Wie ein Jugendlicher von Syrien nach Luzern kam

Flüchtling: «Dass sie auf uns schossen, rettete uns wohl das Leben»

Ibrahim N. blickt heute wieder mit Freude in die Zukunft.

(Bild: ens)

Auf der Flucht aus Syrien wurden beide Elternteile von Ibrahim N. schwer verletzt und sein Nachbar mit einem Kopfschuss niedergestreckt. Der 25-jährige Syrer erzählt seine Geschichte und davon, wie es ihm heute in Luzern geht. 

Ibrahims Blick schweift in die Ferne, hinüber zu den Schweizer Bergen. Er ist Syrer mit kurdischen Wurzeln. Aber er ist vor allem eins: ein Kriegsflüchtling.

Der 25-Jährige erinnert sich daran, als er das erste Mal Schweizer Boden unter den Füssen spürte: «Das war am 16. Dezember 2013.» Der Tag markiert bis heute einen Wendepunkt in Ibrahims Leben. Aufgewachsen ist er in Al-Malikiya, einem syrischen Dorf, von der Grösse her vergleichbar mit dem luzernischen Kriens.

Weil es in dem Dorf wenig Arbeit gab, siedelte die Familie in die syrische Hauptstadt Damaskus um. Der Vater eröffnete einen Computerladen und versuchte, die junge Familie über Wasser zu halten. Bis der Krieg im Jahr 2011 ausbrach. «Die Strassen wurden zerstört – Menschen überfallen. Ständig hörte man Schreie.» Die Polizei zog willkürlich Männer ein – darunter auch Ibrahims Vater. 

Sie verstehen nur die Sprache «Gewalt»

Die Zustände während des Kriegs waren prekär. «Einmal gab es über eine Woche keinen Strom. Mehrere Male wären wir fast verhungert, mussten uns vier Tage lang von Kartoffeln ernähren.» Das Schlimmste aber war, dass der Vater eines Abends nach der Arbeit nicht nach Hause kam und niemand wusste, wo er war. Als ältester Sohn war es Ibrahims Pflicht, auf dem Polizeiposten vorbeizugehen und nach ihm zu fragen – dafür erhielt er Prügel. «Ich konnte von Glück reden, dass sie mich nicht ins Gefängnis steckten.»

Eines Tages – ohne Voransage – stand die syrische Polizei in der Wohnung der Familie. «Meine Mutter und ich wurden mit einem Knüppel zu Boden getreten. Dann drohten sie meiner Mutter, mich mitzunehmen.» Die Worte werden leiser, schwerer. Bis sie Ibrahim im Mund stecken bleiben. Er wischt sich die Tränen aus den Augen. Ibrahim wurde nur deshalb verschont, weil seine Mutter Gold für die Begnadigung ihres Sohnes bezahlte.

«Wir wussten: Entweder wir gehen und vielleicht sterben wir, oder wir bleiben und sterben sowieso.»

Ibrahim, Flüchtling aus Syrien

«Als unser Vater nach Hause kam, erkannten wir ihn nicht wieder.» Sechs Monate hielt man den Vater grundlos in einem Verlies fest, setzte ihn auf die syrische «Black List». Bei der Freilassung säumte ein Bart sein Gesicht, der Körper war eingefallen. Die Heimkehr des Vaters stand am Startpunkt der Flucht aus Syrien. Man ging einen Deal mit dem Nachbarn ein. Dieser besorgte einen Kleinbus und legte das Geld für die Flucht zusammen.

Blut, so weit das Auge reicht

Mit dem Kleinbus machte sich die Kleingruppe auf den Weg nach Al-Malikiya, um von dort in die Türkei zu flüchten. «Wir wussten: Entweder wir gehen und vielleicht sterben wir, oder wir bleiben und sterben sowieso.» Alle paar Kilometer standen Soldaten, die Kontrollen durchführten. So auch in Homos. Glücklicherweise hatte ein Freund von Ibrahims Vater genügend Geld dabei, um für die Durchreise zu bezahlen. «Wir wussten, wenn wir erwischt werden, sind wir tot.»

«Überall war Blut. Alle haben geschrien. Eine Kugel hatte den Freund meines Vaters am Kopf erwischt.»

Ibrahim, Flüchtling aus Syrien

Der Kleinbus fuhr weiter, als es hinter Ibrahim mehrfach knallte. «Überall war Blut. Alle haben geschrien. Eine Kugel hatte den Freund meines Vaters am Kopf erwischt.» Auch seine Eltern hatten weniger Glück. Eine Kugel traf den Vater im Knie, drei Kugeln durchbohrten die Schulter der Mutter – die Wunden sind bis heute geblieben. Trotz Knieschuss fuhr der Vater unter Höllenqualen weiter und dieses Mal hatten die Soldaten Erbarmen. «Bei dem ganzen Blut, dachten sie, sterben wir sowieso. Dass sie auf uns schossen, rettete uns rückblickend vermutlich das Leben.» 

