Trotz Shutdown im Bahnhof: Im Alltag kaum Thema

Carpooling ist in Luzern noch die Ausnahme – warum eigentlich?

Hunderte suchten via Twitter Fahrer oder Fahrgäste – und einige fragten sich, wieso das nicht immer so geht. (Bildmontage: zentralplus)

Pendler auf dem Beifahrersitz mitnehmen: Was während des Bahnhof-Stillstands boomte, funktioniert im Alltag noch selten. Wie das Beispiel Kantonsspital zeigt. Beim Luzerner Carpooling-Start-up Hitchhike hingegen hofft man nun auf den Wandel – und lanciert ein neues Angebot.

Zwei Wochen ist es her, dass ein entgleister Zug den Luzerner Bahnhof zum Stillstand brachte. Der Ausnahmezustand machte erfinderisch. Gestrandete suchten auf den sozialen Medien nach Mitfahrgelegenheiten, Solo-Autofahrer boten ihre Beifahrer- und Rücksitze an. Unter dem Hashtag #MitfahrenLuzern entstanden spontan zahlreiche Fahrgemeinschaften, auf Twitter wurden über 500 Meldungen verbreitet.

Doch nun ist die Euphorie abgeflacht. Kaum mehr ein Tweet zum Thema, kaum ein Facebook-Post. Der Alltag ist zurückgekehrt. Und der sieht bei den Autofahrern einsam aus: Im Berufsverkehr sitzen im Schnitt nur 1,1 Personen in einem Auto.

Das Potenzial für Carpooling wäre also gross – und der Nutzen vorhanden. «Eine bessere Auslastung der Autos würde die Autokilometer auf den Strassen massiv reduzieren», sagt Mobilitätsexperte Tobias Arnold. «Die Folgen wären neben einem geringeren Energieverbrauch auch positive Effekte hinsichtlich Lärmemissionen und Luftqualität», so der wissenschaftliche Mitarbeiter beim Forschungsbüro Interface Politikstudien in Luzern.

Gewohnheiten durchbrechen

Doch wieso setzt kaum jemand auf geteiltes Autofahren? «Viele stellen es sich zu kompliziert vor», nennt Jean-François Schnyder einen der Gründe. Er ist Mitgründer und Leiter des Luzerner Start-ups Hitchhike, einer Plattform für Fahrgemeinschaften. Zudem sei in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern der Preis von Autofahrten meist kein Grund, um auf Fahrgemeinschaften zu wechseln.

«Für viele ist es einfach bequem, so, wie es ist.»

Jean-François Schnyder, Mitgründer und Leiter Hitchhike

Dass Autofahrer am Morgen nicht zugetextet werden oder nicht mit Fremden reisen wollen – das betrifft laut Schnyder eine Minderheit. «Für viele ist es einfach bequem, so, wie es ist.» Daher brauche es einen Anreiz, um das mal auszuprobieren.

Das bestätigt Mobilitätsexperte Tobias Arnold. «Grundsätzlich ist der Mensch ein Gewohnheitstier, und dies trifft insbesondere auch auf das Mobilitätsverhalten zu.» Dieses sei geprägt von einem hohen Bedürfnis nach Individualität. «Ich will selber entscheiden, wann ich am Morgen zur Arbeit fahren will und wann ich am Abend wieder zurückkehren möchte», fasst Arnold die typische Einstellung zusammen.

«Die Pendler haben gemerkt, dass das gemeinsame Pendeln durchaus auch Spass machen kann.»

Tobias Arnold, Mobilitätsexperte Interface Politikstudien

Für Tobias Arnold ist es indes denkbar, dass die spontanen Fahrgemeinschaften im Rahmen von #MitfahrenLuzern etwas bewirkt haben. «Die Pendler haben die Vorteile von Fahrgemeinschaften erfahren können und gemerkt, dass das gemeinsame Pendeln durchaus auch Spass machen kann.» Das Image der Fahrgemeinschaften zumindest habe vom Unfall profitiert.

Groove kommt gut an

Das bestätigt Micha Eicher. Die Luzernerin musste am Tag nach der Zugentgleisung für einen Kundentermin nach Zürich – und suchte auf Twitter nach einer Mitfahrgelegenheit. «Morgens um halb 7 schrieb mir jemand: Bist du in zehn Minuten parat?» Das war sie, die Fahrt kam zustande. Und: Wie sich herausstellte, kannte sie ihren Chauffeur aus der Zeit ihres ersten Studentenjobs, sie hatten sich aber seit zehn Jahren nicht mehr gesehen.


