Kinofilm über Zentralschweizer Revoluzzer

«Die Luzerner 68er-Bewegung war eine Macho-Veranstaltung»

Luzerner Krawall machte Schlagzeilen: «Blick»-Reporter Seppi Ritler mit der Titelseite vom Januar 1969.

(Bild: zvg)

Die Luzerner Beat Bieri und Jörg Huwyler drehten ihren ersten Kinofilm: «Nach dem Sturm» erzählt in einer reichen Detailfülle die Geschichte der Zentralschweizer 68er-Bewegung. Im politischen Reigen sind Bekannte wie Judith Stamm, Thomas Hürlimann oder Franz Kurzmeyer. Aber auch der «Staatsfeind Nummer eins».

Am Anfang ist ein Krawall in Luzern, der zustande kommt, weil ein Mann in Polizeigewahrsam stirbt. Von Polizisten zu Tode geprügelt? So wollen es Gerüchte, und es kommt zu heftigen Demonstrationen. Wir schreiben das Jahr 1969, in der Welt draussen haben Bewegte seit einem Jahr einiges hinterfragt: Kalter Krieg, verklemmte Sexualität, Weltausbeutung. «Krawallorgie in Luzern» schreit es jetzt auf der «Blick»-Titelseite.

In Luzern, dieser lieblichen, braven Touristenstadt, entwickelt sich unter Jugendlichen eine «Sauwut» gegen den damaligen Stadtpräsidenten Hans Rudolf Meyer. Meyer, kurz «HRM», ist bekannt als eine militärische Kapazität, die rigide durchgreift. Die sich gegen HRMs Polizeieinsätze wehrenden Demonstranten nennt er «degenerierte Menschen», «Halbstarke» oder «bedauernswerte Leute» und «Typen ohne Berufsausweise». 

Detailfülle wie noch nie zuvor

Beat Bieri (66) und Jörg Huwyler (57) schütteln heute noch ihre Köpfe. Was sie da für ihren ersten Kinofilm «Nach dem Sturm» ausgegraben haben, gab es in dieser Detailfülle und in Zusammenhang mit den 1969er-Aktionen in der gesamten Zentralschweiz noch nie zu sehen. Der Film startet am Donnerstag, 25. April, im Luzerner Bourbaki, und wird dann in der ganzen Zentralschweiz zu sehen sein. Eine Kurzversion ist auch fürs Fernsehen geplant. 

«Wir sind im TV-Archiv zufällig über einen Filmbericht zum Luzerner Krawall gestolpert.»

Beat Bieri, Filmschaffender

Die Idee zu ihrem ersten Kinofilm kam Bieri und Huwyler 2017, als sie gemeinsam eine TV-Dokumentation über das 50-jährige Kleintheater drehten. «Wir sind im TV-Archiv zufällig über einen Filmbericht zum Luzerner Krawall gestolpert, ganz eindrückliches Material», erzählt Jörg Huwyler. Ihr journalistisches Fieber hatte sie gepackt, denn sie sind auch erfahrene Newsleute: 1993 kamen beide ins Team von «10 vor 10». 

Entdeckten den Luzerner Krawall per Zufall: Jörg Huwyler (links) und Beat Bieri.

Entdeckten den Luzerner Krawall per Zufall: Jörg Huwyler (links) und Beat Bieri.

(Bild: hae)

Mittlerweile sind sie freischaffende Filmemacher. Der bei SRF pensionierte Beat Bieri ist bekannt für seine «DOK»-Filme, die oft mehr als eine halbe Million Zuschauer vor dem Bildschirm versammelten: etwa das Drama um Urner Bergbauern mit dem Titel «Der Wildheuer», die Littauer «Neue Heimat Lindenstrasse» oder «Ganz unten» über ein Heim im Jura, in dem Alkoholiker und psychisch Kranke leben.

