Wie die Aktivistin zum Gesicht der Kampagne wurde

«Fremde Richter»: Diese Luzernerin will die SVP bodigen

Die Luzernerin Andrea Huber engagiert sich im Kampf um die Menschenrechte.

(Bild: jal)

Andrea Huber trat bis vor kurzem als Sängerin auf, und nicht auf der politischen Bühne. Nun ist die 50-Jährige das Gesicht der Gegenkampagne zur SVP-Selbstbestimmungsinitiative. Die Luzernerin dirigiert den Abstimmungskampf besser als manch alter Hase. Und doch plagen sie schlaflose Nächte.

Im Vögeligärtli in Luzern ist am Samstag ein meterhohes Pferd zu Gast. Ein Trojanisches Pferd, laut der Allianz der Zivilgesellschaft ein Sinnbild der Selbstbestimmungsinitiative. Es ist nur eine von zahlreichen Aktionen, die derzeit für oder gegen die SVP-Initiative werben. Der Abstimmungskampf ist in vollem Gange (siehe Box).

Mittendrin: Andrea Huber. Die Luzernerin trat vorher kaum je auf dem politischen Schauplatz des Landes in Erscheinung. Doch nun laufen die Fäden der Gegenkampagne bei ihr zusammen. Auslöser war ein Interview vor fünf Jahren, in dem Toni Brunner eine Volksinitiative zur Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ankündigte. «Da wusste ich: Wir müssen sofort starten mit einer Informationskampagne. Man kann die komplexen Zusammenhänge und die Bedeutung der EMRK nicht in drei Monaten vor einer Abstimmung aufzeigen. Es braucht viel Arbeit.»

Ein politisches Amt oder das Mandat einer Organisation hatte sie nicht inne. «Ich war einfach als Bürgerin absolut besorgt», sagt Andrea Huber rückblickend. Inzwischen ist sie Geschäftsführerin der Allianz der Zivilgesellschaft, in der sich über 100 Organisationen engagieren, und Gesicht der Gegenkampagne. Wie kam das?

Die Herkunft, die USA, die Tochter

Noch bevor sie die Tür zu ihrem kleinen Büro in Kriens aufschliessen kann, beginnt sie über die SVP-Initiative zu sprechen. Es ist zurzeit das Thema, das ihren Alltag bestimmt. Doch Andrea Hubers Engagement für die Menschenrechte reicht weit zurück. Bereits in ihrer Jugend war sie in der Luzerner Sektion von Amnesty International tätig, während ihres Studiums der Politikwissenschaften in Bern reiste sie nach Kuba, um Menschenrechtsverletzungen unter Fidel Castro zu dokumentieren. Später arbeitete sie als Co-Leiterin von Amnesty International Schweiz, dann als Fachfrau für Menschenrechte und engagierte sich privat gegen die Todesstrafe in den USA.

«Stellen Sie sich vor, vier Füchse und drei Gänse stimmen darüber ab, was es zum Znacht gibt.»

Vor diesem Hintergrund muss man kaum fragen, wieso sich Andrea Huber nun derart ins Zeug legt. Tut man es trotzdem, verweist sie auf ihre Grossmutter, die in Nazi-Deutschland aufgewachsen ist und zusehen musste, wie die Rechte von Minderheiten missachtet wurden. Sie nennt den Einfluss der Bürgerrechtsbewegung in den USA, wo sie 1968 geboren wurde. Und Andrea Huber verweist auf ihre Tochter.

Als sie 2013 beschloss, den Kampf gegen die SVP aufzugleisen, war ihre Tochter erst zwei Jahre alt. «Ich dachte, ich bin jetzt Mami und arbeite Teilzeit. Aber es kam alles anders», sagt Andrea Huber. Für ihre Familie sei ihr Engagement eine grosse Entbehrung. Doch sie mache das eben auch für ihre Tochter und zukünftige Generationen. «Die Initiative gefährdet unsere Menschenrechte, für die Generationen von Menschen gekämpft und geblutet haben. Wenn ich nichts dagegen täte, würde ich mir das später vorwerfen.»

