Sozialer Brennpunkt am Luzerner Kasernenplatz

«Man hat von oben auch schon Wasser ausgeschüttet, um uns zu vertreiben»

Christian Zgraggen (56) und Hans-Rudolf «Hänsu» Steiner (rechts, 58): beste Kumpels, die sich auch mal gegenseitig die Tränen aus dem Gesicht wischen.

(Bild: ida)

Wen es an den Markt beim Luzerner Kasernenplatz zieht, der kommt an ihnen nicht vorbei: Je nach Tag tummeln sich eine Handvoll bis zu einem Dutzend Randständige an besagtem Ort. Sie sitzen da und trinken Büchsenbier. Doch: Was treibt sie alle dahin?

«Das ist nichts anderes als ein Ausdruck eines sozialen Umfelds, das sich unter Seinesgleichen wohlfühlt», sagt Fritz (50), während er über seine Gruppe blickt. Rund zehn Leute versammeln sich an diesem Mittwochnachmittag beim Markt am Luzerner Kasernenplatz in der Nähe der Coop-Filiale.

An schönen Sommertagen befinden sich mehr als ein Dutzend «Randständige» an besagtem Ort. Das ist kein Zufall: Gerade ums Eck befindet sich die Drogenabgabestelle «Drop-in». Und weitere Einrichtungen wie die «Schliifi» (Notfallstelle) und die «Wärchstatt» des Vereins Jobdach.

Viele gehen mittags in den «Klub» – wie Fritz die Abgabestelle nennt. «Randständige», Schwerstabhängige oder Menschen, die schlichtweg den Anschluss an die Gesellschaft verloren haben und darum bemüht sind, diesen wieder zu finden. Fritz selbst hing 20 Jahre lang an der Nadel – abhängig von Heroin und Kokain. Der Liebe wegen habe er sein Leben umkrempeln wollen. Nun befindet er sich in einem Methadonprogramm und ist für die Stadtführungen «Abseits Luzern» tätig (zentralplus berichtete).

Unter Gleichgesinnten

Fritz erklärt, dass an diesem Ort schon viele gute Dinge zustande gekommen seien. Man höre einander zu, spreche sich gegenseitig Mut zu. Verliere jemand sein Dach über dem Kopf, helfe man.

«Wir wollen diesen Ort wahren. Und dafür schauen, dass er nicht zu einer offenen Drogenszene verkommt.»

Fritz

Manchmal kämen Leute vorbei, um ihre Drogen zu verticken. Dies seien nicht Angehörige ihrer Szene. Einige von ihnen zeigen dann auch, dass Dealer bei ihnen unerwünscht seien. «Wir wollen diesen Ort wahren», so Fritz. «Und dafür schauen, dass er nicht zu einer offenen Drogenszene verkommt.»

Christian Zgraggen und Hans-Rudolf Steiner sitzen – mit ein paar Dosenbier und Zigaretten ausgestattet – auf einer Bank. «Ansonsten werden wir überall vertrieben. Wir sind nirgends erwünscht – wir sind sogenannte ‹Randständige›», sagt Zgraggen. «Eigentlich sind wir doch genauso Menschen.»

«Wir sind eben anständige Randständige», fügt sein Kumpel Hans-Rudolf Steiner (58) an. Er lächelt.

Die tättowierte Maus von «Hänsu» erinnert ihn an eine frühere Freundin, die an einer Überdosis gestorben ist.

Die tätowierte Maus von «Hänsu» erinnert ihn an eine frühere Freundin, die an einer Überdosis gestorben ist.

(Bild: ida)

Kunden der Coop-Filiale

«Die Polizei darf uns hier nicht wegjagen», sagt Christian Zgraggen (56), der kürzlich einen Methadonentzug in St. Urban gemacht hat. Der Platz, auf dem sie sich aufhalten, ist privat und gehört der Immobilienverwaltung «Wincasa». Regelmässig käme die Quartierpolizei vorbei, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Mit ihr pflegen sie ein loyales Verhältnis. Zgraggen sagt, er sei momentan clean. Doch er habe Angst, wieder rückfällig zu werden. Probleme mit einer Luzerner Behörde machen ihm derzeit zu schaffen.

In der Vergangenheit sei es immer wieder zu Schwierigkeiten mit der Coop-Filiale gekommen. «Viele unserer Leute gingen stehlen, um sich so über Wasser zu halten», sagt Fritz. Dementsprechend habe man auch eine gewisse Ablehnung gespürt, die sich mittlerweile jedoch gelegt habe.

«Anwohner haben auch schon Wasser vom zweiten Stock geleert, um uns zu vertreiben.»

Fritz

«Man kennt sie und nimmt sie auch wahr», sagt Markus Eugster, Leiter Kommunikation der Coop-Verkaufsregionen Nordwestschweiz-Zentralschweiz-Zürich. Er sagt, dass die Gruppe grundsätzlich friedlich sei. Die Beobachtung, dass es vermehrt zu Diebstählen in jener Filiale gekommen sei, könne er nicht bestätigen.

Grössere Zwischenfälle explizit mit dieser Gruppe seien ihm keine bekannt. «Es gab vereinzelt Situationen, dass jemand zu laut gesprochen hat oder unanständig im Ton wurde.» Bei solchen Vorkommnissen suche man jeweils das Gespräch, was grundsätzlich gut funktioniere.

«Schliesslich sind sie auch unsere Kunden», sagt Eugster. Beschwerden von anderen Kunden seien keine eingegangen.

Fritz (50) hält sich regelmässig an besagtem Brennpunkt auf.

Fritz (50) hält sich regelmässig an besagtem Brennpunkt auf.

(Bild: ida)

Schräge Blicke und soziale Gesten

Passanten würden unterschiedlich reagieren. Es gebe diejenigen, die sich vehement gegen den Standort der Gruppe wehren würden. «Anwohner haben auch schon Wasser vom zweiten Stock geleert, um uns zu vertreiben», sagt Fritz.

Manchmal arte es schon aus. Es werde viel getrunken. «Mit dem Alkohol fallen die Hemmungen – Diskussionen können eskalieren, sodass es zu einem einzigen Geschrei kommt.»

Aber es gebe auch schöne Momente. Letztens sei ein Typ vorbeigekommen, der zwei ungebrauchte und neue Schuhe in den Händen hielt. «Er rief in die Runde ‹Grösse 41 – wer will?›», erzählt Fritz. Eine schöne Geste. Schön sei auch, wenn Leute vorbeikommen und ihnen ein Sixpack Bier offerieren würden.

Doch auch die schrägen Blicke fehlen nicht. Das stetige Gefühl, unerwünscht zu sein. Nicht selten bekämen sie zu spüren, dass sie ein «Schandfleck» in der Gesellschaft seien.

Mal auf ein Bier vorbei?

«Das Leben ist kein Ponyhof und kein Wunschkonzert», sagt Fritz. Doch er wünsche sich mehr Akzeptanz und Offenheit innerhalb der Gesellschaft. «Ich möchte gerne akzeptiert werden», sagt er. Und wenn jemand vorbeikomme, ihm ein Bier offeriere und eins mittrinke, sei dies bestimmt nicht verkehrt.

Gleichgesinnte, die sich treffen und einander zuhören.

Gleichgesinnte, die sich treffen und einander zuhören.

(Bild: ida)

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