Luzerner Autolenker als Täter und Opfer

Wie man damit lebt, einen Fussgänger totgefahren zu haben

Gefährliches Blech. Autofahrer fährt einen Fussgänger an (Symbolbild: Aura zvg)

Es war ein Moment der Nachlässigkeit, als plötzlich dieser schwarze Schatten auftauchte, mitten auf dem Fussgängerstreifen: Einen Fussgänger totgefahren zu haben, ist eine gewaltige Zäsur im Leben. Ein 80-jähriger Luzerner sagt, wie er auch Jahre später noch mit dem Unfall hadert – und warum er sich bis heute nicht bei den Angehörigen entschuldigt hat.

«Ach, hätte ich doch damals schon den Bus genommen.» Fritz Müller*, so wollen wir den anonym Erzählenden nennen, sitzt an seinem Küchentisch. Die Kaffeetasse hat er während des Gesprächs vergessen, die kalte, braune Brühe sieht traurig drein.

So wie Fritz Müller auch. Die Stimme des kleinen alten Mannes zittert, schon mehrfach wollte er den ihn ausfragenden Besuch wieder nach Hause schicken. Dabei war Müller anfangs froh um die Anfrage für die Reportage, denn er wollte nochmals sein Schicksal aufarbeiten, es wieder einmal in allen Details erzählen.

Das Erzählen hatte ihm auch in den letzten drei Jahren gutgetan: Zu später Nacht hat er einen Menschen auf dem Zebratreifen überfahren. Anfangs nach dem Schicksalstag hatte er seinen Freunden und Bekannten die Geschichte seiner Schuld immer wieder gebeichtet. «Ich wollte sie loswerden, um eines Tages bitte endlich nicht mehr aus meinen Träumen schweissgebadet aufwachen zu müssen.»

Dunkel, Regen, Müdigkeit

Doch immer wieder holt Fritz Müller dieser Augenblick ein. Ein Moment der Nachlässigkeit, der Unaufmerksamkeit, des fehlenden Reflexes. Es war ein Frühlingsabend, schon lange dunkel, und es regnete Bindfäden. Fritz Müller fuhr weitaus weniger als die erlaubten 50 km/h innerorts, Alkohol war nicht im Spiel. Er war müde nach einem anregenden Abend bei Bekannten, bereits mehr als eine Stunde nach Hause unterwegs.

Und plötzlich tauchte dieser schwarze Schatten vor seiner Motorhaube auf, mitten auf dem gelben Fussgängerstreifen.

«Ein Knall – und dann weiss ich nichts mehr.»

Autofahrer Fritz Müller

«Ich reagierte zu spät. Ein Knall – und dann weiss ich nichts mehr.» Er sei wie in Trance gewesen, es gebe eine blinde Stelle in seinem Gedächtnis. Er habe nur noch geheult, sich von der bald zur Unfallstelle gerufenen Polizei wie eine Marionette lenken und dann nach Hause bringen lassen. Medikamente und Betreuung halfen ihm über die ersten Wochen.

Keinen Frieden mehr mit sich selbst

Es war die schlimmste Szene seines Lebens, weil der Zeitgenosse mit einst sonnigem Gemüt seither einen unschuldigen Menschen auf dem Gewissen hat. Und auch, weil dieser Unfall einen grossen Einschnitt in sein Leben darstellt, weil Fritz Müller nicht mehr zum Frieden mit sich selbst kommt.

Auch mit den Behörden stand er lange im Unfrieden: Der Führerausweis wurde ihm sofort entzogen. Doch Fritz Müller wollte ihn zurück, allerdings ohne Chance: «Monatelang musste ich mich regelmässig bei der Polizei melden, ich musste viele Tests absolvieren – doch fahren darf ich seither nicht mehr.» Es sei ihm nicht in den Sinn gekommen, selber aufs Autofahren zu verzichten.

Geknickt und nicht mehr am Steuer: der Todesfahrer musste sein Billett abgeben. (Symbolbild: Aura zvg)

Geknickt und nicht mehr am Steuer: Der Todesfahrer musste sein Billett abgeben. (Symbolbild: Aura zvg)

Heute nimmt Fritz Müller gezwungenermassen den Bus, sein kleines Motorboot musste er auch verkaufen. Weil er ausserhalb eines Dorfes wohnt, muss er für sich alle seine Fahrten zu Bekannten oder zum Einkauf organisieren. Das braucht Zeit und Nerven. «Aber ich will nicht klagen, es ist meine Schuld. Doch glauben Sie mir, ich wollte das alles nicht.»

