Armut im Kanton Zug

«Dann gibt es halt weniger zu essen, ganz einfach»

Karma Namgyal und Tim Kubin sammeln für «Tischlein deck dich» Lebensmittel von regionalen Spendern ein. (Bild: Adrian Meyer)

Wer an den Kanton Zug denkt, denkt an Reichtum, Idylle, Steuerparadies. Doch auch hier müssen einige Menschen am oder unter dem Existenzminimum leben. Die Lebensmittelausgabe von «Tischlein deck dich» in Baar ermöglicht einen Blick in diese sonst unsichtbare Parallelwelt der Armut in Zug.

Es rumort hinter der grauen Schiebetüre: Ein Mix aus Gelächter, Grüssen und Gesprächen dringt durch die Tür hindurch in den kühlen Raum nebenan, in dem kistenweise Lebensmittel  stehen, abgezählt, 120 Stück von jedem Produkt. Sie liegen bereit, um in ebenso viele Dennertüten, Rucksäcke oder Einkaufswägelchen gepackt zu werden. Wie jede Woche.

120 Menschen – so viele Bezüger aus dem Kanton Zug kommen jeden Dienstagabend zur Schweizer Lebensmittelhilfe «Tischlein deck dich» in Baar. Obwohl alle gleich viele Lebensmittel bekommen, warten die meisten dennoch schon eine halbe Stunde vor der Öffnungszeit. Man trifft sich im Raum hinter der Schiebetüre auf dem Gelände von «GGZ@Work», der Arbeitsintegrationmassnahme der Gemeinnützigen Gesellschaft Zug (GGZ). Hier befindet sich die «Tischlein deck dich»-Abgabestelle samt Kühllager, welche in Partnerschaft mit der GGZ betrieben wird. Eine Stunde lang werden hier Woche für Woche Lebensmittel verteilt, seit zehn Jahren schon. An Sozialhilfeempfänger, an Asylbewerber, an Leute, die trotz Jobs am Existenzminimum leben.                                        

Jede Woche nehmen rund 300 Personen die Lebensmittelhilfe in Anspruch

Yolanda Fässler öffnet mit einem Ruck die Schiebetüre, ein Stapel Kärtchen in der einen Hand. Sie ist die Leiterin der «Plattform Zentralschweiz» von «Tischlein deck dich», die alle regionalen Abgabestellen mit Lebensmitteln beliefert. «Grüezi Frau Fässler», tönt es ihr vom Raum dahinter entgegen: Sie blickt in dutzende Gesichter: alte, junge, männliche, weibliche, afrikanische, asiatische, schweizerische. Viele Alleinstehende, einige Mütter mit Kindern, einige Senioren. Zwei Drittel seien laut Yolanda Fässler ausländische Staatsangehörige, ein Drittel seien Schweizer. Rechne man alle Familienmitglieder dazu, verteile «Tischlein deck dich» jede Woche Lebensmittel für geschätzt 300 Personen, sagt sie.

Und dann nimmt sie das erste Kärtchen und ruft nacheinander die Namen auf: Herr Trang, Frau Franco, Frau Höfli*. Nacheinander treten sie durch die Türe, die meisten mit einem Lächeln, die Papiertüte bereits geöffnet vor sich ausgestreckt, «Grüezi, ja ich hätte gerne den Salat da, dankeschön, einen schönen Abend. Bis nächste Woche wieder». Einige wiederum nehmen die Lebensmittel, die ihnen die «Tischlein»-Helfer entgegenstrecken, stumm entgegen, mit ausdruckslosem Gesicht. Danke sagen sie alle. Kaum mehr als eine Minute braucht jeder von ihnen, um Energygetränk, Studentenfutter, Joghurt, eine Tüte Mandeln, eine Tafel Lindt-Schokolade, Salat, frisches Brot und eine Tube Waleda-Shampoo einzupacken.

Trotz leichten Mängeln einwandfrei

Die Lebensmittel stammen von Spendern wie «Coop», oder «Prodega», von regionalen Bäckereien oder Grossverteilern wie «Müller Gemüse» in Hünenberg. Unverkaufte Salate kurz vor dem Ablaufdatum, übriggebliebenes Brot vom Vortag, leicht beschädigte Schokoladentafeln, falsch etikettierte Apfelschnitze oder, wie diese Woche, teure Waleda-Shampoos, die aus einer Palette gefallen sind – all das verteilt «Tischlein deck dich«. Was sonst im Müll landen würde, wird dank des Vereins an Leute verteilt, die sich diese Produkte normalerweise nicht leisten können. Die Produkte haben zwar leichte Mängel, sind aber noch einwandfrei geniessbar: Sie unterliegen strengen Lebensmittelkontrollen. 13’000 Menschen erreicht «Tischlein deck dich» jede Woche mit seinen 86 Abgabestellen in der ganzen Schweiz. 2’300 Tonnen Lebensmittel verteilte der Verein im vergangenen Jahr, was laut eigenen Angaben knapp 11,5 Millionen Teller entspreche.