Misstrauen ins Volk?

Die SVP-Wortführer bekräftigen, dass die Selbstbestimmungsinitiative nicht zu einer Kündigung der EMRK führen werde. Die SVP-Initiative verlangt, dass das Schweizer Recht gegenüber dem Völkerrecht Vorrang hat. Widerspricht eine Volksinitiative einem internationalen Vertrag, muss letzterer neu verhandelt oder gekündigt werden. So will die SVP gewährleisten, dass das Parlament den Volkswillen verbindlich umsetzt und nicht – wie etwa bei der Ausschaffungsinitiative – vor internationalen Verpflichtungen zurückschreckt.

Das Volk soll das letzte Wort haben – das klingt doch plausibel? «Stellen Sie sich vor, vier Füchse und drei Gänse stimmen direktdemokratisch darüber ab, was es zum Znacht gibt», entgegnet Andrea Huber. «Dann verstehen Sie auf Anhieb, wieso es Grundregeln braucht.»

Trojanisches Pferd im Vögeligärtli

Die Allianz der Zivilgesellschaft (ehemals Schutzfaktor M) macht diesen Samstag um 14 Uhr mit einem Trojanischen Pferd Halt im Vögeligärtli in Luzern. Das Sujet bringt die Sache laut Geschäftsführerin Andrea Huber auf den Punkt, denn mit Annahme der Initiative werde ein Trojaner in die Bundesverfassung gesetzt, der es möglich mache, dass die Grundrechte in der Verfassung jederzeit von einer Mehrheit beschnitten werden könnten.

Es ist nicht der einzige Anlass im Zusammenhang mit der Selbstbestimmungsinitiative in Luzern. Diesen Donnerstagabend findet im Grand Casino ein Podium statt. Eingangs erklärt Justizministerin Simonetta Sommaruga (SP) den Standpunkt des Bundesrates. Danach diskutieren Damian Müller (FDP-Ständerat Luzern), Felix Howald (Direktor Industrie- und Handelskammer Zentralschweiz), Yvette Estermann (SVP-Nationalrätin Luzern) und Peter Föhn (SVP-Ständerat Schwyz).

Es ärgert die Luzernerin, wenn Leute behaupten, sie kämpfe gegen die bewährte Demokratie der Schweiz. «Das Gegenteil ist wahr: Ich bin sehr stolz auf unser Land und unser System, das übrigens bestens funktioniert.» Es sei vielmehr die SVP, die Bewährtes über Bord werfen wolle. Denn Huber ist felsenfest überzeugt, dass eine Demokratie nebst dem Volkswillen auch einen Grundrechtsschutz und eine Gewaltenteilung braucht. «Das Volk hat bereits das letzte Wort. Aber es sollte auch nicht allmächtig sein.»

Ihre Gegner könnten ihr das als Misstrauen gegenüber der Stimmbevölkerung auslegen. Befürchtet sie, dass die Schweizer die eigenen Grundrechte abschaffen? Huber verweist auf die Vergangenheit. Zum Beispiel auf die Geschichte der administrativen Versorgungen, als rund zehntausend Menschen bis 1981 ohne Gerichtsurteil weggesperrt wurden, weil sie etwa als «arbeitsscheu» oder «liederlich» galten oder minderjährig schwanger wurden. «Da ist lange niemand eingeschritten, um die Grundrechte einer Minderheit von Schweizern zu schützen. Erst dank der Europäischen Menschenrechtskonvention konnte diese schreckliche Praxis gestoppt werden.»

Dass die Grundrechte in der Bundesverfassung stehen, reiche nicht. «Die Bundesverfassung und damit die Grundrechte können jederzeit verändert werden. Das ist eine Sicherheitslücke in unserem politischen System – die EMRK deshalb wie eine Rechtsschutzversicherung.»

