Baarer Transfrau outet sich mit 68 Jahren

Andrea Dahinden: Als «Turi» geboren, nun Frau

Andrea Dahinden führte während Jahrzehnten ein Doppelleben. Nun jedoch weiss ihr Umfeld, dass sich Turi ein Leben als Frau wünscht.

(Bild: wia)

Andrea Dahinden hatte kein leichtes Leben. Die 68-Jährige wurde als Mann geboren und lebte bis vor kurzem ein verborgenes zweites Leben als Frau. Und dies blieb nicht das einzige schwerwiegende Geheimnis, welches Dahinden über fast 50 Jahre auf sich trug.

«Jetzt habe ich keine Geheimnisse mehr», sagt Andrea Dahinden. Und wenn sie das sagt, dann heisst das etwas. Denn über 40 Jahre lang führte die Baarerin ein Doppelleben. Da war ein offizielles Leben als Turi. Fahrradmechaniker, Ehemann und Velosportler. Und ein inoffizielles als Andrea, die Frau, die ihre Weiblichkeit nur im Verborgenen leben durfte. Und das tat sie so geschickt, dass es nicht einmal die eigene Ehefrau merkte.

Nun aber ist es raus. Vor wenigen Wochen outete sich Andrea, mittlerweile fast 69 Jahre alt, vor Kindern und Gattin. Schon seit längerem wussten ihre Geschwister darüber Bescheid, dass ihr Bruder sich vielmehr als Schwester sieht. Damit das Schicksal diese Wendung nahm, brauchte es jedoch viel. Und beinah wäre Andrea an ihren Geheimnissen zerbrochen.

Frauenkleider haben grosse Bedeutung

Spulen wir in der Geschichte zurück. Turi Dahinden wird 1949 geboren. Schon früh merkt er, dass er eigentlich viel lieber mit Puppen spielt und gern auch mal die Kleider seiner Schwestern trägt, wenn diese nicht zuhause sind. Einfach, weil er sich darin viel wohler fühlt als in seinen eigenen Kleidern.

Als Jugendlicher macht Turi eine Lehre als Velomechaniker. Gleichzeitig beginnt er, Leistungssport zu treiben, fährt Rennen und gewinnt auch nicht selten. «Ich war ein richtiger Spränzel. 1.62 Meter gross und 52 Kilo schwer. Besonders beim Bergrennen war ich gut», sagt Dahinden heute.

Turi Dahinden bei einem Velorennen.

Turi Dahinden bei einem Velorennen.

(Bild: zVg)

Doch bereit in dieser Zeit hat Turi Geheimnisse. Schleicht sich etwa immer wieder in den Keller des Veloladens, wo die 14-jährige Tochter des Geschäftsführers ihre Wäsche aufhängt. «Und so bediente ich mich an ihrer frischgewaschenen Unterwäsche und an den Strümpfen, trug diese und hängte sie danach wieder auf», sagt Dahinden.

Der Alkohol wird zum Problem

Und bereits damals begann der Alkohol zum Problem zu werden. «Ich bin auf einem Bauerndorf aufgewachsen, war also stets umgeben von Schnaps und saurem Most», sagt Andrea Dahinden. Während der Zeit als Leistungssportler hat Turi den Alkohol einigermassen im Griff. «Erst nachher, als ich am Wochenende keine Wettkämpfe mehr zu bestreiten hatte, wurde es schlimm.»

1967 gewann Turi Dahinden das «Pays de Vaud»-Juniorenrennen.

1967 gewann Turi Dahinden das «Pays de Vaud»-Juniorenrennen.

(Bild: zVg)

Seine weibliche Identität und der übermässige Alkoholkonsum sind jedoch nicht die einzigen Geheimnisse, die Turi seit seiner Jugend auf sich trägt. Als 17-Jähriger wird Turi von einem Mitarbeiter vergewaltigt, nachdem dieser den Jungen zum Essen und später zu sich einlädt. Das traumatische Erlebnis behält Dahinden während fast 50 Jahren für sich. Der Wunsch, Frau zu sein, wird durch den Vorfall noch verstärkt.

