Wie weiter nach dem Bundesgerichtsurteil?

«Tempo 50 wird es nicht mehr lange geben»

Daniel Brunner vor dem von ihm gegründeten Archiv Doku-Zug an der St. Oswaldsgasse 16 in Zug.

(Bild: Marc Benedetti)

Daniel Brunner kämpft seit neun Jahren für Tempo 30 auf der Grabenstrasse. Mittlerweile hat sein Kampf nationale Ausmasse angenommen: Das Bundesgericht hat ihm in wichtigen Punkten Recht gegeben. Andere Städte horchen auf. Aber wie geht es nun in Zug weiter? Brunners Befürchtung: Jetzt geht alles nochmal bis vor Bundesgericht.

Erst hat es gar keiner gemerkt. Und dann ging es durchs Dach. Das Bundesgerichtsurteil zur Beschwerde einer kleinen Zuger Gruppierung löst in der Schweiz einiges aus. Der Zürcher VCS will es nutzen, um mehr Tempo-30-Zonen in der Innenstadt zu erkämpfen. Auch in anderen Städten wird das Potenzial erkannt. Mit seinem langen Kampf um die Grabenstrasse hat der Zuger Daniel Brunner eigentlich nationale Politik betrieben – und nicht nur die Strasse vor der eigenen Haustür einen Schritt mehr in Richtung Lärmberuhigung gebracht.

Das Bundesgericht hat entschieden, dass zwingend Massnahmen ergriffen werden müssen, wenn der Alarmwert überschritten wird – und dass dabei auch Temporeduktionen geprüft werden müssen. Unabhängig davon, ob es sich bei der Strasse um eine Gemeinde- oder Kantonsstrasse handelt. Die Anwohner würden schon zu lange unter den überschrittenen Alarmwerten leiden – das sei gesundheitsschädlich, so das Bundesgericht. Das ist ein Paradigmenwechsel – bislang war auf Kantonsstrassen Tempo 30 kein Thema. Nun soll es mit dem Argument der Lärmbekämpfung möglich sein, auch auf Hauptverkehrsachsen Temporeduktionen einzuführen.

zentralplus: Hätten Sie gedacht, dass das Urteil so weite Kreise ziehen würde?

Daniel Brunner: Ich war eher erstaunt, dass es anfangs auf so wenig Resonanz gestossen ist. Das Urteil liegt seit dem 3. Februar vor – darüber geschrieben haben die grossen Schweizer Tageszeitungen vorerst nicht. Von der einen oder anderen Journalistin hiess es: Der Fall Grabenstrasse Zug sei fürs Bundesgericht kein Präzedenzfall, deshalb wolle man nicht darüber schreiben.

zentralplus: Es wurde dann doch darüber geschrieben, jetzt gibt es auch in anderen Städten Bewegungen, die sich Ihre Argumentation zunutze machen wollen. Haben sie Aussichten auf Erfolg?

Brunner: Mit unseren Argumenten kann das eigentlich jeder betroffene und engagierte Laie bei Vorliegen eines Projekts für eine «Papiersanierung» machen – und zwar jede Anwohnerin, nicht nur Liegenschafteneigentümer, und dies in einem Bruchteil der Zeit und mit einem Bruchteil der Auslagen, die wir benötigt haben. Es gibt bereits Menschen, die sich bei uns gemeldet haben, die ähnliche Beschwerden bei den Strassen vor ihrer Haustür einreichen wollen.

zentralplus: Allerdings handelt es sich beim Urteil laut Bundesgericht nicht um ein Präzedenzurteil – ist es trotzdem aussagekräftig für zukünftige Urteile?

Brunner: Es ist immerhin ein Bundesgerichtsurteil, und kantonale Verwaltungsgerichte werden sich daran orientieren müssen, wenn sie in Zukunft ihre Urteile beraten. Vor allem wichtig ist, dass unsere Argumente vor Bundesgericht Bestand hatten. Dabei hatten wir uns nach dem Verwaltungsgerichtsentscheid auch überlegt, aufzugeben. Da hatten wir verbal dermassen aufs Dach bekommen, sie gaben uns das Gefühl, wir seien trötzelnde Schulbuben. Nichtsdestotrotz hatten wir schon damals von einigen Tiefbauämtern in den Kantonen gehört, dass sie sehr gespannt verfolgten, wie das Bundesgericht 2010 zum ersten Mal und nun zum zweiten Mal entschieden hat. Das gibt allen eine Richtlinie, wie sie in Zukunft vorgehen müssen, auch wie sie gegenüber ihren politischen Vorstehern argumentieren können.

