Wenn Kinder in Luzern der Schule fernbleiben

Nun zeigt sich: Der 13-jährige Nicola ist kein Einzelschicksal

«Ein Fall für die Politik»: Vater Karl-Heinz Rubin macht sich für seinen autistischen Sohn Nicola stark.

(Bild: hae)

Vor zwei Wochen sorgte das Schicksal eines autistischen Schülers aus Ebikon für Wellen: Die Eltern bekamen viele aufmunternde Zuschriften und Ratschläge. Dabei zeigte sich: Ihr Sohn Nicola ist mit seinem Unterrichtsproblem nicht alleine. Herrscht ein Notstand in den Sonderschulen Luzerns?

Der 13-jährige Schüler Nicola Rubin wurde aus dem Wydenhof in Ebikon in eine Sonderschule in Schachen eingeteilt. Weil er autistisch und deshalb verhaltensauffällig sowie schwer zu integrieren ist. Dort litt der Hochsensible dermassen unter chaotischen Zuständen, dass er weit über einen Monat zu Hause lernte (zentralplus berichtete). 

Mittlerweile ist er wieder in Schachen, und dort versucht man das Kind langsam doch noch zu integrieren. Die Eltern haben schwierige Monate hinter sich, sie waren verzweifelt und fragten sich: Sind sie denn allein mit diesem Schulausschluss? 

Charles Vincent, Leiter der Dienststelle Volksschulbildung des Kantons Luzern, der den einzigartigen Fall von Nicola Rubin kennt, schrieb damals an dessen Vater Karl-Heinz Rubin: «Aktuell gibt es keine weiteren derartigen Fälle.» 

Doch kein Einzelfall

Doch das stimmt offenbar nicht: Eine Familie aus Luzern, die aufgrund von aktuellen Abklärungen mit ihrem Kind noch anonym bleiben möchte, meldete sich bei Karl-Heinz Rubin und zentralplus. Nachdem Nicolas Vater die Ämter davon unterrichtete, erhielt er ein weiteres Schreiben von Charles Vincent, in dem es neu hiess: «Nicola ist vermutlich nicht der einzige Lernende im Kanton Luzern mit Unterricht zu Hause. Ich habe von einem Einzelfall gesprochen und nicht vom einzigen Schüler. Auf 41’000 Lernende sind zwei bis drei aber immer noch Einzelfälle, obwohl natürlich auch für diese eine Lösung gefunden werden muss. Und das ist unser Hauptziel.»

Dass die Bemühungen seitens des Kantons aber Hauptziel seien, dies bezweifeln oben genannte Eltern. Ihr 14-jähriges Kind mit einer autistischen Störung hatte nach dem Übertritt an die Oberstufe mit schweren Problemen zu kämpfen. «Der Allgemeinzustand unseres Kindes wurde immer schlechter, immer mehr zog es sich zu Hause zurück und weinte viel. Es wollte doch auch ganz normal in die Schule gehen können», erklären die Eltern.

Die Tage, an denen das Kind es nicht schaffte, in die Schule zu gehen, wurden immer häufiger. Sodass mit der Schule eine Auszeit von zwei Wochen vereinbart wurde, um allen Beteiligten Zeit zu geben, nach einer neuen Lösung innerhalb der Schule zu suchen.  

«Was für Missstände!»

Walter Meier, Luzerner Autor und pensionierter Lehrer

Die Eltern erzählen weiter: «Der Einstieg klappte danach nicht mehr, sodass unser Kind nun bereits seit mehr als vier Wochen zu Hause ist und mit kleinen Aufträgen der Schule minimal durch uns unterrichtet wird. Der Kanton schlug uns per Telefon vor, es doch in die jugendpsychiatrische Therapiestation zu schicken.»

«Was für Missstände!», sagt Walter Meier, Luzerner Autor und pensionierter Lehrer. Er kam einst selbst mit dem Schulsystem in Konflikt und verfasste Bücher wie «Schule in Ketten» und «Der Nestbeschmutzer». Meier, der 23 Jahre im Jugendheim Schachen an der Oberstufe unterrichtete und von nachhaltig tollen Beziehungen zu seinen Schülern berichtet, sagt, dass viele Lehrpersonen die Faust im Sack machten. Weil sie ihre «Arbeit unter guten Bedingungen und ausreichender Bezahlung aus finanziellen Gründen nicht aufs Spiel setzen wollten».