Den Kontakt zur Familie des Opfers hat Fritz Müller nie gesucht. «Ich wollte mich entschuldigen. Aber ich brachte die Kraft zum Blick in die Augen der Angehörigen nicht auf. Das tut mir leid.» Ist das heute auch noch so? «Und wie. Aber es geht nicht, dann käme mir das Ganze wieder hoch …»

Täter oder Opfer?

So wie jetzt auch. Fritz Müller hat nasse Augen. Es lindert seine Schuldgefühle auch nur wenig, dass das überfahrene Opfer selber schon alt war und «das Leben vermutlich gut gelebt hat». Er macht eine lange Pause. Schüttelt den Kopf, ignoriert seinen Kaffee.

Er könne nur noch selten glücklich sein, so wie früher. Obwohl, er habe von vielen Menschen Mitgefühl und Trost erhalten. Fritz Müller, der «Täter», als der er sich lange fühlte. Und sich immer wieder nach dem Sinn des Lebens hinterfragte. «Aber manchmal fühle ich mich auch als Opfer.» Das sagt er nicht gerne und er nimmt es sofort wieder zurück.

«Das Opfer spürt nichts mehr. Den Schmerz haben jetzt seine Angehörigen.»

Dann sagt Fritz Müller noch dies: «Das Opfer spürt nichts mehr. Den Schmerz haben jetzt seine Angehörigen. Und ich, denn ich bin schuldig. Es ist furchtbar.»

Müller ist nicht allein mit seinem Schicksal: In der Schweiz verlieren jährlich zwischen 90 und 120 Menschen auf der Strasse ihr Leben, oft auch selbst verschuldet. Zwischen 1’800 und 2’000 Personen werden im Verkehr schwer verletzt, wie das Bundesamt für Strassen errechnet.

Mehr Sicherheit auf Fussgängerstreifen

Die Grüne Monique Frey fordert vom Kanton Luzern in einem Postulat diverse Massnahmen, damit Menschen auf Fussgängerstreifen weniger Gefahren ausgesetzt sind. Nebst vorschriftsgemässer Beleuchtung und Signalisierung sind das die Installation von Fussgänger-Mittelschutzinseln oder Verengungen vor Fussgängerstreifen. Ausserdem Temporeduktion vor Fussgängerstreifen auf 30 km/h oder lichtsignalgesteuerte Fussgängerstreifen sowie neuartige Bemalungen, die eine 3D-Wirkung erzeugen.

Eine weitere sichere und einfach umzusetzende Lösung ist Tempo 30, die derzeit wieder stark im Fokus steht (zentralplus berichtete). Denn wer langsamer fährt, sieht mehr und wird besser gesehen. Bei Tempo 30 verkürzt sich auch der Bremsweg. Und bei einem Unfall steigen die Überlebenschancen.

Bei einem Unfall fällt es schwer, von schwarz-weissen Kategorien wie Täter und Opfer auszugehen. Eine klare Position nimmt die Justiz ein. Der Täter wurde gebüsst: Fritz Müller spricht von einem halben Jahressalär, das er als Strafe sowie für die Gerichtskosten berappen musste. Das habe ihm dann noch zusätzlich wehgetan. Aber das sei ja letztlich nur Geld.

Fritz Müller fragt ganz leise: «Hört denn die Busse nie auf?» Dann blickt er in seine braune Brühe in der Tasse, es scheint ein Spiegelbild seiner dunklen Seele. «Dabei ging es doch um Leben.» Das des Toten. Das nie wieder zurückgegeben werden könne.

Und seit Langem gehe es auch um sein Leben. Das nie mehr wie früher sei. Er dachte auch schon daran, seinem Leben freiwillig ein Ende zu setzen.

Mehr Fussgängersicherheit

Fritz Müller macht eine forsche Handbewegung. Er ist froh, dass es derzeit Bemühungen gibt, mehr Sicherheit für Fussgänger im Verkehr zu etablieren und den Fluss von Motorfahrzeugen innerorts vermehrt zu drosseln (siehe Box). Denn Fritz Müller ist jetzt selber immer öfter auch ein Fussgänger. Ob gewollt oder nicht.

Mit über 80 Jahren ist er ein langsamer Fussgänger obendrein. Und bei Regen im Dunkeln passt er noch viel mehr auf als früher. Auch auf Fussgängerstreifen.

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