Kriens: Asylpolitik des Kantons in der Kritik

Wie es nach dem Aufstand im Asylzentrum Grosshof weitergeht

Silvia Bolliger, Leiterin Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen, im Interview.

(Bild: giw)

Nach den Ausschreitungen im Asylzentrum Grosshof in Kriens müssen sich die Behörden kritische Fragen gefallen lassen. Die Polizei und die Leiterin der Dienststelle Asyl sprechen von einem Ausnahmefall. Grundsätzliche Kritik an der Betreuung der Jugendlichen durch den Kanton äussert derweil Asylnetz. Die Politik setze auf Repression statt adäquate Betreuung.

Als Essen, Abfallsäcke und Mobiliar durch die Luft flogen, muss im Asylzentrum Grosshof helle Aufruhr geherrscht haben. Unbegleitete minderjährige Asylsuchende, sogenannte UMAs, probten den Aufstand. Daraufhin boten die Betreuer im Sinne der internen Vorgaben die Luzerner Polizei auf. Mehrere Polizeipatrouillen waren im Einsatz, um die Situation zu entschärfen.

Gleich zweimal kam es vergangene Woche zum Polizeiaufmarsch in Kriens. Einmal am Donnerstag- und anschliessend am Samstagabend. Da wurde die Polizei gar mit Steinen beworfen. Während zwei Stunden musste sie 20 der insgesamt 90 jugendlichen Bewohner unter Kontrolle bringen. Dabei setzte sie Pfefferspray gegen die aufgebrachten Bewohner ein, drei Jugendliche wurden in Gewahrsam genommen.

Drei Franken Sackgeld pro Tag

Doch wie und weshalb kam es überhaupt zur Eskalation? Im Asylzentrum Grosshof haben die Jugendlichen ein sehr knappes persönliches Budget. Und es wurde auf Anfang 2018 noch knapper. Grundsätzlich stehen per Gesetz allen Heimbewohnern Sozialhilfe in der Höhe von elf Franken pro Tag zur Verfügung.

Weil jedoch der Kanton die unbegleiteten Kinder und Jugendlichen im erst kürzlich eröffneten Durchgangszentrum bekocht, werden diese Leistungen vom Tagesbudget abgezogen. Wer unter 16 Jahre alt ist, erhält täglich noch drei Franken und Jugendliche über 16 Jahren noch sechs Franken für ihren persönlichen Bedarf. Zuvor hatten die Betroffenen noch mehr Spielraum – mussten aber selber für ihre Verpflegung sorgen.

Ein Zimmer im Asylzentrum Grosshof.

Ein Zimmer im Asylzentrum Grosshof.

(Bild: giw)

Mittagessen in der Grossküche

«Das ist für die Betroffenen eine recht einschneidende Veränderung», sagt Silvia Bolliger, Leiterin Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen des Kantons Luzern. Denn im Gegensatz zu den meisten anderen Jugendlichen in der Schweiz haben sie eben keine Eltern, Verwandten oder Gotten und Göttis, die ihnen einen Zustupf geben. Aber anders ginge es nicht, sagt Bolliger.

Oft hätten sich die Teenies falsch oder ungenügend verköstigt, um Geld für andere Ausgaben zu sparen. Was auch im Schulunterricht zu fehlender Aufmerksamkeit führte. Jetzt erhalten die unter 16-Jährigen dreimal täglich etwas zu essen, die älteren UMAs werden jeweils am Mittag von der Grossküche verpflegt.

Genügend Personal vorhanden?

Wie geht es nun weiter? «Die Lage hat sich beruhigt», sagt Bolliger. Vier Anführer der Proteste wurden laut Bolliger in anderen Zentren untergebracht. Zwischenzeitlich wurde die Präsenz der privaten Sicherheitskräfte vor Ort erhöht. Die Staatsanwaltschaft wird die Angriffe auf die Polizei und die Sachbeschädigungen untersuchen.

Ist man beim Kanton überfordert mit der Betreuung? Bolliger widerspricht. Das Mitarbeiterteam des Grosshofs besteht aktuell aus 26 Personen, die 18,5 Vollzeitstellen besetzen. «Das ist im Vergleich zu anderen Asylzentren ein hoher Anteil Mitarbeiter pro Heimbewohner», sagt Bolliger.

«Repression kann keine Lösung sein.»

Eliane Amstad, Vorstand Asylnetz Luzern

Zur Eskalation sei es gekommen, weil vergangene Woche die reduzierten Barauszahlungen vorgenommen wurden. Weitere Konflikte oder grössere Probleme sind ihr nicht bekannt. Dennoch werde man den Betrieb im Grosshof auch selbstkritisch hinterfragen. «Das Betreuungsteam wird in den anstehenden Sitzungen schauen, wie es den Jugendlichen noch gerechter werden kann.» Am neuen Sackgeldregime werde jedoch nicht gerüttelt.

Asylnetz fordert rücksichtsvolles Eingreifen

Grundsätzliche Überlegungen zu den Geschehnissen und über deren Berichterstattung macht sich Eliane Amstad, Vorstandsmitglied von Asylnetz Luzern. Der unabhängige Verein setzt sich seit den 1980er-Jahren in verschiedener Hinsicht für Asylsuchende und Menschen in der Nothilfe ein. Die Diskussion sollte sich laut Amstad im Moment nicht um die Ausschreitungen drehen, sondern vielmehr müssen die Ursachen des Konflikts im Fokus stehen. «Repression kann keine Lösung sein», moniert Amstad.

«Es ist nicht vertretbar, den Jugendlichen mehr finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, als die Sozialhilfe für sie vorsieht.»