«Gerade weil ich häufig unter Alkoholeinfluss stand, brauchte es sehr viel Organisationstalent, um mich nicht selber zu verraten.»

Andrea Dahinden

In seinen Zwanzigern heiratet Turi und hat mit seiner Ehefrau zwei Söhne. Viele Jahre vergehen, in denen Dahinden zwei Leben führt. Werktags ruft die Arbeit als Velomechaniker. Damit niemand von seinem Alkoholismus erfährt, trinkt er etwa Wein aus Colaflaschen. Am Wochenende zieht er sich ins Gartenhaus zurück. Es sind die einzigen Momente, in denen Turi ganz Frau, und damit ganz glücklich sein darf. In denen Frauenkleider und Schminke eine ganze Identität schaffen.

«Mein Bruder sagte mir bereits als Kind, dass ich ein Schlitzohr sei. Tatsächlich hatte ich viele Tricks auf Lager, damit meine Geheimnisse nicht öffentlich wurden. Doch gerade weil ich häufig unter Alkoholeinfluss stand, brauchte es sehr viel Organisationstalent, um mich nicht selber zu verraten», sagt Dahinden über diese Zeit.

Ein gescheiterter Suizidversuch

Kurz nach seinem 60. Geburtstag erleidet Dahinden einen Herzinfarkt und muss operiert werden. Ein paar Jahre später folgt eine weitere Herzoperation. Im Herbst 2014 ist Turi derart verzweifelt, dass der Baarer seinem Leben ein Ende setzen will. Er verschanzt sich während vier Tagen im Gartenhaus. Der Plan: «Ich wollte mich zu Tode trinken. Irgendwann während meines Alkoholexzesses rief ich jedoch einen Kollegen aus dem Veloclub an, der dann blitzschnell die Ambulanz alarmierte.»

Diese findet Turi nur mit Glück. Einige Tage später erwacht er im Spital. «Die Ärzte erzählten mir, dass ich drei Promille Alkohol im Blut hatte, ausserdem hatte ich 40 Grad Fieber sowie eine Blasenentzündung. «Erst im Spital wurde mir wirklich bewusst, dass ich Alkoholiker war. Dies, nachdem mir gesagt worden war, dass ich im Delirium versucht hätte, aus dem Bett zu steigen und mir alle Schläuche abzureissen», so Dahinden.

Eine Spitalangestellte, die Dahinden vom Veloclub kennt, versucht ihm klar zu machen, dass ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik wichtig sei. Er wehrt sich erst vehement und lässt sich erst nach langen Gesprächen auf eine Überweisung ein.

«Mittlerweile arbeite ich auch häufiger mit Handschuhen», sagt Dahinden. So muss sie den Nagellack nicht immer entfernen.

«Mittlerweile arbeite ich auch häufiger mit Handschuhen», sagt Dahinden. So muss sie den Nagellack nicht immer entfernen.

(Bild: wia)

Die Geheimnisse beginnen sich aufzulösen

Davor jedoch packt er noch die Gelegenheit, zurück zu kehren ins Gartenhaus, wo er sich mit Damenkleider eindeckt für den Psychiatrieaufenthalt. Jede Nacht verwandelt sich Dahinden in eine Frau; trägt Nagellack und Make-up auf, zieht Damenwäsche und Strümpfe an. Denn nur so ist Turi glücklich. Eines Nachts schläft er ein, bevor er sich wieder umziehen kann. Die Nachtwache entdeckt ihn, wenig später kommt es zu einem Gespräch mit einer Psychologin. «Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich öffnen und über meine Vergewaltigung reden konnte», sagt sie.

«Meine Frau, mit der ich noch immer zusammenwohne, weiss erst seit wenigen Wochen Bescheid.»