Schwer verwundet kamen sie in Al-Raka an, das heute in den Händen des Islamischen Staates ist. Dort liessen sie sich im Spital behandeln und fuhren weiter nach Al-Malikiya. In Ibrahims Heimatdorf warteten sie auf die Visa-Bestätigung der Schwester, die mit ihrem Freund in der Schweiz lebte. Aufgrund des Krieges gab es keine Flüge von Syrien in die Schweiz. Ohne vollständig genesen zu sein, reiste die Familie über Flüsse und Berge weiter in Richtung Istanbul.

Bangen an der türkischen Grenze

An der türkischen Grenze angekommen, wurde sie von türkischen Soldaten ins Spital gebracht. Weil aber nur die schwer verletzte Mutter Kurdisch sprach und von den Ärzten behandelt wurde, war die Kommunikation mit den Behörden schwer. Mit Hilfe von Händen, Füssen und einem Dolmetscher erklärte man der Familie, dass sie sich nach türkischem Gesetz mit einem Familienbuch identifizieren müssten. Und dieses lag irgendwo in Al-Malikiya in der Schublade.

Fast drei Monate dauerte es, um alle nötigen Papiere zu besorgen und von der Türkei in die Schweiz zu fliegen. Das Familienbüchlein brachte eine weitere Flüchtlingsgruppe mit. Am 16. Dezember 2013 betritt die Familie Schweizer Boden. «Plötzlich war ich in Sicherheit. Es gab keine Überfälle, keine Bomben, keine Toten, kein Blut. Das war das Wichtigste.»

Sprache integriert

Insgesamt gab es drei Stationen in der Schweiz: Bellinzona, Pfäffikon und Rothenburg. Dort ist die Familie heute zu Hause. Obwohl sie sich in Sicherheit fühlten, der Kampf ging in der Schweiz weiter. Ibrahim hatte vor allem am Anfang Schwierigkeiten mit den Menschen und Traditionen, weil er sie nicht verstand. «Als Flüchtling kennst du niemanden.» Der Austausch mit anderen Menschen war schwierig. In einer Deutschschule für Flüchtlinge büffelte Ibrahim in den folgenden Monaten Deutsch. «Die Sprache hat mich in der Gesellschaft integriert.»

«Obwohl ich wusste, dass ich komisch spreche, geschämt habe ich mich nie dafür.»

Ibrahim, Flüchtling aus Syrien

Über einen Freund fand Ibrahim einen Job in einer Shishabar in Luzern. Dort kam er mit vielen Fussballern in Kontakt. Die Freundschaften sind bis heute geblieben. «Obwohl ich wusste, dass ich komisch spreche, geschämt habe ich mich nie dafür.» Geholfen haben Ibrahim lange Gespräche mit Freunden, und wenn er einmal etwas falsch ausgesprochen und die anderen gelacht haben, stimmte er in ihr Lachen mit ein.

Heute kann Ibrahim wieder an die Zukunft denken. Sein Ziel ist es, einst wie sein Vater einen Computerladen zu führen und selbstständig zu sein. «Ich möchte ohne Sozialhilfe auskommen und zu mir selber schauen.» Trotz traumatisierenden Erlebnissen in Syrien hat er seine Lebensfreude behalten. Und moniert zugleich: «Manchmal versinke ich in Tagträumereien – Erinnerungen und Bilder an den Krieg kommen hoch. Ich versuche mich dann zu ermahnen und abzulenken.»

Bei seiner Schwester gestaltet sich dies allerdings schwieriger. «Als 10-jähriges Mädchen musste sie Schreckliches sehen.» Heute erhält sie psychologische Hilfe, um die Ereignisse verarbeiten zu können. 

Fachpsychologin Silvia Zanotta zu traumatisierten Flüchtlingen

Silvia Zanotta ist Mitgründerin von Ego-State-Therapie Schweiz und unterstützt traumatisierte und verunsicherte Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Alltag. Im Rahmen eines Fachvortrages des IHP Luzern – Institut für Heilpädagogik und Psychotherapie haben wir Zanotta zu traumatisierten Flüchtlingen befragt.

zentralplus: Wie zeigt sich ein Trauma?

