Luzerner Polizeikrise

«Ich rechne damit, dass noch weitere Fälle bekannt werden»

Alt Oberrichter und Untersuchungsbeauftragter: Jürg Sollberger (72) (Bild: blatter-ag.ch)

Jürg Sollberger untersucht die Vorfälle, die die Luzerner Polizei in eine tiefe Krise gestürzt haben. Bis dato sind 24 Fälle bekannt – und mit weiteren ist nach seiner Einschätzung zu rechnen. zentral+ sprach mit dem Berner alt Oberrichter über die ungewisse Zukunft des Polizeikommandanten Beat Hensler und Videoaufnahmen, die aufwühlen.

zentral+: Herr Sollberger, Sie untersuchen insgesamt 22 Fälle, bei der die Luzerner Polizei unrechtmässig gehandelt hat…

Sollberger: Das war noch vor drei Tagen so. Mittlerweile sind zwei weitere Fälle dazugekommen.

zentral+: Ach ja?

Sollberger: Ja. Wobei gesagt werden muss, dass sich einer dieser Fälle auf eine Beschimpfung des Polizeikommandanten Beat Hensler durch einen Polizeibeamten bezieht. Diesen Fall konnte ich innerhalb von fünf Minuten abschliessen. Einige dieser gut 20 Fälle verdienen das Prädikat «Fall» gar nicht. Deshalb spreche ich lieber von Vorgängen.

zentral+: Trotzdem gibt es auch schwerwiegende «Vorgänge». Von wie vielen ist die Rede?

Sollberger: Insgesamt sind es sieben, die sich aber teilweise auf die gleiche Person beziehen.

zentral+: Werden noch weiter Vorfälle dazukommen?

Sollberger: Ich rechne durchaus damit, dass noch der eine oder andere Fall bei mir «reintropfen» wird. Aber ich gehe nicht davon aus, dass es sich um wirklich relevante Vorgänge handeln wird, die wichtigsten liegen bereits auf meinem Tisch.

«Die Luzerner Polizei hat ein Problem mit dem Umgang mit Gewalt»

zentral+: Hat die Luzerner Polizei ein Gewaltproblem?

Jürg Sollberger: Nein. Sie hat ein Problem mit dem Umgang mit Gewalt, das ist etwas anderes.

zentral+: Wie meinen Sie das konkret?

Sollberger: Zum Beispiel bei der Stellung einer Person – eines Einbrechers oder Räubers. Das sind meistens überraschende und gefährliche Situationen, in denen sehr viel Adrenalin bei den Polizeibeamten mitspielt. Von der Anhaltung bis zum Moment der Festnahme darf oder muss manchmal polizeiliche Gewalt angewendet werden, so lange sie verhältnismässig ist. Sobald aber jemand kampfunfähig ist und keinen Widerstand leistet ist jede Form von Gewalt nicht mehr zulässig. Dieser Übergang braucht jedoch sehr viel Selbstkontrolle. Das meine ich damit.

zentral+: Hängt die Karriere des Luzerner Polizeikommandanten Beat Hensler von Ihren Untersuchungsergebnissen ab?

Sollberger: Also ich entscheide ja nicht, sondern ich versuche die verschiedenen Vorkommnisse zu analysieren und allfällige Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

zentral+: Dazu gehören sicherlich die sechs Empfehlungen (siehe Infobox), die Sie in Ihrem Zwischenbericht festhalten…

Sollberger: Genau. Diese Empfehlungen richten sich in erster Linie an die Justizvorsteherin Yvonne Schärli. Sie übernahm die Empfehlungen und gab sie als Auftrag an Beat Hensler weiter. Für ihn ist jetzt entscheidend, wie er diese Aufträge ausführt.

«Wenn Hensler seine Aufträge gut durchsetzt, dann bleibt er als Kommandant ein Thema»

zentral+: Beat Hensler steht momentan unter einer enormen Belastung, wie er selber sagt. Kann er sein Amt unter diesen Umständen überhaupt noch zuverlässig ausführen?