«Im schlimmsten Fall geht es nun das ganze Treppchen noch einmal hoch und runter, wenn etwa der ACS ebenfalls bis vor Bundesgericht geht.»

Daniel Brunner

zentralplus: Jetzt haben Sie einen Etappensieg errungen. Wie geht es weiter?

Brunner: Das kommt ganz drauf an, wie der Kanton Zug reagiert. Ich kann mir vorstellen, dass es vonseiten der Autoverbände Widerstand gegen eine Verkehrsberuhigung auf der Grabenstrasse gibt. Im schlimmsten Fall geht es nun das ganze Treppchen noch einmal hoch und runter, wenn etwa der ACS ebenfalls bis vor Bundesgericht geht und alles noch einmal beim Tiefbauamt landet. Der Entscheid im Februar war knapp, es kann sein, dass bei einer anderen Richterkonstellation das Urteil anders herausgekommen wäre.

zentralplus: Werden Sie weiter in diese Frage investieren?

Brunner: (lacht) Ja klar, wenn man A sagt, muss man auch B sagen.

zentralplus: Sie kämpfen seit 2007 für eine Temporeduktion auf dieser Strasse. Woher nehmen Sie diese Sturheit?

Brunner: Ich habe nicht gerne dummen Sand im Getriebe. Und ich lasse mich auch nicht gerne zum Narren halten. Ich wohne privat an einer Innerortstrasse mit überschrittenem Immissionswert und gleichzeitig Tempo 60 – eigentlich ein No-Go, aber immer noch Realität. Aber es geht ja nicht nur um mich. Aufgrund meines Vorwissens und meiner kleinen Liegenschaft an der Grabenstrasse konnte ich am richtigen Hebel ziehen. Denn die Immissions- und Alarmwerte auf vielen Strassen werden seit Jahren überschritten. Das ist allseits bekannt. Auch der Kanton Zug müsste diese Abschnitte in Bezug auf den Strassenlärm sanieren. Fast alles, was er bisher machte, sind aber sogenannte «Papiersanierungen», indem er auf Dutzenden von zu stark lärmbelasteten Strassen «erleichterte Bedingungen» bei der Lärmsanierung beantragt hat. Auf Deutsch: die Erlaubnis zur Überschreitung der maximalen Lärmwerte. Er hat sie in allen Fällen ausser eben der Grabenstrasse auch erhalten.

zentralplus: Und was ändert das Bundesgerichtsurteil nun an dieser Praxis der «erleichterten Bedingungen»?

Brunner: Das Zuger Tiefbauamt, inklusive seiner jeweils zugezogenen Gutachter Teamverkehr und Segesser, hat wie viele kantonale Tiefbauämter bisher nicht begreifen wollen, dass laut der 1990 revidierten Signalisationsverordnung eine Reduktion der signalisierten Höchstgeschwindigkeit nicht mehr eine «erhebliche» Reduktion der statistischen Lärmwerte erreichen muss. Eine Verbesserung für das Wohlbefinden der Anwohner könnte genügen, zum Beispiel durch Brechen der Beschleunigungsspitzen. Das Bundesgericht gibt uns recht: Auf Massnahmen an der Quelle wie etwa Verkehrsberuhigungen darf nur in sehr gut begründeten Ausnahmefällen und nicht quasi flächendeckend mittels Gewährung «erleichterter Bedingungen» verzichtet werden.

zentralplus: Mittlerweile hat der ehemalige Baudirektor Heinz Tännler in die Finanzdirektion gewechselt. Was erhoffen Sie sich vom neuen Baudirektor Urs Hürlimann?

Brunner: Ich glaube nicht, dass uns Heinz Tännler etwas nachgetragen hätte, er hat in seiner politischen Arbeit viel gewonnen und so verliert er halt auch mal. Aber es ist schon so, dass er sich von Anfang an gegen Tempo 30 auf der Zuger Stadtkerndurchfahrt gestellt hat. Er wollte auch nach dem neuen Urteil des Bundesgerichts nichts von Tempo 30 auf anderen Strassenstücken als der Grabenstrasse wissen. Der neue Baudirektor hat offener reagiert. Als die Begründung des Bundesgerichtsurteils da war, stellte er gegenüber der Neuen Zuger Zeitung in Aussicht, nun würde die Bedeutung des Urteils für andere Kantonsstrassen überprüft. Das stimmt mich hoffnungsvoll.

