Heilrituale in der Zentralschweiz

Mehr als blutige Riten und schwarze Magie

Es gibt verschiedene Wege, höhere Mächte um Hilfe und Zuspruch zu bitten. (Bild: Thorsten Kreuger/Collage)

Von Vooodoo bis Weihwasser: Auch in Luzern und Zug werden Rituale zur Beschwörung höherer Mächte praktiziert – und dies weitaus öfter, als man annehmen könnte. Der Volkskundler Kurt Lussi meint gar, dass wir uns erst am Anfang einer Entwicklung befinden, deren Ende nicht abzusehen ist.

In der aktuellen Sonderausstellung des Historischen Museums Luzern dreht sich alles um «Mysterien des Heilens». Neben spirituellen Heilmethoden aus Westafrika (siehe Bildergalerie) werden auch traditionell-europäische Heilrituale näher betrachtet. Diese sind in der magischen Volksmedizin erhalten geblieben und werden teilweise als ganzheitliche Heilmethoden neu entdeckt.

zentral+ hat mit Kurt Lussi, Volkskundler und Kurator der Ausstellung, über verschiedene Rituale aus der afrikanischen und europäischen Kultur gesprochen. So viel vorweg: Von geköpften Hühnern, dem Verschlucken von Andachtsbildern bis hin zu Wallfahrten – auch in Luzern und Zug verspricht man sich öfters Hilfe und Zuspruch von höheren Mächten.

zentral+: Herr Lussi, in einer aufgeklärten Gesellschaft haben spirituelle Heilmethoden und Rituale den Ruf, Humbug zu sein, und jene, die sie praktizieren, werden gerne als Scharlatane abgetan. Wie stehen Sie dazu?

Lussi: Diese Meinung ist mir bekannt, und wir wissen ja zur Genüge, dass selbst gebildete Menschen nicht selten mit dem verhaftet bleiben, was sie vor dreissig oder vierzig Jahren mal gelernt hatten. Diese Menschen können oder wollen sich nicht mit neuen Ansätzen befassen, und sie können daher auch mit der Ausstellung «Mysterien des Heilens» wenig bis nichts anfangen. Das ist zu akzeptieren. Auf die Entwicklung von ganzheitlichen Heilmethoden wie auch auf deren Erforschung hat dies indes keinen Einfluss. Das zeigt die Resonanz dieser Ausstellung, die bereits jetzt weit über das Einzugsgebiet des Historischen Museums hinausgeht.

Volkskundler und Historiker Kurt Lussi kursiert die aktuelle Ausstellung im historischen Museum Luzern.

Volkskundler und Historiker Kurt Lussi kursiert die aktuelle Ausstellung im historischen Museum Luzern.

zentral+: In der Ausstellung wollen Sie aufzeigen, dass unterschiedliche Kulturen ähnliche Vorstellungen über die Entstehung und Heilung von Krankheiten haben. Vergleicht man afrikanische und traditionell-europäische Vorstellungen – was ist ihnen gemeinsam?

Lussi: Fast alle ursprünglichen Kulturen, einschliesslich der europäischen, kennen das Konzept der Ganzheitlichkeit des Menschen. Körper, Geist und Seele stehen in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Was der Seele geschieht, wirkt sich auf den Körper aus und umgekehrt. Eine sich in Balance befindende Seele ist folglich die Voraussetzung für die Gesundheit des Körpers. Gerät sie – aus welchen Gründen auch immer – aus dem Gleichgewicht, wird der Mensch krank. Heilung geschieht, indem ein traditioneller Heiler die Seele wieder ins Gleichgewicht bringt. Das ist nur ein Beispiel von vielen.

zentral+: Welche Unterschiede lassen sich zwischen traditionell-europäischen und afrikanischen Heilritualen feststellen?

Lussi: Die Unterschiede bestehen vor allem im Äusseren. Afrikanische Heilrituale wirken auf uns fremd. Wir können mit ihnen wenig bis nichts anfangen, zumindest vom äusseren Erscheinungsbild her. Inhaltlich jedoch sehe ich mehr Gemeinsames und Verbindendes als Trennendes. Die afrikanischen Vorstellungen zum Beispiel, wonach Körper, Geist und Seele in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen, finden wir auch im Katholizismus. Fast alle Andachts- und Pilgerbüchlein aus der Zeit um 1900 empfehlen, eine Wallfahrt zu allererst zur Gesundung der Seele und erst in zweiter Linie zur Gesundung des Körpers zu unternehmen. Daraus ist zu schliessen, dass unsere Vorfahren die Ganzheitlichkeit der Heilung bestens gekannt haben. Jetzt wird sie uns wieder bewusst.