Silvia Zanotta: Trauma gehört zum menschlichen Leben. Wir alle erleben Traumata. Je schlimmer diese sind, je massiver die Lebensbedrohung war und je ohnmächtiger sich ein Individuum erlebt hat, desto eher wird dieser Zustand – um überleben zu können und um angesichts der fürchterlichen Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit nicht durchzudrehen – vom Organismus automatisch abgespalten und ins Unterbewusstsein verdrängt. Dadurch verschwindet aber dieser Zustand nicht, sondern er bleibt sozusagen in der Vergangenheit «eingefroren», abgekapselt. Wenn sich ein Mensch in einer ähnlichen Situation befindet wie zur Zeit des traumatischen Schocks , bricht diese Kapsel auf, kommt an die Oberfläche und überflutet ihn. Er fühlt die gleiche existenzielle Hilflosigkeit wie damals. Es ist, als würde das Trauma erneut geschehen. Darum ist es so wichtig, diese abgespaltenen Anteile in die Gegenwart zu holen, ihnen verständlich zu machen, dass es vorbei ist.

zentralplus: Gibt es eine spezielle Therapie, die traumatisierte Flüchtlinge heilt? 

Zanotta: Mit Hilfe der Ego-State-Therapie versuchen wir, die verletzten Persönlichkeitsanteile in die Gegenwart zu holen, indem wir ihnen nicht nur klar machen, dass sie jetzt in Sicherheit sind, sondern ihnen auch korrigierende Erfahrungen ermöglichen, d.h. ihnen das geben, was sie damals gebraucht hätten, nämlich Sicherheit und Schutz. Das wichtigste in der Traumatherapie ist aber die Ressourcenarbeit, das heisst diese verletzten Menschen wieder mit ihren Stärken zu verbinden. Jeder Mensch besitzt solche Ressourcen. Momente, in denen man sich gut und stark fühlt. Das kann bei einem Kind beispielsweise das Fussballspielen sein.  

zentralplus: Welche Rolle spielen Bezugspersonen wie Dolmetscher?

Zanotta: Eine sehr zentrale. Wenn möglich, sollen Dolmetscher vor allem am Anfang die Beratungen begleiten, so dass Missverständnisse möglichst aus dem Weg geräumt werden. Noch wichtiger ist aber, dass die Geflüchteten die Sprache des Aufnahmelandes lernen, damit sie aus der Abhängigkeit herauskommen und autonomer werden. Denn für einen Menschen, der Ohnmacht erlebt hat, ist nichts wichtiger, als dass er Kontrolle hat.

zentralplus: Viele können am Anfang nicht über das Erlebte sprechen. Was tut man dann?

Zanotta: Manchmal ist es gar nicht notwendig, über das Erlebte zu sprechen, weil das Sprechen darüber retraumatisierend sein kann. Wenn man beispielsweise als Sechsjährige misshandelt wurde und man mit 20 Jahren darüber sprechen muss, kann dies ganz schreckliche Gefühle von damals hochspülen, so dass man die Kontrolle verliert.

zentralplus: Welche Rolle übernimmt die Sprache für den Integrationsprozess?

Zanotta: Je jünger der Mensch, desto einfacher lernt er die Sprache. Den Eltern lege ich jeweils ans Herz, dass sie die Sprache auch lernen. Je besser sie die Sprache des Aufnahmelandes beherrschen, desto autonomer können sie funktionieren und desto eher können sie ihre Kinder unterstützen. Es ist sicher nicht ideal, wenn Kinder immer für die Eltern übersetzen müssen. Das kommt einer Rollenumkehr gleich.

zentralplus: Ab wann kann man von Heilung sprechen?

Zanotta: Die Heilung hängt davon ab, wie widerstandsfähig jemand ist. Also wie viele Ressourcen jemand besitzt. Bei komplexen Traumata und wenig vorhandener Resilienz (Widerstandsfähigkeit) kann es manchmal nicht zu einer vollständigen Heilung kommen. Trotzdem können auch diese Menschen lernen, sich selber zu beruhigen und stabiler zu werden. Narben bleiben immer zurück. Andererseits gehen Menschen auch gestärkt aus solchen lebensbedrohlichen Situationen hervor. Deshalb ist der Fokus auf Ressourcen und Stärken so wichtig. Jeder Mensch hat Ressourcen, auch wenn sie nicht immer offensichtlich sind.

 

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1 Kommentar
  • Profilfoto von zombie1969
    zombie1969, 11.06.2018, 18:39 Uhr

    Die Frage, die man mal stellen sollte: Was führt all diese jungen angeblichen «Flüchtlinge» nach Europa? Was führt streng religiöse Menschen nach Europa? KSA, Kuwait oder die Emirate schwimmen im Geld. Sie holen sich aber ihre Arbeiter scheinbar lieber aus Süd- und Südostasien. Warum nicht diese jungen, in ihren Ländern chancenlose Glaubensbrüder? Kein Kulturschock, keine Sprachbarrieren usw.
    Europa ist nicht in der Pflicht eine derartige Einwanderung zuzulassen, die den Europäern mehr schadet als nützt.

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