Tanz-Art-Performance auf der Luzerner Heubühne

Wenn Statuen plötzlich zum Leben erwachen

Wie ein Zombie umgestaltete, zum Leben erwachte Statue.

(Bild: Rob Nienburg)

«Twins not Twins» ist eine Tanz-Art-Performance, die sich um das Gleichsein und doch nicht Gleichsein dreht. Auf dem Kulturhof Hinter Musegg ergründeten die Ausdruckstänzerin Beatrice im Obersteg und die Performance-Künstlerin Claudia Bucher am Freitag die Fruchtbarkeit: ohne Musik, nur mit Klängen, Tönen, Rhythmen.

Er liebt mich, er liebt mich nicht. So beginnt, wortlos und still, der Abend. Sonnenblumenblatt um Blatt wird ausgezupft, als Sinnbild ewiger Partnersuche. Die beiden Frauen, in bräutlichem Weiss, wechseln ihre Positionen: Einmal dominiert die eine, dann die andere, von liebend bis abweisend reicht ihr Gefühlsausdruck, sich zugewandt oder feindselig. Sie agieren, als beseelten sie sich gegenseitig. Überraschend regnet es Körner: Reis? Nein, eine Flut von Sonnenblumenkernen bedeckt den Boden.

Der Rhythmus fallender Kerne gibt den Takt des Geschehens vor, die sich aus sanfter Bewegung zu hektischer Betriebsamkeit entfalten. Bucher und im Obersteg reflektieren ihre eigenen Sehnsüchte in der anderen, weben ihre Gedanken ineinander, träumen dasselbe, sind eins, sind gleich und doch nicht gleich.

Die Tanz-Art-Performance «Twins not Twins», am Freitag am Sommerfestival des Kulturhofs Hinter Musegg zu sehen, beschäftigt sich mit dem Gleichsein. Ausdruckstänzerin Beatrice im Obersteg und Performance-Künstlerin Claudia Bucher setzen sich in Teil 2 mit dem zentralen Thema des bäuerlichen Lebens, der Fruchtbarkeit, auseinander.

Hohepriesterinnen

Die beiden Frauen zeichnen abwechselnd Körpergemälde, malen Gedanken, zerren tief im Innern schlummernde Bilder nach draussen, reissen Ängste auf, die Atmung oder das Prusten geben den Takt an, getanzt, geformt, gehaucht – Hohepriesterinnen, Tempeltänzerinnen, Freundinnen. Hypnotisiert folgt das Publikum dem sowohl Choreographierten wie auch Improvisierten, atemlos: Was passiert als Nächstes?

Die Ouvertüre mit dem Sonnenblumenblätterzupfen zeigt die demütige Haltung einer Tempeltänzerin.

Die Ouvertüre mit dem Sonnenblumenblätterzupfen zeigt die demütige Haltung einer Tempeltänzerin.

(Bild: Rob Nienburg)

Emsiges Arbeiten fliesst über in schleichende Langsamkeit, neue Bilder entstehen aus bestehenden Bildern, schattenbegleitet, die Dualität des Seins betonend. Die eine lebt durch die andere ihre eigenen Phantasien aus: Das «Produkt» der Tänzerin ist eine leblose Claudia Bucher, sonnenblumenübersät, die wie eine zur Entpuppung bereite Raupe auf Knien kauert: ein magisches Bild. Und über allem hängt tiefe Stille, bis auf die Geräusche, die von reibenden, knirschenden, fallenden Kernen stammen oder dem Atmen, Prusten, Schnauben, Keuchen der Performerinnen.

Weibliche Reize

Der Samen als Symbol der Fruchtbarkeit, in zahlloser Flut: Bucher befüllt ihre «Statue» damit, aus dem Frauenkörper entsteht ein gnomenhaftes Wesen, furchterregend mit wuchernden Ausbuchtungen. Humorvoll betont sie einen überriesigen Busen, einen ausladenden Po. Im Oberhof reizt ihren Körper aus, stellt zur Schau, überzeichnet ironisch: Das krankhafte Sexy-Sein-Wollen entreisst dem Publikum spontane Lacher.

Shiva, die Tempeltänzerin, eines von vielen Körperbildern.

Shiva, die Tempeltänzerin, eines von vielen Körperbildern.

(Bild: Rob Nienburg)

Hinreissend, wie sie das Befruchtet-Werden, das Schwanger-Sein überreizt, ohne es zu verzerren. Durch Ziehen und Zupfen an ihrem mit Kernen prall gefüllten elastischen Kostüm formt sie den von Bucher neu geschaffenen Körper immer wieder um, bis sie sich dessen entledigt. Die Performance endet fulminant mit zwei «Schnee-Engeln», respektive «Sonnenblumenkerne-Engeln»: vielleicht auch einfach Frauen-Engeln, die sich getrauen, künstlerisch Grenzen zu überschreiten.

Lebendige Statue

Claudia Bucher arbeitete bisher lediglich mit Materialien. Erstmals ist ihr «Objekt», mit dem sie arbeitet, ein Mensch, den sie als lebendigen Körper modelliert wie eine Statue. Ihre Befürchtung, neben einer Tänzerin nicht bestehen zu können, ist hinfällig. Aus dem gewagten Schritt ihres Bestrebens, künstlerisch aus der bisherigen Schaffensphase herauszutreten, nicht stehen zu bleiben, sich zu entwickeln, sich mit einer anderen Künstlerin auseinanderzusetzen, ist ein atemberaubendes, vergängliches Körperkunstwerk von grosser sinnlicher Dichte und weiblicher Stärke geworden.

Ohne zu zögern geben sich die beiden Frauen in ihrem Schaffen ihren Gefühlen hin. Hingabe, Verletzlichkeit, Einfühlsamkeit, die ganze Palette weiblicher Urkraft deckt ihr Ausdruck ab. Ewas, was in der aktuellen kopflastigen Kunstszene zu oft vermisst wird. Zitternde Knie, ein etwas staksiger Schritt oder ein zögerliches Aufrichten tun nicht weh. Sie sind Teil des nicht perfekten Sich-Selbst-Seins. Das Publikum in der vollen Heubühne drückte seine Begeisterung durch frenetischen Beifall aus.

Hinweis: Am 23. September folgt Collaboration III im alten Turbinenversuchshaus Kriens.

Das Schlussbild sind zwei Sonnenblumenkerne-Engel.

Das Schlussbild sind zwei Sonnenblumenkerne-Engel.

(Bild: Rob Nienburg)

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