«Tempo 50 auf praktisch allen lärmbelasteten Strassen wie heute wird es innerorts nicht mehr lange geben.»

Daniel Brunner

zentralplus: Glauben Sie, das wird noch was mit der Temporeduktion auf der Grabenstrasse?

Brunner: Ich weiss es wirklich nicht, es ist noch vieles offen. Das Tiefbauamt hat auf jeden Fall immer noch seine Broschüre online gestellt, in der es heisst: «Strassenlärmsanierung auf Kurs» – womit die üblichen Papiersanierungen gemeint sind (lacht). Allerdings: Ursprünglich hätten alle Kantonsstrassen schon 2012 saniert sein sollen; jetzt heisst die Deadline schweizweit März 2018, ab dann wird der Kanton entschädigungspflichtig. Aber besser ist es natürlich, wenn der Kanton seinem Auftrag nachkommt und die Strasse tatsächlich saniert – und damit keine Immissions- und Alarmwert-Überschreitungen mehr vorkommen.

zentralplus: Wie geht es konkret weiter?

Brunner: Jetzt sind wir gespannt, wie das Tiefbauamt neue Messungen macht – das Bundesgericht hat uns ja Recht gegeben, dass die Messungsmethoden, mit denen der Regierungsrat argumentiert hatte, schlicht «nicht geeignet» waren. Zudem hat das Bundesgericht klare Richtlinien vorgegeben: Auch die Lärmspitzen, die als Einzelereignisse besonders stören, aber sich eventuell nicht gross auf die Dezibel-Mittelwerte auswirken, müssen möglichst durch Verkehrsberuhigung reduziert werden. Und falls der Kanton keinen Tempo-30-Versuch will, müsste er sehr gute Argumente dafür liefern, dass das nicht nötig sei.

zentralplus: Sie haben mit dem Gang vor Bundesgericht quasi nationale Politik betrieben – jetzt ist Tempo 30 auch auf Kantonsstrassen ein Thema. War das Absicht oder Nebenschauplatz?

Brunner: In erster Linie ging es uns um die Lärmsanierung der Grabenstrasse. Nicht darum, Politik zu betreiben. Dass es jetzt in anderen Städten ein Echo gibt, freut mich trotzdem. Tempo 50 oder sogar 60 auf praktisch allen lärmbelasteten Strassen wie heute wird es innerorts nicht mehr lange geben.

zentralplus: Das ist eine kühne Behauptung.

Brunner: Es ist aber der Trend. Die Aufregung rund um Tempo 30 in den Quartieren, noch vor zwanzig Jahren fast eine Links-Rechts-Glaubensfrage, hat sich ja auch weitgehend gelegt. Nun ist klargestellt, dass auf lärmbelasteten Hauptstrassen auch Verkehrsberuhigungen seriös zu prüfen sind. Aber ich gebe zu: Vielleicht reicht «unser» Bundesgerichtsurteil nicht allein, um schweizweit die Behörden zum Handeln zu bringen – und es müssen weitere Einsprachen gegen «Papiersanierungen» folgen. In Städten wie Zürich oder Basel denke ich aber schon, dass nun ein Schub mit neuen Tempo-30-Strecken folgen wird.

zentralplus: Wäre das Ganze nicht auch anders, zum Beispiel auf politischem Weg, anzupacken gewesen? Es muss doch frustrierend sein, einen so langen Prozess anzustrengen, so viele Ausgaben zu tragen, mit völlig ungewissem Ausgang.

Brunner: Sie meinen, das ist Trötzelei? Nun, das Bundesgericht hat uns Recht gegeben. Natürlich störten mich die Kosten. Aber das war eben der einzige Weg. Auf politischem Weg wäre das wohl noch für viele Jahre nicht möglich gewesen – es gab ja 2001 die Schweizer Volksabstimmung, an der ein generelles Tempo-30-Limit innerorts überdeutlich abgelehnt wurde. Deshalb habe ich mir schon auch Gedanken gemacht, ob wir quasi gegen diesen Volksentscheid vorgehen sollen. Es geht aber nicht darum, sondern schlicht um die richtige Anwendung von Bundesrecht. Die Lärmbelastung ist vielenorts untragbar, oft gerade an viel weniger attraktiven Wohnlagen als in der Zuger Altstadt. Das Umweltschutzgesetz beziehungsweise die Lärmschutzverordnung sind unser Recht und Hebel, und jetzt werden auch andere in anderen Städten und «Strassendörfern» diesen Hebel entdecken.

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