«Je nach Krankheit riss man das Bildchen des ‹zuständigen› Heiligen heraus und verschluckte es.»

Von Voodoo bis Weihwasser

Um von einer Krankheit geheilt zu werden, genügen Medikamente oft nicht und es ist ein ganzheitlicher Ansatz gefragt. Denn: Körper und Seele sind eine Einheit und beeinflussen sich gegenseitig. Diesen Vorstellungen ist die aktuelle Sonderausstellung im historischen Museum Luzern gewidmet, die noch bis zum März 2016 andauert. Sie dokumentiert und erklärt die ganzheitliche Heilung am Beispiel traditioneller afrikanischer und schamanischer Vorstellungen sowie anhand Heilritualen des haitianischen Vodou und des Louisiana Voodoo Hoodoo.

Aber auch die spirituellen Heilmethoden unserer Kultur werden näher betrachtet. Dort haben sie sich in der magischen Volksmedizin erhalten oder werden im Rahmen der Palliative Care neu entdeckt. Dabei zeigt sich, dass eine ungeahnte Zahl von Übereinstimmungen besteht, welche nicht nur als Brücken der Völkerverständigung dienen können, sondern gegenseitiges Lernen ermöglichen.

zentral+: Sind solche Heilmethoden angesichts der vielfältigen Möglichkeiten der modernen Medizin auch gegenwärtig noch gefragt?

Lussi: Ja, natürlich. Wir befinden uns erst am Anfang einer Entwicklung, deren Ende nicht abzusehen ist. Der Weltkongress der Ganzheitsmedizin, der in diesem Oktober in München stattfand, wurde nicht nur von Heilpraktikern besucht, sondern auch von Ärzten und Pflegefachleuten. In den verschiedenen Workshops wurden ganzheitliche Heil- und Behandlungsmethoden vorgestellt, die in vielen ursprünglichen Kulturen noch praktiziert werden.

Die ganzheitliche Behandlung von Patienten hat schon seit einiger Zeit auch in die moderne Medizin Einzug gehalten. Ich denke da an die «Palliative Care» und vor allem auch an die daraus hervorgegangene «Spiritual Care». Für beide Formen der ganzheitlichen Behandlung sind mittlerweile an vielen Universitäten Lehrstühle eingerichtet worden. Sie belegen, dass die Ganzheitlichkeit der Behandlung eines Patienten oder einer Patientin zunehmend auch ein Anliegen der modernen Medizin ist, obschon «Palliativ Care» und «Spiritual Care» derzeit erst bei Menschen zur Anwendung gelangen, die sich in der letzten Lebensphase befinden.

«Ich stelle fest, dass Wallfahrten zunehmend an Bedeutung gewinnen.»

zentral+: Sie beschäftigen sich intensiv mit den magisch-religiösen Vorstellungen des Alpenraums. Welche Besonderheiten lassen sich hier auffinden?

Eine Schabmadonna aus Einsiedeln aus dem 18. Jahrhundert. (Bild: Kurt Lussi)

Eine Schabmadonna aus Einsiedeln aus dem 18. Jahrhundert. (Bild: Kurt Lussi)

Lussi: Es gibt eine Reihe von volksmagischen Heilritualen, die mit dem christlichen Glauben nicht im Einklang stehen. Dazu gehören beispielsweise das Auflegen von Bildchen und Stoffstücken, die zuvor an ein Gnadenbild gehalten wurden und daher mit «Kraft» geladen sind. In der Ausstellung gezeigt wird auch ein «Fresszettel», auf dem verschiedene Heilige dargestellt sind. Je nach Krankheit riss man das Bildchen des «zuständigen» Heiligen heraus und verschluckte es. Ähnlich verhielt es sich mit den tönernen Schabmadonnen aus Einsiedeln. Um ein «Gebresten» zu heilen, schabte man davon etwas ab und nahm das Pulver mit Wasser ein.

zentral+: Gerade wenn man nicht mehr weiter weiss, steht man auch spirituellen Heilmethoden offener gegenüber. Wird das auch heute noch so praktiziert?

Lussi: Ja, das ist so. Ich denke hier vor allem an Wallfahrten, von denen wir bereits gesprochen haben. Früher ging man bei Halsleiden in die Kapelle St. Blasius in Alberswil, bei Beinleiden zum heiligen Mauritus in Schötz. Für Augenleiden ist die heilige Ottilia zuständig, die in einem Sakralbau in der Nähe von Buttisholz verehrt wird. Diese Orte werden heute noch aufgesucht, und dies nicht nur bei Leiden, für welche die dort verehrten Heiligen zuständig sind, sondern bei allen Anliegen des täglichen Lebens. Weitere Gnadenorte sind der heilige Bischof ohne Namen in Cham im Kanton Zug, das Sarner Jesuskind im Kanton Obwalden oder die Kapelle Maria Riedertal bei Bürglen im Kanton Uri. Die Liste liesse sich fast beliebig verlängern.

zentral+: Wie stehen Sie solchen Wallfahren gegenüber?

