Macht Luzerner Sex-Knigge Sinn?

«In der islamischen Kultur wird eher sexuell belästigt»

Die Tunesierin Saïda Keller-Messahli ist Präsidentin des Forums für einen fortschrittlichen Islam. (Bild: Montage, bra)

Vor der Fasnacht will Regierungsrat Guido Graf mit einem Sex-Knigge die Flüchtlinge in den Luzerner Asylheimen aufklären. Saïda Keller-Messahli, Präsidentin des Forums für einen fortschrittlichen Islam, findet die Idee gut. Und sie erklärt, was das Ganze mit der islamischen Kultur, Sex und falschen Frauenbildern zu tun hat.  

Nach den Silvester-Attacken in Deutschland und Zürich will Regierungsrat Guido Graf «sein Möglichstes» tun: Er lanciert eine Aufklärungskampagne für Flüchtlinge – speziell vor der Luzerner Fasnacht. Mit Flyern und Aushängen soll sexuelle Belästigung thematisiert und Migranten über den korrekten Umgang mit Frauen und Mädchen aufgeklärt werden. «Nach den Vorfällen von Silvester herrscht eine gewisse Verunsicherung», sagte Gesundheits- und Sozialdirektor Guido Graf. (zentral+ berichtete). Der Artikel warf am Mittwoch hohe Wellen. Fast alle Schweizer Medien nahmen diese Aktion auf. 

Zur Erinnerung: In der Kölner Silvesternacht haben sich «arabische und nordafrikanische» Männer in Gruppen an Frauen herangemacht. Die Frauen wurden bedrängt, an den Brüsten angefasst, an den Haaren gezogen, im Intimbereich begrapscht, beklaut und in einem Fall sogar vergewaltigt. Das schockiert. Und schnell wird die Brücke zur islamischen Kultur geschlagen. 

«Sie glauben, dass die europäische Frau sowieso Sex mit ihnen haben will.»

Wir haben mit Saïda Keller-Messahli, Präsidentin des Forums für einen fortschrittlichen Islam, gesprochen. Sie ist gebürtige Muslimin, 1957 in eine muslimische Grossfamilie in Tunesien geboren und Verfechterin eines Kopftuchverbots. «Die Aktion von Guido Graf ist grundsätzlich zu begrüssen», sagt sie. Es sei richtig, präventiv vorzugehen und selbstbewusst Grenzen aufzuzeigen.  

zentral+: Frau Keller-Messahli, man spricht nach den Vorfällen in Köln von einem Phänomen namens «taharrush gamea». Kennen Sie dieses Phänomen?

Keller-Messahli: Ja. «Taharrush gamea» bedeutet auf Arabisch «Gemeinschaftliche Belästigung» und bezieht sich auf sexuelle Belästigung. Es ist ein Phänomen, das seit Jahren in Ägypten und in anderen Ländern existiert. Dabei bilden Männer eine Gruppe, um Frauen sexuell zu belästigen. Die Gruppe verleiht ihnen das Gefühl von mehr Macht. Es gibt aber auch junge Menschen, die gegen die sexuelle Belästigung in ihrer Gesellschaft ankämpfen (wie z.B. in Ägypten).

zentral+: Wird in der islamischen Kultur eher sexuell belästigt?

Keller-Messahli: Ja, die sexuelle Belästigung von Frauen kommt leider in vielen islamisch geprägten Ländern vor. Allein in Ägypten geben 95 Prozent der Frauen an, sexueller Belästigung ausgesetzt zu sein. 

zentral+: Warum? 

Keller-Messahli: In diesen patriarchalischen Gesellschaften ist der «Machismo» besonders ausgeprägt. Es sind viele Faktoren, die dem Mann mehr Wert zuschreiben: die Religion, autoritäre politische Strukturen, die Erziehung, die Diskriminierung der Frau und die gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt als besonders «männliche» Eigenschaft.

All diese Faktoren führen beim Mann zu einem problematischen Selbstbild, weil sie ihm das Gefühl vermitteln und ihn darin bestärken, dass seine «Männlichkeit» von der Ausübung von Autorität, ja von physischer Gewalt, abhängt.

«Die Anwendung von Gewalt wird fast zum Normalfall.» 

zentral+: Warum belästigten diese Männer die Frauen?

Keller-Messahli: Es liegt an den falschen Bildern in ihren Köpfen: falsche Bilder von Europa, falsche Bilder von der europäischen Frau und falsche Bilder von ihrer Männlichkeit. Sie glauben, dass die individuelle Freiheit in Europa alles erlaubt, und sie glauben, dass die europäische Frau sowieso Sex mit ihnen haben will.

Diese Haltung wird leider oft dadurch bestärkt, dass der Sextourismus eine Realität an vielen Stränden dieser Länder ist. Wir senden einander gegenseitig falsche Signale: Hier ein romantisches Bild des «Orientalen», dort ein sexualisiertes Bild von der «Frau in Europa».

