Ein Grossprojekt mit geringem Nutzen?

Die Tangente, die keiner so richtig will

Rund 11'000 Autos rollen täglich durch Baars Ägeristrasse. Künftig sollen es noch 6000 sein. (Bild: Fabian Duss)

Die geplante Tangente Zug/Baar beschert Baar nur eine geringfügige Verkehrsentlastung. Was der zweitgrössten Stadt im Kanton ein aufgewertetes Zentrum hätte bringen sollen, verkommt zunehmend zu einer Umverteilung des Verkehrs. Nun wird sogar die Umfahrungsstrasse selbst wieder entlastet.

Um 15 Uhr herrscht auf Baars Strassen Ruhe vor dem Sturm. Für einige Schulkinder ist der Unterricht bereits zu Ende. Sie tollen auf dem Trottoir ihrem Zuhause entgegen. Rechtzeitig vor dem grossen Verkehr, denn je näher der Feierabend rückt, desto mehr Automobilisten würgen sich durch Baar. Jeden Morgen, jeden Abend dasselbe Bild: Stockender Kolonnenverkehr, Stau und Schleichverkehr in den Nebenstrassen.

Eine Umfahrungsstrasse, eine direkte Verbindung zwischen den Berggemeinden und der Autobahn soll das ändern, fanden Kantons- und Regierungsrat. Sie legten dem Zuger Stimmvolk 2009 ein 201 Millionen Franken teures Projekt vor, die Tangente Zug/Baar (TZB). Ausgerechnet in Baar kam das Vorhaben gar nicht gut an.

Gegner bezweifelten die Wirksamkeit der TZB, wehrten sich gegen die Zerstörung ihres Naherholungsgebiets und monierten, die Tangente ändere wenig am Verkehrsaufkommen in Baar, ja erhöhe es mancherorts gar. Die Argumente kamen an, doch nur in Baar und Menzingen, wo sich eine knappe Mehrheit gegen die TZB aussprach. Das half wenig, denn 59 Prozent der Stimmberechtigten im Kanton fanden die Tangente eine tolle Sache.

Des einen Freud, des anderen Leid

Für vehemente TZB-Gegner wie den Baarer FDP-Kantonsrat Adrian Andermatt war das eine herbe Niederlage – die sich 2012 mit der Projektauflage als noch härter entpuppte. Inzwischen wurden nämlich die Verkehrsprognosen überarbeitet und förderten deutlich andere Zahlen zutage, als den Stimmbürgern zuvor unterbreitet worden waren. Täglich 4’000 zusätzliche Autos würden dereinst von der Tangente abzweigen und durch die Rigistrasse ins Baarer Zentrum fahren. Anwohner und Liegenschaftsbesitzer wie Andermatt waren empört. 430 Personen unterzeichneten letztlich seine Petition, die eine Entlastung der Rigistrasse verlangte.

Ganz anders war die Stimmung weiter oben in Baar, an der Ägeristrasse. Hier war im Rahmen flankierender Massnahmen eine massive Verkehrsentlastung vorgesehen. Die Ägeristrasse, bislang die Hauptverkehrsverbindung zwischen den Berggemeinden, Baar und dem Autobahnanschluss, sollte für den Durchgangsverkehr möglichst unattraktiv gemacht werden. Nach einem Studienauftrag entschied sich ein Beurteilungsgremium für ein Projekt, das die Ägeristrasse zur Bus- und Veloachse degradierte. Nach Jahren des Strassenlärms sollte Ruhe einkehren, die hervorragende Wohnlage aufgewertet werden.

Ausgeglichenere Verkehrsverteilung

Doch so kam es nicht. Die Motion der Rigisträssler wurde 2013 an der Gemeindeversammlung erheblich erklärt und ein externer Verkehrsplaner mit verkehrstechnischen Abklärungen beauftragt. Er sollte Wege aufzeigen, wie die Rigistrasse vom tangentenbedingten Mehrverkehr entlastet und die übrigen Einfallsachsen, darunter die Ägeristrasse, einbezogen werden könnten. «Unser Ansatz war vernünftig», sagt Motionär Adrian Andermatt heute. Es sei ihm nie darum gegangen, möglichst allen Verkehr von der Rigistrasse fernzuhalten, sondern ihn ausgeglichener zu verteilen.

Der Verkehrsplaner formulierte schliesslich fünf Massnahmen, dank denen die Rigistrasse im Vergleich zum Auflageprojekt um täglich 3’500 Autos entlastet und die Ägeristrasse um 2’200 Fahrzeuge mehr belastet würde. Insgesamt würde der Verkehr in der Ägeristrasse im Vergleich zu heute immer noch fast halbiert, während jener auf der Rigistrasse leicht anstiege.
Der Gemeinderat stellte sich hinter diesen Ansatz – und erntete an der Ägeristrasse Empörung: «Eine unglaubliche Kehrtwende» sei das, wetterte ein Leserbriefschreiber. Ein anderer ereiferte sich, Andermatts Seilschaften hätten sich ausbezahlt, das Wohl der Gemeinschaft sei hintergangen worden.