 

Um sich zu revanchieren, bot Micha Eicher tags drauf eine Fahrt nach Zug an – auch das erfolgreich. «Meine Mitfahrerin brachte sogar Gipfeli mit», sagt Eicher lachend. Ihre Erfahrungen sind darum durchs Band positiv. «Es ist wie Reisen im Ausland: Man weiss vorher nicht genau, ob und wie man am Ziel ankommt.» Genau dieser Groove hat ihr gefallen. «Die Pendler wurden eine sehr innovative Schicksalsgemeinschaft.»

Überraschende Zusammentreffen

Auch Claude Bachmann machte bei der Aktion mit – und war ähnlich begeistert wie Micha Eicher. Besonders imponiert hat ihm die Solidaritätswelle. «Die Aktion hat gezeigt, wie schnell sich die Menschen zu helfen wissen.»

Der Luzerner wohnt und arbeitet wegen seines Theologiestudiums in Chur, weilt aber regelmässig in Luzern, entsprechend oft fährt er diese Strecke. Er hat mehrmals Mitfahrten angeboten – aber nicht immer Passagiere gefunden. «Einmal reisten drei Leute von Zug nach Luzern mit mir mit – lustigerweise waren zwei von ihnen bei mir im Unterricht, ich kannte sie also.» Bei zwei weiteren Fahrten hingegen blieb Claude Bachmann alleine – weil er für Interessierte zu früh oder zu spät abfuhr, kam keine Fahrgemeinschaft zustande. Trotz des Erfolgs des Hashtags keine Seltenheit: Manche Nutzer, insbesondere solche mit wenigen Followern, erhielten auf ihre Meldungen gar keine Reaktion.


 

Obwohl er nun mit Bekannten unterwegs war: Claude Bachmann hätte auch jeden Fremden mitgenommen. «So lernt man neue Leute kennen und kommt mit anderen ins Gespräch», sagt Bachmann. Er gehöre nicht zu jenen, die im Auto unbedingt ihre Ruhe haben wollen oder sich daran stören, wenn man mal einige Minuten auf den Mitfahrer warten muss. Geld hat Claude Bachmann von den Passagieren nicht verlangt. «Das wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Aber bei regelmässigen Fahrgemeinschaften ist es legitim, die Kosten aufzuteilen.»

Eine solche langfristige Fahrgemeinschaft hat sich bei Claude Bachmann aber nicht ergeben. Und auch Micha Eicher sagt trotz aller Euphorie: «Für mich ist eine Pendlergemeinschaft im Alltag keine Alternative.» Denn normalerweise ist sie per ÖV unterwegs und solange der funktioniere, sehe sie keinen Grund, aufs Auto zu wechseln.

1000 neue Nutzer registriert

Anders beim Luzerner Start-up Hitchhike. Der Zugunfall hat der Plattform für Fahrgemeinschaften einen regelrechten Boom beschert. Seither hätten sich zu den bestehenden 4000 rund 1000 neue Nutzer registriert, sagt Mitgründer Jean-François Schnyder. «Viele haben erst jetzt gemerkt, dass es solche Angebote gibt.» Seit 2012 läuft Hitchhike über geschlossene Communities von Unternehmen oder Institutionen wie beispielsweise der Hochschule Luzern in Rotkreuz oder dem D4 in Root (zentralplus berichtete). Mit dem Vorteil, dass meist Mitarbeiter oder Studenten desselben Betriebs miteinander fahren – und sich kennen.

Aussergewöhnliche Situationen erfordern aussergewöhnliche Massnahmen: Für einmal durften die Pendler den neuen Busbahnhof vor dem KKL benutzen.

Aussergewöhnliche Situationen erfordern aussergewöhnliche Massnahmen: Für einmal durften die Pendler den neuen Busbahnhof vor dem KKL benutzen.

