Siegrid:
Ich glaube, ich lerne von jedem Menschen etwas, den ich kennenlerne. Und bei den Führungen sind es nicht wenige. (Sie lacht.)

Es ist schon fast Zeit für die Führung und wir machen uns auf den Weg. Schnell durch die Stadt zu kommen ist mit den beiden jedoch eine echte Herausforderung. Immer wieder halten sie an, scheinen die ganze Stadt zu kennen. «Bei mir sind es besonders die Frauen. Ich kenne so viele schöne Frauen in der Stadt, und wenn ich sie sehe, dann muss ich sie auch gebührlich begrüssen», sagt Pit und dreht sich schon wieder um, um einer Bekannten auf dem Fahrrad hinterherzuwinken. Siegrid steht hingegen noch an der letzten Ecke und unterhält sich mit einem anderen Hundehalter, während Hündin Dana an Hintern schnüffelt.

Irgendwie anders seien sie ja schon, geben die beiden zu, als wir die Buobenmatt durchqueren. Und nachdem Pit das Echo bei der Kantonalbank-Passage getestet hat, erklärt er: «Manchen Menschen wäre das jetzt peinlich. Das verstehe ich nicht.» Und nach einer Anekdote über Siegrids Hutmacher hält er lachend fest: «Auch ein bisschen durchgeknallt. Der würde gut zu uns passen.»

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1 Kommentar
  • Profilfoto von emmenbronx
    emmenbronx, 09.04.2017, 18:36 Uhr

    Vielen Dank für diesen redaktionellen Beitrag! – Pit haben wir leider noch nicht kennengelernt. – Aber Siegrid! – Solch herzensgute Menschen wie Sie sind eine grosse Gnade für ihre Mitmenschen. Für meine 89ig Jahre alte Mutter und für mich sind die Gespräche mit Ihr immer eine riesige Freude & eine grosse Bereicherung. Ohne Vorurteile hat Siegrid für alle Menschen wohlwollende & aufbauende Worte übrig. Vielen herzlichen Dank liebe Siegrid, für alles was Du für die „Randständigen“ tust und bis heute gänzlich uneigennützig getan hast. Dass z.B. den Federführenden, welche vor Jahren die letzten Bänkchen beim „Triumphbogen“ am Bahnhof entfernen liessen, (und vielen Anderen) Deine Empathie und Menschlichkeit abgeht, ist einfach nur ganz ganz traurig. In Luzern sollte im öffentlichen Raum tatsächlich auch noch etwas Platz für die „Kleinen, Mühseligen und Beladenen“ vorhanden sein. Wir freuen uns schon auf ein Wiedersehen. Anna & Bernhard Frei (Facebook: „Emmenbaum RIP“)

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