Silvia Bolliger, Leiterin Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen

Sie selbst war nicht dabei, als die Polizei einschreiten musste am Wochenende, und steht mit den Jugendlichen auch nicht in Kontakt, äussert sich jedoch generell zur Situation in den Durchgangszentren. Amstad sagt, die Behörden sollten grundsätzlich nie zu stark reagieren. «Es handelt sich um Jugendliche und oft haben jugendliche Asylsuchende erschreckende Geschichten im Heimatland und auf der Flucht erlebt, die ein rücksichtsvolles Eingreifen verlangen.
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Nimmt der Kanton genügend Rücksicht auf Jugendliche?

Die neuen Regeln beim Sackgeld hätten grosse Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen. Die Kürzung des Sackgeldes sei problematisch für die jungen Menschen, die sich sowieso schon in einer unglaublich schwierigen Lebenssituation befänden.

So sei es beispielsweise schwierig, mit Angehörigen im Heimatland Kontakt halten zu können, wenn kein Geld vorhanden ist, um die Handyrechnung zu bezahlen. «Im strengen Regime eines Durchgangszentrums schaffe das Sackgeld ein klein wenig Freiheit. Dieses Stückchen Freiheit hat der Kanton Luzern den Jugendlichen nun beinahe komplett genommen», sagt Amstad.

Bolliger widerspricht – ihrer Meinung nach erhalten die Mineurs non accompagnés (MNA) ausreichend finanziellen Spielraum. Ihre Existenz sei mit den zugesprochenen Mitteln gesichert. Um mit Angehörigen Kontakt aufzunehmen, können die MNA Gratisdienste wie WhatsApp oder Skype nutzen. Dafür steht laut Bolliger im Grosshof ein Wlan-Netz zur Verfügung.

Die unbegleiteten Jugendlichen erhielten im Rahmen der wirtschaftlichen Sozialhilfe den Teil des Grundbedarfs als Sackgeld ausbezahlt, der für den persönlichen Bedarf wie Kleider, Schuhe, Coiffeur, Körperpflege, Hygiene und Hobbys bestimmt sei. «Es ist nicht vertretbar, den Jugendlichen mehr finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, als die Sozialhilfe für sie vorsieht», sagt Bolliger. 

«Dass es unter solchen Umständen vermehrt zu Konflikten kommt, ist nicht verwunderlich.»
Eliane Amstad, Vorstand Asylnetz Luzern

Den Konflikt einzig auf die Kürzung des Sackgeldes zurückzuführen, greift in den Augen von Eliane Amstad zu kurz. «Unzureichende Betreuungsstrukturen und fehlende Tages- und Freizeitstrukturen können weitere Gründe sein, die bei den Jugendlichen für Unmut und Verzweiflung sorgten», sagt das Vorstandsmitglied von Asylnetz.

Sie bezweifelt, dass der Kanton in seinen Durchgangszentren genügend Rücksicht nimmt auf die Bedürfnisse der Bewohner. Die Jugendlichen bräuchten unter anderem von Anfang an enge Unterstützung und Bezugspersonen. Es brauche Betreuungspersonen, die den Jugendlichen zuhörten und deren Anliegen ernst nehmen. Und es müsse von Anfang an genügend Geld zur Verfügung gestellt werden, um die Integration der Jugendlichen zu erleichtern und um eine sinnvolle Freizeitgestaltung zu ermöglichen.

Repression statt Betreuung?

Amstad sieht die Mitverantwortung für die Ausschreitungen auch bei der Politik: «Der Kanton Luzern fährt einen Sparkurs.» Qualifiziertes Personal werde durch weniger qualifizierte, günstigere Mitarbeitende ersetzt und Stellenprozente würden gekürzt. Dafür werde beim Sicherheitspersonal aufgestockt.

Statt die Bewohner der Durchgangszentren sofort nach ihrer Ankunft adäquat zu unterstützen und von Anfang an beim Einleben behilflich zu sein und soziale Teilhabe zu ermöglichen, passiere das Gegenteil. «Dass es unter solchen Umständen vermehrt zu Konflikten kommt, ist nicht verwunderlich.»

«Es ist selten, dass die Polizei zu einem Asylzentrum ausrücken muss.»

Silvia Bolliger, Leiterin Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen

Silvia Bolliger wehrt sich gegen diese Darstellung vehement: «Das ist eine böswillige und unhaltbare Behauptung.» Von den 18,4 Vollzeitstellen im Grosshof stünden 12 Vollzeitstellen ausschliesslich für Betreuungsaufgaben zur Verfügung. Die Betreuung richte sich nach den Empfehlungen der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK).

Der Eingangsbereich des umzäunten Zentrums.

Der Eingangsbereich des umzäunten Asylzentrums im Grosshof.

(Bild: giw)

Polizei muss nur selten ausrücken

Sowohl Polizeisprecher Kurt Graf als auch Dienststellenleiterin Silvia Bolliger sprechen von einem aussergewöhnlichen Fall. «Es ist selten, dass die Polizei zu einem Asylzentrum ausrücken muss. Im Schnitt kommt es – nebst der präventiven Polizeipräsenz sowie den Ausschaffungen ab den Zentren – monatlich zu einer Konfliktintervention durch die Polizei», so Bolliger.

Meistens geht es dabei um Konflikte innerhalb der Gruppe, wie im vergangenen März im provisorischen Zentrum Pilatusblick – dem Vorgängerprojekt zum Grosshof. Damals wurden fünf Jugendliche bei einem Streit zwischen zwei ethnischen Gruppen teilweise leicht verletzt.

Nicht alle Einsätze werden von der Luzerner Polizei publik gemacht – lediglich grössere Einsätze. «Wenn jemand austickt oder sich der Ausschaffung widersetzt, vermelden wir das nicht», sagt Graf. Gerufen werde man, analog zu den Aussagen von Bolliger, ohnehin nur selten.

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