Kaum Widerstand an der Ägeristrasse

An der Gemeindeversammlung vom 11. Dezember 2014 blieb der zu erwartende Schlagabtausch jedoch aus. Ein einziges Gegenvotum, kein Gegenantrag und nur wenige Gegenstimmen begleiteten die Abschreibung der Motion. «Das überraschte mich», sagt Adrian Andermatt zurückblickend. Offensichtlich begrüssten es die Baarer, dass man nicht einfach eine Strasse opfere.

«Ich fand es gut, dass sich ein Quartier wehrte und Parteifarben dabei keine Rolle spielten.»

Anna Lustenberger, Präsidentin der Baarer Alternative-die Grünen

Den Sieg Andermatts einfach den «Seilschaften» des FDP-Kantonsrats zuzuschreiben, greift zu kurz. «Natürlich hatte Andermatt Eigeninteressen, aber das deckte sich mit den Interessen vieler anderer Einwohner», sagt der ehemalige Co-Präsident der unlängst aufgelösten Grünen Lunge, Eusebius Spescha. Er hatte sich jahrelang gegen die Tangente gewehrt und unterstützte die Motion ebenso wie die Alternative-die Grünen Baar. «Ich fand es gut, dass sich ein Quartier wehrte und Parteifarben keine Rolle spielten», sagt deren Präsidentin Anna Lustenberger.

Beat Schertenleib, Anwohner der Ägeristrasse und der Einzige, der sich an der Gemeindeversammlung gegen die Motion äusserte, bedauert den geringen Widerstand. Obschon er es absurd finde, dass die einstige Planung völlig über den Haufen geworfen werde, sei für ihn die Sache erledigt. Im Quartier scheint die Tangente kein Thema mehr zu sein, nicht zuletzt wohl deswegen, weil es immer noch stark vom Durchgangsverkehr entlastet werde. Auch die Telefonleitungen der Gemeindeverwaltung blieben stumm.

«Baar müsste mehr aus der Tangente machen»

Glücklich blicken viele Baarer der Tangente deshalb trotzdem nicht entgegen. Motionär Andermatt lehnt die Tangente nach wie vor ab. «Bloss 25 bis 30 Prozent der Automobilisten aus den Berggemeinden wollen auf die Autobahn, weshalb Baar nur gering vom Verkehr entlastet wird», moniert er. «Nun wird der Verkehr einfach ein bisschen umverteilt», sagt Anna Lustenberger. Bauchef Paul Langenegger, der vor der Volksabstimmung wenig begeistert von der Tangente war, hat sich mittlerweile damit arrangiert. Er respektiere den demokratischen Entscheid, sagt er. Nun gelte es, das bestmögliche aus der TZB herauszuholen.

«Baar müsste mehr aus der Tangente machen und den Ortskern systematisch aufwerten.»

Martin Pfister, Präsident der CVP Kanton Zug

Dass Baar dies auch tatsächlich tut, bezweifeln derweil manche. Martin Pfister, Präsident der CVP Kanton Zug, wünscht sich eine aktivere Rolle der Gemeinde: «Baar müsste mehr aus der Tangente machen und den Ortskern systematisch aufwerten», findet er. «Die Gemeinde hätte Ideen entwickeln müssen, welche Strassen und Quartiere sie durch die Tangente aktiv entlasten will.» Pfister hatte sich im Abstimmungskampf für die Tangente eingesetzt, weil er sich davon einen Nutzen für Baar versprach. Die TZB sei nun leider nicht viel mehr als eine zusätzliche Strasse.

Diese Kritik lässt der Bauchef nicht auf sich sitzen. Er beruft sich auf den Baarer Verkehrsrichtplan von 2007. Diesen alle paar Jahre einfach über den Haufen zu werfen, gehe doch nicht. Langenegger weist zudem auf die flankierenden Massnahmen zur TZB hin: «Heuer machen wir die Kreuzung Leihgasse/Rigistrasse für Fussgänger sicherer und an der nächsten oder übernächsten Gemeindeversammlung legen wir die Kreditvorlage für Mittelinselchen, Strassen- und Kreuzungsänderungen an der Rigistrasse vor.»

Zu viel Wachstum, zu viel Verkehr

Für die desolate Verkehrssituation macht Langenegger die jahrelange Bautätigkeit verantwortlich. In der Vergangenheit sei viel zu viel Land eingezont und verbaut worden, ohne dass man an den Mehrverkehr gedacht habe. 2018, bei der nächsten Ortsplanungsrevision, wolle der Gemeinderat deshalb praktisch kein neues Land einzonen. «Die Zitrone ist ausgequetscht», sagt Langenegger.

«Der Verkehr durch Baar lässt sich nur durch weniger Fahrzeuge vermindern», sagt indes Anna Lustenberger von der Alternative-die Grünen. Auf 1’000 Einwohner kamen 2014 im Kanton Zug 633 Autos, so viele wie in keinem anderen Kanton. Für Lustenberger ist letztlich dies das Grundproblem – und nicht die Art und Weise, wie der Verkehr um und durch Baar geleitet wird.

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