Ein Ausdruck des Zeitgeists

Die 50-Jährige arbeitet seit langem an der Schnittstelle von Menschenrechten, Kommunikation und Bildung. Eine solche politische Kampagne habe sie aber noch nie gestemmt. Dennoch tut sie es professioneller als manch alter Hase. Sie startete ihre Offensive noch bevor überhaupt klar war, dass die SVP-Initiative tatsächlich lanciert wird. «Der SVP immer ein wenig voraus», betitelte darum die «NZZ am Sonntag» ein Porträt der Luzernerin.

«Wir sind mit Humor unterwegs: In unserem Video hat Köppel wenigstens Muckis.»

Andrea Hubers Erfolg ist auch Ausdruck des Zeitgeists. Dank der Operation Libero bei der Durchsetzungsinitiative 2016, als Huber noch im Schatten des allgegenwärtigen pinken Mantels von Flavia Kleiner stand, schlug das erwachte Engagement der sogenannten Zivilgesellschaft hohe Wellen, die bis heute anhalten. Bewegung statt Parteipolitik, schlaues Marketing statt gefüllte Kassen, frische Kräfte statt angestaubtes Image, lautet das Rezept.

Auch Andrea Huber nutzt die Vorteile, die sie als politische Quereinsteigerin habe. «Weil ich nirgends dazugehörte, konnte ich die unterschiedliche Gegnerschaft an einen Tisch bringen.» Denn anders als eine Partei oder ein Verband verfolge sie nur eine Agenda, den Menschenrechtsschutz.

Aber es hat auch Nachteile, ausserhalb etablierter Strukturen zu arbeiten. Viel Freiwilligenarbeit war nötig, bis genügend Geld von Organisationen, Mitgliedern und Spendern zusammen war, um die Luzernerin als Geschäftsführerin anzustellen. «Ich war mehrmals nicht sicher, ob ich den Laden in zwei Monaten wieder schliessen muss. Schliesslich muss ich eine Familie ernähren», sagt Andrea Huber, die mit einem Musiker verheiratet ist und selber viele Jahre lang nebst der Tätigkeit als Fachfrau für Menschenrechte und Kommunikation als Sängerin unter dem Künstlernamen Andra Borlo aktiv war.

Nervosität macht sich breit

Doch bevor es auf die musikalische Bühne zurück geht, gehört ihre Stimme den Menschenrechten. Ihre Allianz wirbt mit einem satirischen Video, in dem Nationalrat Roger Köppel und Co. in einem trojanischen Pferd fiese Pläne schmieden. Während die SVP mit ungewohnt unaufgeregten Sujets wirbt. «Ja, das Plakat der SVP ist orange, aber es hängt bis in den letzten Winkel des Landes», sagt Huber genervt. Sie verweist auf ein Video der Organisation Operation Identité Suisse, in dem vermummte Typen Schweizern das Stimmcouvert klauen und die Demokratie beerdigt wird. «Die Online-Kampagne der Befürworter ist äusserst aggressiv. Wir sind hingegen mit Humor unterwegs, in unserem Video hat Köppel wenigstens Muckis», sagt sie und lacht.

Doch es ist ihr eigentlich nicht zu Spässen zumute. «Wir machen uns extrem Sorgen, ich habe schlaflose Nächte», sagt sie nur Sekunden später todernst. Obwohl die letzten Umfragen den Nein-Trend bestätigen, wiegt sich Andrea Huber keineswegs in Sicherheit. Ja, sie macht sich sogar schon Gedanken darüber, welche politischen Vorstösse zum Schutz der Menschenrechte nötig wären, wenn die Initiative angenommen würde. Gleichzeitig ist klar, dass sie sich nach dem Abstimmungssonntag eine Auszeit gönnt. «Bis am 25. November gilt: Switzerland first. Aber dann heisst es für mich erst mal: Family first.»

Und so wird Andrea Huber die letzten zwei Wochen nochmals an Podien teilnehmen, in der «Arena» diskutieren, mit dem Trojanischen Pferd umherreisen. «Denn jetzt kann niemand zuhause bleiben.»

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