Tanz-Experiment mit jungen Asylsuchenden im Südpol

«Ich habe bei Proben noch nie so viel geheult»

Beatrice Fleischlin und Anja Meser haben mit 14 Jugendlichen für Radical Hope No.1 starke Bilder geschaffen.

(Bild: Roberto Conciatori Photographer SBf)

Es wurde hochemotional – bei den Proben und auch bei den Aufführungen vor Publikum. Radical Hope No.1, das Tanzstück im Südpol, wird wegen des grossen Erfolgs diesen November nochmals aufgeführt. Ein Kraftakt, nicht nur für die unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden, die dabei auf der Bühne stehen.

Flüchtlingsbewegungen, Islamismus – die Angst greift um sich. «Doch obwohl ich mit dieser Angst nicht einverstanden bin, bedroht sie mich», sagt die Performerin Beatrice Fleischlin mit Nachdruck. Mit der Reihe «Radical Hope» wolle sie der Angst eine positive Haltung gegenüberstellen.

Der erste Teil der Reihe, no.1, wurde im Mai im Südpol aufgeführt und wird nun im November, wegen des grossen Erfolgs, nochmals aufgenommen. Die Vorstellungen waren komplett ausverkauft und Zuschauer mussten abgewiesen werden.

Unbegleitete minderjährige Asylsuchende tanzen ihre Geschichten

Erarbeitet wurde das Tanzstück vom Performerinnen-Duo Beatrice Fleischlin und Anja Meser mit 14 jungen Menschen aus unterschiedlichen Lebensrealitäten. Konkret heisst das: Elf der Jugendlichen kommen aus dem Pilatusblick, dem Krienser Zentrum für unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA). Die elf kommen ursprünglich aus Eritrea, Somalia und Afghanistan. Drei sind Schweizer.

Mit ihnen haben Fleischlin und Meser eine poetische, bunte Tanzperformance erschaffen. Es wurde gespielt und gelacht, getanzt und geschwitzt. Und der Abend endete in einer Ansprache an das Publikum: mit der Forderung der Darsteller an die Welt.

Das erste mal auf einer Bühne. 

Das erste mal auf einer Bühne. 

(Bild: Roberto Conciatori Photographer SBf)

Tränen und Begeisterung

Die Reaktionen der Zuschauer seien hochemotional ausgefallen. Einige hätten die ganze Zeit geweint.

«Ich sah am Montag die Aufführung und war hin und weg. Es war so berührend, kraftvoll und eindrücklich, was die Jugendlichen geschaffen haben. Ich hatte Tränen in den Augen und war zutiefst berührt», sagte eine Zuschauerin, die als Lehrerin in Luzern arbeitet, nach der Vorstellung. Eine weitere Zuschauerin gab zu: «Ich habe mir immer wieder die Tränen weggewischt. Sie haben einen wunderschönen Ausdruck gefunden, ernst und berührend und doch voller Lebensfreude.»

«Mir war nicht bewusst, wie gross meine Verantwortung diesmal ist.»
Beatrice Fleischlin

Eine Betreuerin der UMAs sagte gar: «Ich war unglaublich gerührt und hatte wohl zum ersten Mal in meinem Leben so ein Gefühl, wie sich Mutterstolz anfühlen würde.» Einige Rückmeldungen wünschten sich Zusatzaufführungen, damit weitere Zuschauer sich das Stück anschauen könnten. «Als ich den Jugendlichen nach der Aufführung gratulierte, spürte ich ihren Stolz und das Leuchten in den Augen war unübersehbar.»

Das kann auch Kisen bestätigen. Der bald 17-jährige Kisen aus Eritrea lebt im Pilatusblick und war Teil des Projekts. Er freue sich extrem darauf, dass es eine Wiederaufnahme gebe. «Es war ein tolles Erlebnis, bei Radical Hope mitzumachen.» Die Arbeit mit Beatrice habe ihm viel Spass gemacht. Die Aufregung vor der Aufführung sei zwar riesig gewesen, trotzdem wünsche er sich, weiterhin bei Tanzprojekten dabei sein zu können.