Sollberger: Das muss er jetzt beweisen. Die Aufträge sind klar. Ich bin aber der Meinung, dass ein Polizeikorps keine Fussballmannschaft ist, bei der man den Trainer beliebig wechseln kann. Die Polizei braucht feste Strukturen, Zusammenhänge und gemeinsame Ideen. Wenn man einfach den führenden Kopf auswechselt, ändert sich dadurch nichts. Es geht doch darum, dass man von oben herab den Tarif durchgibt. Wenn Hensler seine Aufträge gut durchsetzt, dann bleibt er als Kommandant ein Thema.

zentral+: Hensler hielt eine Pressekonferenz ab, bevor ihre Zwischenresultate vorlagen. Gleichzeitig stellte er Massnahmen in Aussicht. Was halten Sie von einem solchen Vorgehen, das ihre Empfehlungen fast schon obsolet machte?
 
Sollberger: Es gibt unterschiedliche Auffassungen ob es richtig oder falsch war, dass er dort aufgetreten ist. Er hat dort nicht zu meiner Untersuchung Bezug genommen, sondern er hat über Aufträge gesprochen, die er bereits früher bekommen hat. Aber es war klar, dass die Situation damit aussah, als nähmen sie Bezug auf die laufende Untersuchung.

zentral+: Wie glaubwürdig ist die Luzerner Polizei noch? Das Vertrauen der Bevölkerung hat sehr gelitten.

Sollberger: Den Eindruck, den ich durch meine Untersuchungen bekommen habe zeigt, dass die Luzerner Polizei gute Arbeit leistet. Nicht anders als an anderen Orten auch. Das ist die Regel. Aber es gibt Ausnahmen – eben diese Fälle, die ich untersuche. Mit solchen Ausnahmen muss entschieden umgegangen werden, dort müssen Zeichen gesetzt werden. Man muss die Schwächen erkennen und sofort reagieren. Das zeigt nach aussen, dass etwas gegen solche Fälle unternommen wird. So erlangt man das Vertrauen wieder zurück.

zentral+: Mit diesen Sofortmassnahmen sprechen Sie die Nulltoleranz an, die sie fordern. Andererseits erklärt Beat Hensler, dass man Suspendierungen zunächst genau prüfen muss. Widerspricht sich das nicht?

Sollberger: Das sind zwei verschiedene Sachen. Wenn ein Vorfall passiert, muss umgehend reagiert werden. In Form einer Sofortmassnahme, wie zum Beispiel eine Suspendierung. Das ist das eine.

zentral+: Und das andere?

Sollberger: Danach hat man Zeit, die ganze Situation zu beurteilen. Das kann ergeben, dass man die Massnahme wieder auflöst oder beibehält. Gerade wenn ein Strafverfahren eingeleitet wird, ist man ja gezwungen, das Ergebnis des Verfahrens abzuwarten. Dabei können Strafverfahren auch wieder zurückgezogen werden und beispielsweise in einem Vergleich enden. Auch wenn es strafrechtlich keine Massnahmen gibt, muss man den Fall dennoch intern beurteilen und Konsequenzen daraus ziehen. Wenn also zum Beispiel unangemessene Gewalt ausgeführt wurde, jedoch keine rechtliche Bestrafung erfolgt ist, sollte man das trotzdem thematisieren.

zentral+: Kann es sein, dass Polizeibeamte eine besonders niedrige Reizschwelle haben?

Sollberger: Der Polizeiberuf ist ein schwieriger, eher unterbezahlter Beruf mit hohen Anforderungen. Die Anzahl Bewerber hält sich dabei sehr in Grenzen. So kann es vorkommen, dass es vereinzelt Personen darunter gibt, die weniger gut für diesen Beruf geeignet sind. Wie aber schliesslich jemand in einer Ernstsituation reagiert, lässt sich meist erst erkennen, wenn eine solche eintritt. Simulieren kann man Extremsituationen schlecht.

zentral+: Sind die Ausbildungsverantwortlichen genug darauf sensibilisiert?