Andrea Dahinden

Seit dem Oktober 2014 ist Andrea Dahinden nüchtern. «Dies vor allem durch die Hilfe meiner Psychologin und der Organisation Anonyme Alkoholiker», ist sie überzeugt. Seither hat sich der Drang, Frau zu sein noch zusätzlich verstärkt. «Und irgendwann vertraute ich mich meiner Schwester an. Ich fragte sie, ob es denn schlimm wäre, wenn sie statt eines Bruders noch eine Schwester mehr hätte. Und als sie verstand, dass ich es ernst meine, hat sie sehr gut reagiert», erklärt Dahinden.

Auch der Rest der Familie erfuhr bald über Andreas Wunsch, Frau zu sein. Und das ziemlich unverhofft. «Ich wollte eigentlich eine Nachricht an meine Schwester schicken, sandte sie jedoch aus versehen an den Familienchat.» So erfuhren alle Geschwister und deren Partner über Andreas Identität. «Und die haben das äusserst gut aufgefasst. Das war eine riesige Erleichterung.»

Auch im Geschäft weiss man heute Bescheid

Auch in der Velowerkstatt, in der Andrea noch immer arbeitet, outete sie sich vor einiger Zeit. «Und auch dort wurde die Nachricht gut aufgenommen. Auch wenn mein Chef möchte, dass ich weiterhin als Mann bei der Arbeit erscheine.» Sehr gerührt sei Dahinden gewesen, als sie erfuhr, dass zwei Mitarbeiter bereits von Andreas Doppelleben wussten: «Beide hatten mich beobachtet, als ich Frauenkleider trug. Keiner hat mich jedoch darauf angesprochen, und beide bewahrten Stillschweigen darüber. Diese Loyalität rührte mich sehr.»

Andrea Dahinden ist heute glücklich.

Andrea Dahinden ist heute glücklich.

(Bild: zVg)

Und obwohl Andrea seit eineinhalb Jahren weibliche Hormone nimmt, womit körperliche Veränderungen auftreten, blieb ihr Dasein als Frau ihrer nächsten Familie bis vor kurzem verborgen. «Meine Frau, mit der ich noch immer zusammenwohne, weiss erst seit wenigen Wochen Bescheid. Ich konnte meine Identität so lange verbergen, da wir keine enge Beziehung führe», sagt Andrea Dahinden. «Einmal hat sie meine Damenwäsche in einer Tasche gefunden. Ich erzählte ihr, dass ich die für einen Kollegen aufbewahre, dessen Frau nichts von seinen Neigungen erfahren dürfe. Das hat sie mir geglaubt.»

Zuhause Mann, draussen Frau

Die beiden Söhne hätten beim Outing sehr gut reagiert. «Einer hatte offenbar an Weihnachten bemerkt, dass ich dezent geschminkt war und war daher nicht sehr überrascht. Und auch der andere Sohn blieb sehr gelassen.» Und Andreas Ehefrau? «Nun ja. Die hat zuerst aufgeschrien, als ich mich das erste Mal in Frauenkleidern vor ihr präsentierte. Doch mittlerweile habe ich mit ihr klare Regelungen ausgemacht. Zuhause und in der näheren Umgebung muss ich Mann sein», sagt Dahinden. Überall sonst dürfe sie als Frau auftreten.

Die Einschränkungen machen ihr kaum etwas aus. «Endlich weiss mein Umfeld um meine Gefühlswelt. Endlich muss ich keine Geheimnisse mehr haben und darf sein, wer ich bin. Die Erleichterung für mich ist riesig.» Und die Frau, die nächstes Jahr 70 Jahre alt wird, ergänzt: «Ich hatte viel Glück in meinem Leben. Und wenn ich dieses Leben als Frau noch zehn Jahre leben darf, bin ich glücklich.» Dass sie sich am Bahnhof, bevor sie mit dem Bus nach hause fährt, umziehen und abschminken muss, tut ihrer Freude kaum Abbruch.

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