(Bild: jwy)

Hitchhike hat nun aber auf den Ansturm reagiert – und die eigentlich erst für später geplante Community «sayHi» aufgeschaltet. Damit können neu individuelle Pendler schnell und unkompliziert Fahrgemeinschaften suchen und anbieten. An den technischen Möglichkeiten wird es also nicht scheitern – die sind laut Experte Tobias Arnold bereits heute vorhanden. «Was es braucht, ist eine verstärkte Sensibilisierung für das Thema Fahrgemeinschaften.» Das könne von Seiten der Politik sein – etwa durch Kampagnen oder harte Massnahmen wie Maut-Gebühren in Städten. Aber auch Unternehmen könnten Anreize setzen, indem sie zum Beispiel Gratisparkplätze für Fahrgemeinschaft anbieten.

Kantonsspital: Interesse spärlich

Ein Unternehmen, das auf Carpooling setzt, ist das Luzerner Kantonsspital. Seit Februar 2016 können Angestellte mit Publiride, einem Postauto-Angebot, Fahrgemeinschaften bilden. Das Interesse hält sich allerdings im Rahmen. «Unser Mitfahrnetzwerk wird genutzt, hat jedoch noch Potenzial», sagt Mediensprecherin Caroline Kälin. Bis jetzt hätten sich rund 200 Mitarbeitende registriert – das sind knapp 5 Prozent der gesamten Belegschaft. Die Erfahrung zeige, dass es auch bei anderen Publiride-Partnern Zeit brauche, das Netzwerk aufzubauen.

«Das Potenzial der bestehenden Mitarbeitenden ist mehrheitlich ausgeschöpft.»

Caroline Kälin, Mediensprecherin Luzerner Kantonsspital

Laut Kälin fahren 45 Prozent der Luks-Mitarbeitenden mit dem Auto zur Arbeit – rund zehn Prozent weniger als noch vor rund zwei Jahren. Doch das Auto wird auch weiterhin wichtig bleiben: Das Kantonsspital will demnächst ein neues Parkhaus bauen (zentralplus berichtete). Caroline Kälin glaubt beim Thema Fahrgemeinschaften denn auch nicht an grössere Sprünge. «Das Potenzial der bestehenden Mitarbeitenden ist mehrheitlich ausgeschöpft.» Das Einzugsgebiet der Angestellten sei relativ gross und viele arbeiteten unregelmässig.

Bei Hitchhike glaubt man trotz allem an das Potenzial von Carpooling. «Immer mehr Leute verzichten auf ein eigenes Fahrzeug und halten nach anderen Optionen Ausschau», sagt Jean-François Schnyder. Die Erfahrung zeige, dass zwischen 10 und 20 Prozent der Autopendler im Berufsverkehr ohne grössere Umstände auf Carpooling umsatteln könnten.

#MitfahrenNapf – Fahrgemeinschaften im Hinterland

Fahrgemeinschaften statt Postauto: Wer in der Region Luthern/Willisau/Zell kein Auto besitzt, kann seit Juni 2015 per SMS eine Mitfahrgelegenheit suchen. Der Verkehrsverbund Luzern (VVL) testet zusammen mit den Gemeinden das Mitfahrsystem Taxito. Die Idee: In dünn besiedelten Gebieten lohnt sich ein regelmässiger öffentlicher Verkehr kaum. Fahrgemeinschaften sollen darum in die Bresche springen.

Wer an einer Infotafel von Taxito steht, schreibt ein SMS mit dem Zielort – dieser wird dann auf der Infotafel ausgeschildert. Wer vorbeifährt und dasselbe Ziel hat, nimmt den Wartenden im Idealfall mit. Das erste Fazit fällt positiv aus. «Wir sind mit dem Start sehr zufrieden», sagt Christoph Zurflüh vom VVL. Im Schnitt zwei Personen pro Tag nutzten den Service. 85 Prozent der Nutzer warteten weniger als vier Minuten auf eine Mitfahrgelegenheit. Fälle von Missbrauch sind Zurflüh nicht bekannt.

Anders als das klassische Carpooling zielt Taxito in erster Linie auf Leute ohne Auto oder Ausflügler in ländlichen Gebieten. Bis Herbst 2017 dauert nun die zweite Pilotphase. «Es geht darum, herauszufinden, wie wir noch mehr Fahrgäste und Fahrer gewinnen können», sagt Zurflüh. Anschliessend wird entschieden, ob das Angebot per Dezember 2017 definitiv eingeführt wird.

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