Sollberger: Absolut. Heute haben wir eine zentrale Schule und eine qualifizierte Ausbildung. Aber man kann den Charakter eines Menschen im Alter zwischen 20 und 30 nicht mehr grundlegend ändern. Mit der Ausbildung kann man viel trainieren und erreichen, aber nicht alles. Das ist ja nicht nur bei der Polizeiausbildung so.

zentral+: Vor Kurzem wurde ein Video publik, das einen Elitepolizisten zeigt, wie er mehrmals auf einen widerstandslosen, am Boden liegenden Mann eintritt. Weshalb ärgert es Sie, dass dieses Bildmaterial durch die «Rundschau» von SRF an die Öffentlichkeit gelangt ist?

«Es regt mich auf, dass das «Rundschau»-Video an die Öffentlichkeit gekommen ist»

Sollberger: Ja, das regt mich auf! Denn es ist Bestandteil einer laufenden Strafuntersuchung. Das ist ein übler Verstoss. Zunächst hatte ich befürchtet, dass das Video aus polizei-internen Kreisen ans Fernsehen geliefert wurde. Ich kann aber mittlerweile mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit sagen, dass das Video nicht von der Polizei weitergegeben wurde. Woher es konkret kommt, kann ich nicht sagen.

zentral+: Eine Quelle, die zentral+ bekannt ist, informierte uns, dass die Luzerner Polizei auch nicht immer einwandfrei mit den Polizeihunden umgeht. Liegt Ihnen auch ein solcher Fall vor?

Sollberger: Nein. Aber: beim Fall im Video wurde der zweite Täter durch einen Polizeihund gestellt. Dadurch konnten beide Täter verhaftet und die Beute sichergestellt werden. Der Einsatz des Hundes war also absolut legitim und richtig.

zentral+: Sind sie wirklich unabhängig, was diese Untersuchungen angeht?

Jürg Sollberger: Ich bin total unabhängig, ja. Wieso?

zentral+: Kritiker behaupten Sie seien voreingenommen, weil Ihr Sohn Chef der Kripo Bern ist. Tauschen Sie sich denn mit ihm aus?

Sollberger: Konkret über meine Untersuchungen sicher nicht. Aber allgemein über die Arbeit der Polizei schon. Zum Beispiel, wie bei der Kantonspolizei Bern mit Gewaltexzessen umgegangen wird. Ich tausche mich aber mit vielen Personen aus – auch Polizeioffizieren aus andern Korps. Es ist durchaus wichtig für mich zu wissen, wie andere mit ähnlichen Ereignissen, wie sie in Luzern passiert sind, umgehen.

zentral+: Wann ist frühestens mit Ihrem Abschlussbericht zu rechnen?

Sollberger: Der Zwischenbericht, den ich vorgestellt habe, beinhaltet bereits zweidrittel des Abschlussberichts. Diese sechs Empfehlungen, die ich formuliert habe, werden sich nicht mehr gross verändern. Vielleicht kommt noch eine weitere Empfehlung dazu. Es sind noch etwa zehn Fälle, die ich untersuchen muss. Ein Grossteil dieser Fälle werde ich im Laufe des Monats September abschliessen. Ein Fall ist sehr komplex, dafür brauche ich noch etwas Zeit. Aber ich kann sagen, dass ich mit grosser Wahrscheinlichkeit meinen Abschlussbericht noch dieses Jahr vorlegen kann.


Zur Person:
Jürg Sollberger ist 72 Jahre, verheiratet und hat drei Kinder. Bis 2003 war er in der Berner Justiz tätig, zuletzt als Oberrichter. Seit 2003 hat er das Competence Center Forensik und Wirtschaftskriminalität an der Hochschule Luzern mitaufgebaut. Seit 2010 ist er dort noch für die Aus- und Weiterbildung von Staatsanwälten zuständig.

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