Jörg Huwyler ist bekannt für seine Dokufilme über die Entwicklung der Luzerner Allmend und die Entlebucher Autobauer Enzmann. Momentan arbeitet er an einer TV-Doku über den Schweizer Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler.

«Die Bewegung ist, wie so vieles, mit Verspätung vom grossen Zürich aus in unsere Region herübergeschwappt.»

Jörg Huwyler, Filmschaffender

Doch wieso kommen die 1968er-Revolten in der Innerschweiz erst jetzt auf die Leinwand, nachdem die weltweit wichtige Bewegung im letzten Jahr schon überall medial abgefeiert wurde? Jörg Huwyler erklärt: «Ganz einfach: 1968 erreichte die Innerschweiz erst 1969. Die Bewegung ist, wie so vieles, mit Verspätung vom grossen Zürich aus in unsere Region herübergeschwappt.»

Beat Bieri ergänzt: «Der Luzerner Krawall vom Januar 1969 war noch weitgehend unpolitisch, eine Manifestation gegen die Polizei, gegen die überbordende Staatsgewalt. Erst danach wurden junge, linke Gruppen gegründet.» 

So präsentiert sich der Trailer von «Nach dem Sturm»:

 

Bei ihren langen Recherchen stellten die beiden Filmemacher immer mehr fest, wie unterschiedliche Aktionen an verschiedenen Orten ein stimmiges Gesamtbild der Zentralschweiz ergaben: «Wir zeigen auf, dass 1969 bei uns nicht ein 1968 light war. Entscheidend sind in unserer Region ein dominanter Katholizismus, eine rigide Sexualmoral, der Einfluss von Klosterschulen und katholischen Gymnasien in Sarnen, Einsiedeln oder Engelberg. Und auch der grosse Widerstand gegen das Frauenstimmrecht.» Solches war in unserer Region prägend, in ganz anderer Ausformung als sonst wo.

«Zerschmettert die Fassaden im Takt der Serenaden»

Der Film dokumentiert geradezu revolutionäre Aktionen wie die Unterwanderung der Viscosi-Belegschaft oder Demonstrationen am sommerlichen Klassik-Reigen IMF, heute Lucerne Festival, der mit dem Stelldichein der Reichen ein perfektes Feindbild darstellte. Es gab unter dem Slogan «Zerschmettert die Fassaden im Takt der Serenaden» Protest gegen den Kriegsgewinnler Emil Bührle, einen der Financiers der IMF, und gegen das Bildungsbürgertum.

«Wir wurden in Einsiedeln mit leerem Magen indoktriniert.»

Thomas Hürlimann, Zuger Autor

Aber Bieri und Huwyler erlebten auch bewegende Anekdoten. Etwa, wie sie auf die Begegnung mit dem schwerkranken Thomas Hürlimann warteten. Doch das Warten lohnte: Der Zuger Autor erholte sich, lud in sein Haus in Walchwil direkt am See. Dort gibt er an zentraler Stelle des Films ein erstaunlich altersmildes Plädoyer über die Klosterschule Einsiedeln, wo er in acht Jahren frühmorgendlich «mit leerem Magen indoktriniert wurde».

«Degenerierte Menschen» und «Halbstarke»: So nannte Stapi Meyer die Luzerner Revoluzzer. 

«Degenerierte Menschen» und «Halbstarke»: So nannte Stapi Meyer die Luzerner Revoluzzer. 

(Bild: zvg)

Mehr zu beissen hatten die Filmer, wichtige Frauen der Region zu öffnen und für ihr Projekt zu begeistern. «1968 war eine Macho-Veranstaltung», so Beat Bieri. Und das macht der Film deutlich: Frauen sind in ihren Auftritten in der Minderzahl.

Luzerner Bürgerliche Judith Stamm

Immerhin sind drei wichtige Frauen im Film präsent, allen voran die Luzerner Bürgerliche Judith Stamm, die als Nationalratspräsidentin später gar höchste Schweizerin wird. Sie sieht man damals in ihrer Position als Polizeikaderfrau forsch eine ganze Riege von Mannen mit Schnäuzen herumkommandieren – mit einem charmanten Lächeln.

