99 Prozent aller Urteile fällt der Staatsanwalt

Und was macht eigentlich der Richter?

Lediglich 0,7 Prozent der Fälle landen vor Gericht. (Bild: Emanuel Ammon)

In Luzern kommt es bei weniger als einem Prozent der Fälle zum Gerichtsprozess. Die restlichen 99 Prozent werden per Strafbefehl geregelt. Diese Entwicklung wird nicht nur von Seiten der Rechtswissenschaft kritisch beobachtet. Fordert die Staatsanwaltschaft in Luzern mildere Strafen, um Kosten und Zeit zu sparen?

Die Staatsanwaltschaft hat mit Strafbefehlen die Möglichkeit, beschuldigte Personen ohne Gerichtsverfahren zu einer Strafe zu verurteilen. Diese darf jedoch maximal 180 Tagessätze, 720 Stunden gemeinnütziger Arbeit oder 6 Monate Gefängnis betragen. Schweizweit werden ungefähr 95 Prozent aller Fälle mit Strafbefehlen erledigt. In Luzern leitete die Staatsanwaltschaft im vergangenen Jahr lediglich bei 0,7 Prozent der Fälle ein Gerichtsverfahren ein. Spart die Staatsanwaltschaft Kosten, indem sie in Fällen das Strafmass senkt, um sie durch Strafbefehle regeln zu können?

Der Vorwurf

Der Luzerner Anwalt Reto Ineichen sagt dazu: «Als amtlicher Verteidiger konnte ich in einigen Fällen auch schon feststellen, dass die Staatsanwaltschaft unter Umständen bereit war, ein Strafverfahren mit Strafbefehl und damit mit einer Maximalstrafe von 6 Monaten Freiheitsstrafe abzuschliessen, obwohl bei objektiver Betrachtung durchaus auch wesentlich höhere Strafen (8 – 10 oder sogar 12 Monate) hätten diskutiert werden können.» Aus Sicht der Verteidigung habe er aber gegen eine solche «Abkürzung» bzw. Erleichterung natürlich nichts einzuwenden.

Die Verteidigung

Die Staatsanwaltschaft weist den Vorwurf klar zurück, dass mildere Strafen gefordert würden, um Arbeit zu sparen. Simon Kopp, der Kommunikationsverantwortliche der Luzerner Staatsanwaltschaft: «Wir haben die Praxis, dass wir mit unserem System der Fachaufsicht die Grenzfälle regelmässig besprechen. Zudem werden solche Fälle von der Fachaufsicht, welche die Einhaltung unserer Strafmassempfehlungen überwacht, kontrolliert und nötigenfalls auch zurückgewiesen.» Ausserdem sei es nicht der Fall, dass mit Strafbefehlen Arbeit vermieden werde, sagt Kopp. «Im Gegenteil. Die Bearbeitung von Strafbefehlen ist sehr aufwändig und intensiv», so Kopp.

Dem widersprechen jedoch die Aussagen von Felix Bommer, Strafrechtsprofessor an der Universität Luzern. Mit Strafbefehlen würden insgesamt Kosten und Zeit gespart, sagt Bommer und fügt hinzu: «Es ist im typischen Fall ein einfaches Verfahren und rasch erledigt.»

Und auch der amtliche Verteidiger Ineichen sieht klar die Einsparungsmöglichkeiten durch Strafbefehle. «Es ist durchaus im Sinne der Strafprozess-Ordnung, die Strafverfahren so kurz und effizient wie möglich zu führen und abzuschliessen, wozu eben der Strafbefehl das richtige Mittel ist.» Dass dieses Mittel in Luzern jedoch inflationär genutzt wird, fällt auf, und wurde öffentlich im kantonalen Vergleich beispielsweise mit Zürich aufgezeigt.

Simon Kopp weist alle Vorwürfe zurück und kritisiert die kantonalen Vergleiche: «Ein interkantonaler Vergleich ist eigentlich kaum möglich. Die Zahlen wurden teilweise völlig falsch zitiert. Richtig ist zwar, dass weniger als ein Prozent der Fälle an die Gerichte (Kriminalgericht oder Bezirksgerichte) weitergezogen werden. Dabei wird aber nicht berücksichtigt, dass es auch eingestellte Fälle gibt. Der interkantonale Vergleich hinkt, zumal unterschiedliche Daten der Kantone vermischt wurden.»