11 Jugendliche aus dem Pilatusblick und drei Jugendliche aus der Schweiz standen gemeinsam auf der Bühne.

11 Jugendliche aus dem Pilatusblick und drei Jugendliche aus der Schweiz standen gemeinsam auf der Bühne.

(Bild: Roberto Conciatori Photographer SBf)

Nicht nur für die Zuschauer und die Jugendlichen, auch für Beatrice Fleischlin und Anja Meser war es ein sehr emotionales Projekt, das wird schnell klar. «Ich habe bei Proben noch nie so viel geheult», so Fleischlin und auch jetzt beginnen ihre Augen zu glänzen.

Aufführungen

Die Wiederaufnahme von Radical Hope No.1 mit den Jugendlichen aus dem Pilatusblick wird am 23. November 2017 und am 24. November 2017 erneut im Südpol aufgeführt. Am 24. November gibt es eine Nachmittags- und eine Abendvorstellung.

Unausgesprochene Schicksale

«Man schaut hier keinem Profi zu, der eine Geschichte erzählt. Der Umstand, dass es sich wirklich um Kinder und Jugendliche handelt, die alleine geflüchtet sind, das bewegt unheimlich.» Das Stück komme daher auch ohne Details aus. Nur zwei kleine biografische Erzählungen ergänzen den Tanz. «Doch das Publikum kennt hunderte Bilder und Geschichten aus den Medien – wir können uns alle viel zu gut vorstellen, was diese Jugendlichen durchgemacht haben.»

Und auch in der Schweiz angekommen, können die Jugendlichen nicht zur Ruhe kommen, so Fleischlin. Sie wissen nicht, wo sie nächstes Jahr sind, ob sie einen Job bekommen, ob sie wieder weggeschickt werden. «Sie haben keine Stabilität, keine Sicherheit, keine Eltern oder sonstige langfristige Bezugspersonen. Und das in der Pubertät, die sonst schon schwierig genug ist.»

Ein Mahnmal und ein Statement

Beatrice Fleischlin

Beatrice Fleischlin

Die international tätige Performerin Beatrice Fleischlin ist in Luzern keine Unbekannte. Die gebürtige Sempacherin lebt heute zwar in Berlin und Basel, ist jedoch als «associated artist» am Südpol in den letzten Jahren immer wieder mit ihren radikalen Projekten aufgefallen. Die Leintuch-Aktion «Just one Minute» in der Luzerner Innenstadt habe sie als Mahnmal verstanden. «Doch es braucht mehr. Radical Hope soll ein Statement sein», erklärt Fleischlin.

Doch nicht nur deshalb habe sie sich für die Wiederaufnahme eingesetzt. Durch die gemeinsamen Proben, das gemeinsame Kochen und Essen sei ein Familiengefühl entstanden, und damit auch ein Verantwortungsgefühl. «Mir war nicht bewusst, wie gross meine Verantwortung diesmal ist. Sie geht weit über das Künstlerische hinaus.»

Wenn die Blase platzt

«Die Jugendlichen erleben eine intensive gemeinsame Zeit, dann den Erfolg der Aufführung, den Applaus und die Reaktionen der Zuschauer. Und dann kommt der Bruch, die Blase platzt und sie werden wieder in ihrem Alltag zurückgelassen.» Auch viele Profis würden in der Zeit nach einer Produktion in ein Loch fallen, weiss Fleischlin. Wie hart es dementsprechend für Jugendliche ohne ein intaktes soziales Umfeld sein müsse, könne sie sich kaum vorstellen. Eine Weiterführung des Projekts wäre daher wichtig, so Fleischlin. Vielleicht eine feste Tanzgruppe – aber dafür müsse jemand vor Ort leben. «Natürlich wird im Zentrum so viel wie möglich an Struktur und Halt gegeben, aber Kontinuität ist trotzdem etwas, das den Jugendlichen fehlt.»

Aus diesen Gründen zögert Fleischlin, die Anfragen für ein solches Projekt in Basel und Zürich anzunehmen. «Ich stehe als Künstlerin in einer ganz neuen und viel grösseren Verantwortung.» Und mit dieser wolle sie nicht leichtfertig umgehen.

Es habe für die Jugendlichen viel harte Arbeit hinter der Produktion gesteckt, betont Fleischlin.

Es habe für die Jugendlichen viel harte Arbeit hinter der Produktion gesteckt, betont Fleischlin.

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