Bieri und Huwyler war es wichtig, nicht ausschliesslich Linke zu porträtieren. So zählen zu den Hauptprotagonisten des Films auch zwei einstige Polizisten. Denn «Nach dem Sturm» sollte ein breites gültiges Dokument werden, nicht einfach bloss 68er-Nostalgie transportieren. «Ich erinnere mich schon noch, wie ich als Teenager im Luzerner Fritschi-Restaurant sass und alle diese älteren Bewegten bewunderte, die beim Pläneschmieden am Nebentisch sassen», erzählt Bieri. Jetzt konnte er sie treffen: ältere Männer heute, mit schütteren Haaren und Furchen im Gesicht. Aber immer noch mit viel Furor für die gute Sache.

Otti Frey, einer der Hauptprotagonisten des Films, gedieh in der Zentralschweiz zum Staatsfeind Nummer eins.

Otti Frey, einer der Hauptprotagonisten des Films, gedieh in der Zentralschweiz zum Staatsfeind Nummer eins.

(Bild: zvg)

So etwa Otti Frey, im Film «Staatsfeind Nummer eins» genannt, ein schweizweit bekannter Marxist und einer der wenigen Revolutionäre in Luzern, über viele Jahre von der Polizei überwacht und mit der dicksten Staatsschutzfiche versehen. Frey hat mittlerweile erkannt: «Sowohl der Kommunismus als auch der Kapitalismus haben versagt. Wir kommen nicht darum herum, eine neue Gesellschaftsform zu finden.» Dem pflichten auch die beiden Filmemacher zu.

Anekdoten als Zeitgemälde

«Unser Film basiert auf zahlreichen Anekdoten. Die Kunst besteht darin, die richtigen zu finden, um damit ein gültiges Zeitgemälde zu schaffen. Ob uns dies gelungen ist, können nur die Betrachter des Filmes sagen», glaubt Bieri. Es ist gelungen, und der Film atmet Authentizität, Menschlichkeit überdies. «Nach dem Sturm» ist keine wissenschaftliche Arbeit geworden, sondern vielmehr eine filmische Spurensuche in der Region, die die Filmemacher zu den ehemaligen Akteuren auch nach Venedig, Vietnam, Kuba und Heidelberg führte.  

«Hoffentlich wird der Rohstoffhändler-Mafia in Zug bald das Handwerk gelegt.»

Jean Ziegler

«Heute ist es selbstverständlich, dass alles gefilmt wird. Bei unserer Recherche, 50 Jahre zurück, mussten wir jedoch feststellen, dass es sehr schwierig ist, Filmmaterial aus jener Zeit zu finden», sagt Huwyler. Fündig wurden die Filmemacher vor allem im Archiv von SRF. Die langwierige Suche führte auch zu einigen filmischen und fotografischen Perlen in Privatbesitz.

Beat Bieri ist bekannt für seine DOK-Filme auf TV SRF, die jeweils mehr als eine halbe Million Menschen sahen.

Beat Bieri ist bekannt für seine DOK-Filme auf TV SRF, die jeweils mehr als eine halbe Million Menschen sahen.

(Bild: hae)

Und da ist auch eine Begegnung mit Jean Ziegler, der in einer Videogrussbotschaft an die Zuger Linken wieder zum Kämpfer wird: «Hoffentlich wird der Rohstoffhändler-Mafia in Zug bald das Handwerk gelegt.» Das bleibt bis heute Wunschdenken.

Jörg Huwyler arbeitet derzeit an einem Film über Nobelpreisträger Carl Spitteler.

Jörg Huwyler arbeitet derzeit an einem Film über Nobelpreisträger Carl Spitteler.

(Bild: hae)

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