Luzerner Zeitforscher Ivo Muri über Adventsstress

Rezept gegen Stress: «Macht die Läden zu»

Zeitphilosoph: Ivo Muri aus Sursee befasst sich mit Stress und Glück.(Bild: hae) (Bild: hae)

Adventszeit gleich besinnliche Zeit? Von wegen: Viele haben jetzt den grössten Stress im Jahr, denn Zeit ist Mangelware. «Stille kracht» statt «Stille Nacht». Ivo Muri, Zeitforscher aus Sursee, weiss Rezepte gegen angespannte Adventstage. Das hat auch mit Ladenöffnungszeiten zu tun.

zentralplus: Ivo Muri, wann haben Sie Stress, immerhin eine der häufigsten Klagen der Menschen unserer Gesellschaft?

Ivo Muri: Stress ist ein Phänomen, dem wir alle ausgeliefert sind. Es bedeutet, dass man mehr erledigen müsste, als die eigene Lebenskraft zulässt. Ich persönlich habe keine Situation, die mich speziell stresst. Ich bin aber wie jeder Mensch auch ein Teil des globalisierten, wirtschaftlichen Hamsterrades und kann mein Leben nicht stressfrei gestalten. Leider.

zentralplus: Wie kamen Sie vom Stress weg?

Muri: Ich setze mich beruflich für eine Gesellschaft ein, die aktiv an den Ursachen arbeitet, wenn zunehmend mehr Menschen dem permanenten Druck nicht mehr gewachsen sind und Zeitprobleme beklagen. Unsere Gesellschaft darf nicht stur an ihren Ideologien – «Mehr um jeden Preis, immer schneller, immer günstiger» – festhalten, nur weil diese einmal modern waren.

zentralplus: Sondern?

Muri: Es geht vielmehr darum, dass wir die kollektiven Ursachen der Zeitprobleme ermitteln, statt jeden Menschen als Individuum für den Umgang mit Zeit verantwortlich zu machen.

Uhr und Text: Ivo Muri kennt auch Zeitdruck, wenn es darum geht, Vorträge zu halten.

Uhr und Text: Ivo Muri kennt auch Zeitdruck, wenn es darum geht, Vorträge zu halten.

(Bild: hae)

zentralplus: Besonders heftig ist für viele der Weihnachtsstress. Weshalb denn, die Adventszeit soll doch eine besinnliche sein?

Muri: Ja – schön, wenn es denn so wäre. Aber gerade diese Zeit der Besinnung ist in der Adventszeit kaum mehr möglich.

«Eine Gesellschaft, die keine Zeit hat, lebt nicht.»

Ivo Muri, Zeitphilosoph

zentralplus: «Stille kracht» statt «Stille Nacht»: Viele leiden unter Jahresabschlüssen, Geschenke-Einkaufshektik, hohen familiären Erwartungen und neuen Zielen. Anscheinend hat niemand Zeit.

Muri: Genau. Obwohl es durchaus Sinn machte, dass wir uns besinnen. Und dass wir einmal konkret nachfragen, warum vielen von uns die Zeit fehlt – und damit das Leben.

zentralplus: Einer Ihrer Kernsätze lautet: «Eine Gesellschaft, die keine Zeit hat, lebt nicht.» Das ist doch widersprüchlich, man lebt doch in der Zeit?

Muri: Ja  – wir leben mit Kalendern und Uhren, ausserdem im Rhythmus mit den Planetenbewegungen und im Rhythmus des Mondes. Das ist jedoch nur eine Art von Zeit. Es gibt aber auch die Zeit des Lebens – eben unsere Lebensenergie. Wer sagt, er habe keine Zeit, der meint heute: Er habe zu wenig Planetenbewegung, also zu wenig Minuten, Stunden oder Tage. Das stimmt jedoch nicht. Diese Zeiteinheiten sind immer da, gelten für alle im gleichen Masse. Die Planeten bewegen sich immer – mit oder ohne uns Menschen. 

«Statt mit dem Sankt Nikolaus sollten wir mal ein ernsthaftes Gespräch mit ‹Herrn Markt› und ‹Frau Wirtschaft› führen.»

zentralplus: Was ist dann das Problem?

Muri: Was jemand sagen will, der keine Zeit hat, ist: dass er seine Lebenszeit oder seine Lebensenergie für etwas anderes einsetzen will oder muss. Wenn jedoch eine ganze Gesellschaft keine Zeit hat, bedeutet dies, dass viele Menschen ihre Lebensenergie und damit ihre Lebenszeit nicht so verwenden können, wie sie eigentlich wollten oder müssten. Eine solche Gesellschaft ist definitiv keine liberale oder freie Gesellschaft.

zentralplus: Was können wir dagegen tun?