Doch nicht nur bei der Anzahl, sondern auch bei der Qualität der Strafbefehle tauchten in Luzern Unstimmigkeiten auf, wie zentral+ berichtete. Das Bundesgericht hielt fest, dass die Luzerner Strafbefehle «nicht den gesetzlichen vorgesehenen Inhalt» aufweisen und «den Anforderungen an eine Anklageschrift» nicht genügen, heisst es im Urteil vom 3. April 2014. Und im Mai folgte die Ansage des Bundesgerichts, das Formular sei «unvollständig und mangelhaft». Das bedeutet konkret, dass für die Beschuldigten aus dem Strafbefehl gar nicht ersichtlich war, wofür sie überhaupt verurteilt worden waren. Simon Kopp von der Luzerner Staatsanwaltschaft: «Wir haben unsere Strafbefehle umgehend angepasst.»

Kritik am System

Experten beobachten die Entwicklungen im Strafprozessrecht aufmerksam. Felix Bommer von der Universität Luzern weiss um die kritischen Stimmen. Die Situation in der Strafrechtspflege habe sich in den letzten Jahren massiv verändert. «Heute sind Verhandlungen – also das, was wir unseren Studenten beibringen – der Ausnahmefall. Das System wird durch die Staatsanwaltschaft dominiert.»

«Bei Strafbefehlen besteht keine Pflicht den Beschuldigten anzuhören.»
Felix Bommer, Strafrechtsprofessor Universität Luzern

«Die Entwicklung wird von der Wissenschaft insgesamt eher kritisch betrachtet», sagt er. Zum Beispiel auch deshalb, weil es bei Strafbefehlen keine Pflicht gibt, den Beschuldigten anzuhören. Ausserdem ist der Staatsanwalt bei Strafbefehlen Kläger und Richter in einem. Bei Massendelinquenz, zum Beispiel im Strassenverkehr, sei die Bearbeitung per Strafbefehl notwendig und in der Regel kein Problem. «Aber bei komplexeren Fällen ist der Verzicht auf einen Prozess schwierig.» Zu beachten sei aber auch der Punkt der Kostenersparnisse bei Justiz und Beschuldigten. «Es ist auch eine Frage der Ressourcen, die der Gesetzgeber zur Verfügung stellt», so Bommer.

Nur 4 Prozent Einsprachen

Regelung Strafbefehle seit 01.01.2011

Bei der Vereinheitlichung der Strafprozess-Ordnung 2011 wurde unter anderem schweizweit der Strafbefehl als Vereinfachung des Verfahrens verankert. Die Prozessordnung setzte damit schweizweit fest, dass die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl erlassen muss, wenn die beschuldigte Person im Vorverfahren den Sachverhalt eingestanden hat oder dieser anderweitig ausreichend geklärt ist. Ausserdem muss der Staats­anwalt eine der folgenden Strafen für ausreichend erachten:

- eine Geldstrafe von höchstens 180 Tagessätzen

- eine gemeinnützige Arbeit von höchstens 720 Stunden

- eine Freiheitsstrafe von höchstens sechs Monaten

Beim Strafbefehl ist keine Gerichtsverhandlung nötig und die Staatsanwaltschaft hat nur eine beschränkte Begründungspflicht. Wer den Strafbefehl akzeptiert, verzichtet auf einen Teil seiner Verfahrensrechte, muss aber auch weniger bezahlen. Wer trotzdem möchte, dass die Angelegenheit vor das Strafgericht kommt, kann innerhalb von zehn Tagen eine schriftlich Einsprache erheben. Begründen muss man diese nicht.

Auf der Homepage der Luzerner Staatsanwaltsschaft heisst es: «Der Strafbefehl ist eine ‹Offerte› an die beschuldigte Person, das Verfahren möglichst schnell und kostensparend zu beenden. Die ‹Offerte› muss aber nicht angenommen werden. Die beschuldigte Person kann innerhalb von 10 Tagen schriftlich Einsprache gegen den Strafbefehl erheben.»

Der Verteidiger Reto Ineichen empfiehlt seinen Klienten: «Grundsätzlich ist es immer sinnvoll, bei Fragen Einsprache zu erheben und Akteneinsicht zu verlangen, um sich ein umfassendes Bild machen zu können. Sollte sich im Nachhinein zeigen, dass der Strafbefehl korrekt war oder mindestens akzeptiert werden soll, kann man immer noch die Einsprache zurückziehen.»

Es werde jedoch bei lediglich vier Prozent aller Strafbefehle Einsprache erhoben, bestätigt Kopp. Es stellt sich daher auch die Frage, ob tatsächlich alle Beschuldigten den Inhalt des Strafbefehls und die Konsequenzen daraus verstehen. Die überarbeitete Strafbefehlsform sollte «per se eigentlich keine Unklarheiten mehr enthalten», sagt Ineichen. «Wobei natürlich zu berücksichtigen ist, dass die juristische Sprache für Laien grundsätzlich schwer verständlich ist.» Dies könne aber nie ganz vermieden werden.

 

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