«Missstände.»: Der Luzerner Walter Meier kennt die Schulsituation aus eigener Anschauung. 

«Missstände.»: Der Luzerner Walter Meier kennt die Schulsituation aus eigener Anschauung. 

(Bild: zvg)

Walter Meier: «Ich unterrichtete Jahre nach meinem Abgang in Schachen in Emmen einen äusserst liebenswerten integrativen Sonderschüler vier Stunden pro Woche im Einzelunterricht. Nur schon so finanzierte ich mir damit bereits die Miete.» Seiner Meinung nach hätte er den sogenannten «Problemfall» mühelos in der mittlerweile zu Grabe getragenen Kleinklasse Niveau D um ein Vielfaches kostengünstiger unterrichten können.

Meier wundert sich nicht, dass viele Lehrer nicht gegen die Hand, die sie füttert, aufbegehren: «Man soll nie den Ast absägen, auf dem man sitzt, auf dem man sogar bequem sitzt.» Mehr und mehr Lehrpersonen würden infolge unhaltbarer Zustände in einem Burn-out enden.

«Eltern mit Problemen rennen mir das Büro ein.»

Betroffene Mutter

Sind solche Misstände schulimmanent – oder doch eher nur im Kanton Luzern der Fall? Offenbar liegen die Sonderschulen in Luzern im Vergleich mit anderen Kantonen im Argen. Das will eine Mutter wissen, die ebenfalls ein verhaltensauffälliges Kind hat, das aus dem Schulsystem «rausgeschmissen» wurde. Die Mutter gründete darauf eine Selbsthilfegruppe und wird mit Arbeit überhäuft, weil vieles nach Verbesserung rufe. «Eltern mit ähnlichen Problemen wie die von Nicola rennen mir das Büro ein.»

Die Frau, die ebenfalls anonym bleiben möchte, hat viele Recherchen, auch ausserhalb des Kantons, gemacht. Sie kommt zu folgenden Schlüssen: «In Luzern ist das System krank. Kinder werden in die Sonderschule verwiesen, danach interessiert sich weder die Schulpflege noch der schulpsychologische Dienst für die Entwicklung und Förderung der Kinder in der Sonderschule. Was im Kanton Zürich und Zug anders ist: Dort bemüht sich der Schuldienst viel intensiver um einzelne Schicksale.»

Die Mutter ist resigniert: Denn seitens Dienststelle für Volksbildung und Schule des Kantons Luzern war in ihrem Fall keinerlei Unterstützung zu erwarten. Sie musste viel eigenes Geld für die Umschulung ihres Kindes aufwenden und kämpft derzeit um Rückzahlung.

Selbstständiges Lernen: Nicola Rubin lernt zu Hause unter Beobachtung seines Vaters.

Selbstständiges Lernen: Nicola Rubin lernt zu Hause unter Beobachtung seines Vaters.

(Bild: hae)

Eltern wie denjenigen von Nicola Rubin rät sie: «Es gibt keine Kontrolle. Und wenn es in den Sonderschulen nicht geht, wenn die Schule nicht passend ist und das Kind ‹rausgeschmissen› wird, müssen die Eltern kämpfen. So wie das Vater Karl-Heinz Rubin in Ebikon für Nicola tut. Damit das Kind so schnell wie möglich wieder in eine Schule gehen kann.»

«Jedes Kind hat zwar Recht auf Beschulung – doch in Luzern läuft das oft sehr schief.»

Die Rubins haben derzeit etwas Ruhe und wissen ihren Nicola wieder in einer Schulbank. Doch die Frau mit der Selbsthilfegruppe ahnt jetzt schon: «Da werden vermutlich erneut Probleme auftauchen. Es ist Schulpflicht und jedes Kind hat zwar Recht auf Beschulung – doch in Luzern läuft das oft sehr schief.»

Nicola Rubin aus Ebikon möchte Geschichte studieren. Doch vorerst muss er eine passende Schule finden.

Nicola Rubin aus Ebikon möchte Geschichte studieren. Doch vorerst muss er eine passende Schule finden.

(Bild: hae)

 

 

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