Muri: Statt mit dem Sankt Nikolaus sollten wir mal ein ernsthaftes Gespräch mit «Herrn Markt» und «Frau Wirtschaft» führen. Der Stress in der Weihnachtszeit ist doch dem Umstand zu «verdanken», dass wir um der Wirtschaft willen noch mehr konsumieren müssen, damit diese bei noch längeren Ladenöffnungszeiten noch schneller wächst.

zentralplus: Aha, da haben wir den Sündbock: Ladenbesitzer.

Muri: Hiermit mache ich mich unbeliebt: Kürzere Ladenöffnungszeiten könnten das gemeinsame Fest für viele Familien zusätzlich erleichtern, ohne Schaden für die Läden.

zentralplus: Wie kann man die Festtage dennoch in Ruhe überstehen?

Muri: Ich persönlich finde, dass die Festtage, also 24. bis 26. Dezember, ruhiger sind als die Vorweihnachtszeit. Denn in diesen Tagen haben die Menschen mehr Zeit für Besinnung als in der Adventszeit. Wer intakte Familienstrukturen hat und wem Begegnungen mit seinem engsten Kreis wichtig sind, der nimmt sich gerne bewusst Zeit für das Feiern und wird die Festtage geniessen.

Zeitforscher aus Sursee

Ivo Muri (59) bildete sich nach der Lehre als Maschinenzeichner und einigen Jahren Berufserfahrung an der HWV (heute Hochschule Luzern – Wirtschaft) zum Betriebsökonomen aus. Als Ergänzung absolvierte er den Master of Advanced Studies an der ZFH in Human Resources Management. 

Im Jahr 1994 gründete er ein IT-Unternehmen im Bereich der Zeitwirtschaft. Als er feststellte, dass die Menschen in den Unternehmen zunehmend Zeitprobleme beklagten, die man mit Software alleine nicht lösen kann, begann er sich ab 2002 intensiv mit der Zeitforschung zu befassen. Er hat seine Zeit AG verkauft und gründete 2018 sein Institut «Nomos der Zeit». Muri gibt Kurse, Seminare, Beratungen und veröffentlicht Publikationen; er bietet öffentlichen und privaten Institutionen und Personen Lösungsansätze zu Fragestellungen rund ums Thema Zeit.

zentralplus: «Zeit ist Geld» heisst es: traurig, oder?

Muri: Traurig ist nur, dass sich bisher niemand wirklich überlegt hat, warum das so ist. Und vor allem: ob dies so sein muss.

zentralplus: Muss es also nicht?

Muri: Nein, es muss nicht so sein. Wir Menschen können frei entscheiden. Entscheiden wir uns, dass es so sein soll, dann müssen wir gut überlegen, mit welchen Massnahmen wir die Sozialprobleme und Gesundheitsprobleme, die aus der Verbindung von Zeit und Geld entstehen, konfliktarm lösen.

zentralplus: Wieso nur rechnen wir alles in Geld um?

Muri: Geld ist wie die Uhrzeit, das Kilogramm, der Liter und der Meter: ein Tauschmass. Das Spezielle am Geld ist, dass es den Tausch vereinfacht. Alle Güter – also auch die Stunden – können umgerechnet über das Geld einfacher getauscht werden. Anzahl Kilogramm Äpfel, Anzahl Liter Milch und Anzahl Stunden Arbeit können über Geld bewertet und getauscht werden.

Falsches Leben: Der Dalai Lama hat das Rezept für die wahren Dinge.

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(Bild: Screenshot Facebook )

zentralplus: Das Geld führt viele von uns zum falschen Leben, sagt der Dalai Lama. Ihre Meinung?

Muri: Das Leben, die Gegenwart, die Zukunft und das Sterben sind gebunden an die Naturgesetze der Zeit. Wenn wir auch das Geld nach den Naturgesetzen der Zeit organisieren, dann werden die Menschen wieder zurückfinden zum Leben in der Gegenwart. Wenn sie sterben, blicken die Menschen dann zurück auf freudvolle und erfüllende Begegnungen mit Menschen, Tieren und Pflanzen. Das gibt ihnen das tiefe Gefühl, ein erfülltes Leben gelebt zu haben: bei bester Gesundheit.

zentralplus: Zeit wird auch in Freundschaften zum Investment: Der US-Forscher Jeffrey Hall hat unlängst vorgerechnet, dass ein echter Freund rund 200 Stunden «kostet». Wie geht das?

«Für Begegnungen sind die Weihnachtstage eine ideale Zeit.»

Muri: Er hat erkannt, dass eine echte Freundschaft nicht ohne regelmässige Begegnungen möglich ist – oder, dass sogar nur dann eine Freundschaft möglich ist, wenn man sich regelmässig begegnet und austauscht. Und dies gibt Bindung – nicht die Uhrenzeit. Freundschaft ohne Begegnungen geht nicht. Und für Begegnungen sind die Weihnachtstage eine ideale Zeit.

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