Hinzu kommt, dass Sexualität ausserhalb der Ehe in islamisch geprägten Ländern völlig tabuisiert ist, dass Frauen jungfräulich sein müssen bis zur Ehe und dass sie auch diesbezüglich kein Recht auf Selbstbestimmung haben. So bleibt in der Wahrnehmung dieser Männer nur die «europäische Frau», der sie unterstellen, nur auf Sex aus zu sein. Da das Verhältnis zwischen Mann und Frau leider meistens als Machtverhältnis verstanden wird, wird so auch die Anwendung von Gewalt fast zum Normalfall.

zentral+: Gilt überall dieses Frauenbild in der islamischen Kultur?

Keller-Messahli: Nein. Es kommt sehr auf das soziale Milieu, auf den Bildungsstand und auf die Erziehung des Mannes an. Einen gut erzogenen Mann erkennt man an seinem respektvollen Umgang mit allen anderen. Er hat auf natürliche Weise Hemmungen, anderen zu schaden. Hemmungen – so wie es Mani Matter sang – regulieren unser Sozialverhalten.

Es sind diese «Regulatoren», die vielen jungen Männern fehlen. Zu den Hemmungen wäre auch noch die Sprache hinzuzufügen, denn diese zwei Faktoren liegen jeder Zivilisiertheit zugrunde. Gewalt «spricht», wenn die Sprache versagt. Bei vielen jungen Männern fehlen beide Faktoren.

In den arabischen Ländern sind im Schnitt ein Drittel der Bevölkerung Analphabeten, insgesamt etwa 100 Millionen Menschen. Zwar strengt man sich bildungspolitisch sehr an, doch die demografische Entwicklung frisst den Erfolg weg. In diesem auch wirtschaftlich sehr schwierigen Kontext ist es besonders schwierig, den Stellenwert der Frau nachhaltig zu erhöhen. 

LFK: «Anstand und Respekt»

Bruno Spörri vom Luzerner Fastnachtskomitee sagt, er finde die Aktion von Guido Graf eine gute Sache. «Es wäre falsch, die Ereignisse auszublenden, und es macht Sinn, präventiv zu wirken.»

Dass an der Luzerner Fasnacht etwas passieren könnte, glaubt Spörri aufgrund der äusseren Umstände weniger. «Die Fasnacht ist sehr organisiert, eine Entstehung eines solchen Mobs wäre kaum möglich.» Das LFK werde diesbezüglich nicht aktiv. «Wie immer appelliert das LFK an den Anstand der Fasnächtler und den Respekt anderen Fasnächtlern gegenüber», sagt Spörri. «Die Fasnacht ist grundsätzlich ein friedlicher Anlass. Das Gewaltpotenzial ist eigentlich erstaunlicherweise sehr gering.»

 
 
«Ich zähle die Grapschereien längst nicht mehr»

Die Reaktionen auf den Artikel von zentral+ folgten prompt. Wir haben Politikerinnen und Politiker gefragt: Ist der Sex-Knigge von Regierungsrat Guido Graf eine gute Idee? 

Die Grüne Kantonsrätin und Fraktionschefin Monique Frey meint, eine Anti-Grapsch-Kampagne sei leider nötig für recht viele Männer, nicht nur für Asylbewerber. «Wir Frauen kennen sexuelle Belästigungen nicht erst seit diesem Silvester. Bisher wurden wir allerdings oft nicht ernst genommen und man forderte uns auf, nicht so zimperlich zu sein. Ich zähle all die anzüglichen Witze, Blicke, Grapschereien, die ich in meinem Leben erlebt habe, längst nicht mehr. Und dann kommen noch alle diese Kalender mit nackten Frauen dazu, die überall hängen.»

Die Asylbewerber würden ja bereits über Verhaltensregeln informiert und geschult. «Diese Schulung kann sicher ausgebaut werden. Wir plädieren dafür, dass Asylbewerber betreut und nicht nur überwacht werden.» Ein Betreuer koste pro Stunde zwar mehr als ein privater Sicherheitsdienst. «Eine gute Betreuung verhindert aber Folgekosten. Die beste Prävention ist sowieso eine möglichst schnelle Integration in unsere Gesellschaft, Arbeitswelt und Schule.»

SP-Fraktionschefin Ylfete Fanaj erwartet, dass Asylsuchende und Flüchtlinge über das hiesige Leben und die Regeln des Zusammenlebens genügend informiert werden. «Darunter gehen für mich auch die Werte unserer Gesellschaft auf der Basis unserer Rechtsordnung. Ich habe nichts dagegen, dass nun im Speziellen der Respekt gegenüber Frauen betont werden soll. Mich stört jedoch, dass man nun die Fasnacht zum Anlass nimmt, um Asylsuchende zu diesem Thema zu informieren.» An der Fasnacht tummeln sich vor allem maskierte Schweizerinnen und Schweizer. «Es ist dabei nichts Neues, dass Alkohol konsumiert und auch gegrapscht wird. Ich würde vielmehr erwarten, dass sich Guido Graf gegen sexuelle Belästigung von Frauen stark macht, die täglich stattfindet. Wie wäre es mit einer Aufklärungskampagne, die sich an alle Männer richtet?»