Die meisten der Zuger «Tischlein»-Bezüger arbeiten in einer der Betriebsstätten von «GGZ@Work»: in der Recyclingstelle, bei der Grünarbeit oder in einer der Werkstätte. «GGZ@Work begleitet im Auftrag des Kantons Zug Sozialhilfeempfänger sowie anerkannte und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge bei der Berufsintegration, um sie so wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern.

Auch im reichen Kanton Zug leben Menschen am oder unter dem Existenzminimum

Der Kanton Zug gehört zu den reichsten der Schweiz, aber auch hier leben Menschen in Armut: Sie sparen sich ihre Miete vom Mund ab, sie arbeiten in mehreren Teilzeitjobs und haben dennoch nicht genug Geld am Ende des Monats, damit es auch einmal für Süssigkeiten für die Kinder reicht. Sie beziehen Sozialhilfe oder sind Flüchtlinge, die mit 13 Franken pro Tag Frühstück, Mittagessen und Abendesssen bezahlen müssen. Vor allem die hohen Mietzinsen machen vielen zu schaffen. In günstigere Wohnungen in der Region umzuziehen ist fast nicht möglich. Was wäre, wenn es Tischlein deck dich nicht gäbe? «Dann gibt es halt weniger zu essen, ganz einfach», sagt eine Frau draussen vor der Türe, Zigarette in der einen, die mit den Lebensmitteln gefüllte Einkaufstasche in der anderen Hand.

1800 Personen bezogen laut der letzten Sozialhilfestatistik im Kanton Zug Sozialhilfe, das sind 1,6 Prozent der Einwohner. 2300 Personen erhielten zudem Ergänzungsleistungen, weil ihre Altersvorsorge oder Invalidenrente nicht ausreicht. Weil sich aber viele aus Scham nicht melden, dürfte die Dunkelziffer nochmals so hoch sein, vermutet Yolanda Fässler. Der Kanton Zug zeige sich jedoch sehr offen gegenüber Menschen in Armut: «Wir haben hier im Kanton viele Unterstützungsangebote.»

Gerade deshalb sei die Armut dieser Menschen nicht auf den ersten Blick sichtbar. Auch bei der Lebensmittelabgabe in Baar sind die Bezüger auffällig unscheinbar: Würde man diesen Menschen auf der Strasse begegnen, sie würden nicht weiter auffallen: Sie tragen Jedermann-Kleidung, nichts verrät ihre Lebenssituation. Das einzige Merkmal, welches die Mehrheit der Leute gemeinsam haben: die rot-weisse Tüte von Denner, in der sie ihre Lebensmittel nach Hause tragen.

«Essen ist ein Bedürfnis, Geniessen ist eine Kunst»

Einer davon ist Karma Namgyal, ein 32-jähriger tibetischer Flüchtling, der seit sechs Monaten in der Schweiz lebt und in Zug um Asyl sucht. Er arbeitet bei «GGZ@Work» und hilft tagsüber als Beifahrer dem Zivildienstler Tim Kubin. Zusammen sammeln sie Lebensmittel in der Region ein und bringen sie ins Kühllager in Baar. «Bitte schreibe: Vielen Dank, Schweiz!», sagt er in holprigem Deutsch, für all die Unterstützung, die er hier erfahre. An diesem Nachmittag lieferten die beiden überschüssigen Grillkäse nach Winterthur, ins Hauptlager von «Tischlein deck dich»: «Wir haben zu viel von dem Käse bekommen, die Leute in Zug können den nicht mehr sehen», sagt Tim Kubin, der Fahrer.

Abends, nach der Lieferung, stehen beide hinter den Kisten der Lebensmittelausgabe und helfen, die Esswaren an die Leute zu verteilen. Auch Karma Namgyal. Er, der allen Brot verteilt, packt sich eine Tüte voll, noch bevor die ersten Bezüger kommen. Er, seine Frau und ihr Kind sind auf die Hilfe von «Tischlein deck dich» angewiesen.

Nach nur einer halben Stunde sind die Lebensmittelkisten in der Abgabestelle fast leer, die Dennertüten der Bezüger voll. Draussen reden einige von ihnen noch kurz, ein Schwätzchen hier, eines da, man kennt sich mittlerweile. Viele sehen sich jede Woche aufs Neue. Keiner von ihnen mache das gerne, sagt Yolanda Fässler: «Sobald jemand eine Stelle findet, drückt er uns jubelnd die Bezugskarte in die Hand und sagt: Endlich muss ich nicht mehr zu euch kommen!» Zehn Jahre mache sie ihren Job bei «Tischlein deck dich» nun schon, aber an die Situation dieser Leute hat sie sich immer noch nicht gewöhnt: «Ich bin jedes Mal wieder dankbar, dass ich mir immer die Lebensmittel kaufen kann, auf die ich gerade Lust habe. Das ist ein echter Luxus.»

Kurz vor 18 Uhr ist das letzte Brot verteilt, der letzte Bezüger verschwindet um die Ecke. Der Raum hinter der Schiebetüre, in dem sich noch vor einer Stunde die Menschen drängten, ist leer. An der Wand steht in schwarzer Schrift: »Essen ist ein Bedürfnis, Geniessen ist eine Kunst.»

*Namen geändert

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