Lussi: Ich stelle fest, dass Wallfahrten zu diesen Orten, deren Entstehung weit in die Zeit zurückreicht, zunehmend an Bedeutung gewinnen. Und nicht zuletzt belegen die an diesen Orten aufliegenden Anliegenbücher, dass der Mensch in Zeiten höchster Not nach wie vor Hilfe und Zuspruch bei den höheren Mächten sucht. Seele, Geist und Körper. Ihre gegenseitige Abhängigkeit ist an diesen Orten besonders erfahrbar und auch spürbar, wie auch die Ganzheitlichkeit einer Behandlung, die sich wohl die meisten Menschen wünschen. Und dies nicht nur in der letzten Lebensphase.

«Voodoo hat bei uns einen schlechten Ruf.»

zentral+: Kürzlich sorgte ein geköpftes Huhn auf einem Friedhof in Genf für Schlagzeilen. Man vermutet ein Voodoo-Ritual dahinter. Ist das ein exotischer Einzelfall oder sind Voodoo-Praktiken in der Schweiz weiter verbreitet, als man zunächst denken mag?

Kurt Lussi: Mit der Zuwanderung aus Westafrika kommen zunehmend religiöse Praktiken zu uns, die uns fremd sind und uns zum Teil auch abstossen. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn sie mit der Opferung von Tieren verbunden sind. Das Beispiel aus Genf ist kein Einzelfall. Wir dürfen in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass in der Schweiz mittlerweile über 86’000 Menschen afrikanischer Herkunft leben, die zu einem grossen Teil ihre aus der afrikanischen Heimat mitgebrachten religiösen Vorstellungen leben und die damit verbundenen Rituale auch praktizieren.

zentral+: Sind Ihnen solche Fälle auch aus der Zentralschweiz bekannt?

Lussi: Aus der Zentralschweiz sind mir keine Vorkommnisse bekannt, die öffentliches Aufsehen erregt hätten. Wir finden die Spuren naturgemäss dort, wo viele Afrikaner leben. Und das ist zum Beispiel Genf, vor allem Einwanderer aus Westafrika zieht es dorthin. Das hat einerseits mit der Anonymität der Grossstadt und andererseits mit der französischen Sprache zu tun. In den meisten Ländern Westafrikas ist Französisch der kolonialen Vergangenheit wegen bis heute Amtssprache. Man spricht dort auch nicht von Voodoo, sondern von Vodún. Ersteres bezeichnet den Voodoo amerikanischer Prägung, der zwar auf den westafrikanischen Vodún zurückgeht, mit diesem jedoch nicht gleichgesetzt werden darf.

zentral+: Um welche Art Ritual handelt es sich bei dem auf dem Genfer Friedhof geopferten Huhn? Geht es hier um schwarze Magie, mit der Voodoo oder eben Vodún oft in Zusammenhang gebracht wird?

Lussi: Der Voodoo bzw. der Vodún westafrikanischer Provenienz hat bei uns einen schlechten Ruf. Das ist richtig. Meist wird er mit schwarzer Magie und blutigen Riten in Zusammenhang gebracht. Das wiederum hat mit der amerikanischen Filmindustrie zu tun, die Voodoo, weil er die Religion vieler Afroamerikaner im Süden der USA ist, nur zu gerne mit dem Dämonischen in Verbindung bringt. Beim Ritual auf dem Genfer Friedhof handelt es sich mit grösster Wahrscheinlichkeit jedoch um ein Heil- und nicht um ein schwarzmagisches Ritual. Im westafrikanischen Vodún, im Voodoo Louisianas und vor allem in der Santería, der kubanischen Version des Voodoo, werden Hühner den Ahnengeistern geopfert, wenn es darum geht, von einer schweren Krankheit zu genesen, wie das in der Ausstellung «Mysterien des Heilens» gezeigt wird.

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Mehr Eindrücke aus der Welt der Heilrituale finden Sie hier in unserer Bildergalerie:

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Gute Nacht
    Gute Nacht, 30.10.2015, 12:25 Uhr

    … wäre ein zugegebenermassen etwas akademischer Titel der Ausstellung. Aber passend.

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