Die CVP unterstützt die Aufklärungskampagne ihres Regierungsrates. Parteikollegin und Kantonsrätin Marlis Roos Willi findet, man müsse alles unternehmen, damit Flüchtlinge unverzüglich mit den schweizerischen Gepflogenheiten vertraut gemacht werden. «Dazu gehört der stets korrekte Umgang mit Frauen. Für die CVP darf sich diese Aufklärung allerdings nicht auf die Fasnacht beschränken. Es ist der Partei ein Anliegen, dass Flüchtlinge jederzeit Rücksicht auf unsere Kultur nehmen und sich entsprechend verhalten.»

Auch SVP-Fraktionschef Guido Müller findet es gut, dass Graf so kurzfristig vor der Fasnacht aktiv wird: «Wir begrüssen alle Massnahmen, die dazu beitragen, solche Übergriffe zu vermeiden.» Die Aufklärung bezüglich unserer Sitten und Gebräuche müsse jedoch bereits bei der Erfassung nach der Einreise erfolgen. Dazu macht Müller noch weitere Vorschläge: «Asylsuchende sollten pflichtmässig eine Bestätigung unterschreiben, dass sie sich an die Sitten und Gebräuche der Schweiz halten. 

Die Vorkommnisse von Silvester machen sehr betroffen, sagt FDP-Kantonsrätin Helen Schurtenberger. «Es ist sehr wichtig, dass die Asylsuchenden in den Asylzentren über den Status der Frau in der Schweiz klar aufgeklärt werden. Die Frauen in der Schweiz sind alle gleichberechtigt.» 

Flyer verteilen und Plakate aufhängen in den Asylzentren erachtet die FDP als richtig. «Jeder männliche Asylsuchende soll sofort bei der Einreise über die Rechte und den Stand der Frauen hier in der Schweiz aufgeklärt werden. Es kann aber nicht sein, dass wir teure Kurse organisieren. Die Asylsuchenden müssen respektieren, dass bei uns die Frauen gleiche Rechte haben wie Männer», sagt Schurtenberger. Und die Grünliberale Kantonsrätin Michèle Graber meint: «Ich erachte es als Aufgabe, dass Asylbewerber immer darüber informiert werden, wie man bei uns mit Frauen umgeht.»

 
Interview mit Kurt Graf, Chef Kommunikation Luzerner Polizei

zentral+: Haben die Ereignisse aus Köln und anderen Städten Einfluss auf das Verhalten der Luzerner Polizei an der Fasnacht?

Graf: Die Luzerner Polizei ist, wie in den Vorjahren auch, während der Fasnacht mit zivilen und uniformierten Einsatzkräften stark präsent. Die Ereignisse aus anderen Städten haben keinen direkten Einfluss auf das Verhalten der Polizei, werden jedoch bei der Lagebeurteilung und der Einsatzplanung miteinbezogen.  

zentral+: Werden eventuell mehr Polizisten eingesetzt und wie gross ist das Aufgebot an der Fasnacht überhaupt?

Graf: Wie bei allen Anlässen mit grossem Publikumsaufmarsch ist die Luzerner Polizei generell mit erhöhter Präsenz im Einsatz, so auch an der Fasnacht. Die Anzahl von Einsatzkräften wird aus polizeitaktischen Gründen generell nicht kommuniziert.

zentral+: Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass in Luzern Ähnliches passieren könnte?

Graf: Zurzeit gibt es keine Anhaltspunkte, dass sich Ähnliches ereignen könnte. Durch die Vorfälle ist die Polizei sensibilisiert.

zentral+: Wie erkennt die Polizei mögliche Übergriffe?

Graf: Wie vorangehend bereits erwähnt, ist die Luzerner Polizei mit erhöhter Aufmerksamkeit präsent. Bis jetzt musste prioritär wegen Streitereien oder Taschendiebstählen eingeschritten werden. Wir werden aber auch ein spezielles Augenmerk auf mögliche Übergriffe richten.   

zentral+: Angenommen, es kommt zu einer Grapscherei: Wie schreitet die Polizei ein?

Graf: Vorfälle von Einzelpersonen im Gedränge dürften schwer zu erkennen sein. Da sind wir auf Hinweise von Betroffenen oder Beobachtern angewiesen. Was in Deutschland passiert war, hatte ganz offensichtlich System. Sollten Hinweise auf mögliche Übergriffe erkennbar sein, wird die Polizei intervenieren.

zentral+: Was geschieht mit möglichen Tätern? Werden einfach Personalien aufgenommen und Anzeige erstattet oder kommt so jemand in Untersuchungshaft?

Graf: Was während oder nach einer Kontrolle eines Verdächtigen passiert, kommt auf den Tatbestand an. Wir halten uns an die strafprozessualen Vorgaben.

zentral+: Spielt es eine Rolle, ob jemand Migrationshintergrund hat oder nicht?

Graf: Nein.  

zentral+: Wie können sich Frauen schützen?

Graf: Vorsicht ist generell angebracht. Sicherer sind Frauen, wenn sie nicht alleine unterwegs sind und wenn sie sich Gedanken machen, wie sie ihre individuelle Sicherheit erhöhen können. Bei Vorfällen oder sich anbahnenden brenzligen Situationen sollte sofort die Polizei benachrichtigt werden.

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