Zug erwartet 40 Gesuche von Heim-/Verdingkindern

Bisher ein Dutzend Anfragen von Opfern staatlicher Repression

Ignaz Civelli, Zuger Staatsarchivar: «Wir helfen Betroffenen unbürokratisch bei der Spurensuche nach Akten.»

(Bild: mbe)

Ehemalige Verding- oder Heimkinder, die unrechtmässig in einer Zuger Institution platziert waren, können bis 2018 ein Gesuch um eine finanzielle Genugtuung stellen. Es wird mit 40 Gesuchen im Kanton Zug gerechnet. Man braucht jedoch Akten, um das Unrecht zu beweisen.

Ende Januar hat das Zuger Staatsarchiv eine Mitteilung auf die Kantonshomepage gestellt. Unter dem Titel «Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981» werden Betroffenen Tipps gegeben, wie sie an ihre Akten herankommen. Diese sind wichtig für ihr Gesuch um Wiedergutmachung (zentralplus berichtete). Denn ohne Beweise gibt es kein Geld. «Als betroffene Person haben Sie das Recht auf Einsicht in die Akten über Sie», ist immerhin beruhigend zu lesen.

Doch wie gehen solche Anfragen konkret vor sich, und gibt es schon welche? Durchaus. So hat sich etwa eine Dame beim Staatsarchiv gemeldet, die schon bald 40 Jahre in der Romandie lebt. Abgesehen von den Verständigungsschwierigkeiten sind auch ihre Angaben vage. Sie weiss nur noch, dass sie in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg im Kanton Zug in «einem Heim auf einem Berg» untergebracht war. In Menzingen? In Unterägeri? Wie hiess denn das Heim?

Oft über sieben Ecken

«Es ist oft kompliziert», sagt Staatsarchivar Ignaz Civelli. «Jemand aus Zug war vielleicht auch in einem Heim in Schwyz, oder jemand aus Luzern in Zürich.» Das Staatsarchiv habe den Auftrag, den Personen, die sich meldeten, unbürokratisch bei der Aktensuche zu helfen.

«Diese Personen haben ja teilweise ein Misstrauen gegenüber Behörden. Gerade deshalb bemühen wir uns, ihnen bei der Spurensuche zu helfen, sodass sie nicht das Gefühl bekommen, aus einem administrativen Grund ins Leere zu laufen.»

Alle Staatsarchive kooperieren

Die Staatsarchive der Kantone arbeiten hier eng zusammen, betont Civelli, leiten Gesuche weiter und tauschen Infos miteinander aus. Ausserdem klären Fachleute in den Archiven, welche sich mit der Geschichte des kantonalen Heimwesens auskennen, um welche Institution es sich überhaupt handeln könnte. «Oft erinnern sich die Leute nicht mehr an den genauen Namen des Heims, sprechen zum Beispiel vom Heim Seefrieden, dabei hiess das Heim vielleicht Bergruh. Auch die Jahre, in denen sie im Heim waren, wissen viele nicht mehr genau.»

«Längst nicht alle Heimakten sind damals aufbewahrt worden.»
Ignaz Civelli, Staatsarchivar Zug

Doch selbst wenn man das Heim findet, ist es nicht von vorneherein klar, dass man den Namen der Person auf Anhieb in den Akten findet. Schliesslich waren es Kinder. Manchmal stehe nur ihr damaliger Rufname in einem Dokument. «Das Vreneli hiess in Wirklichkeit vielleicht Maria Verena», so Civelli. Es gebe auch Fälle, wo man nichts finde, das den Aufenthalt in einem Heim belege: «Längst nicht alle Heimakten sind damals aufbewahrt worden.»

 

Ausgemergelte Heimkinder im Zweiten Weltkrieg.

Ausgemergelte Heimkinder im Zweiten Weltkrieg.

(Bild: Paul Senn/www.wiedergutmachung.ch)

Seit 2016 zehn bis zwölf Anfragen

Laut dem Staatsarchivar haben die Anfragen 2016 begonnen. «Bis heute hatten wir rund zehn bis zwölf.» Civelli rechnet damit, dass es jetzt mehr werden. Denn die Zeit eilt. Das vom Parlament im September beschlossene Gesetz ist in Kraft. Bis März 2018 haben die Betroffenen Zeit, ihr Gesuch zu stellen. Viele sind bereits im Pensionsalter.

Die Opferberatungsstellen helfen den Betroffenen, das entsprechende Formular auszufüllen, und werden dafür von den Kantonen entschädigt. Doch die betroffenen Personen müssen ihre Fremdplatzierungen soweit möglich auch mit Kopien von Dokumenten belegen. Laut dem Zuger Staatsarchivar können die betroffenen Personen die Akten im Lesesaal sichten. «Wir schicken aber auch kostenlos Kopien nach Hause.»

«Auch der Kanton Zug beteiligt sich an der Wiedergutmachung.»
Manuela Weichelt, Frau Landammann

Schon früh Zeichen gesetzt

Mit wie vielen Gesuchen rechnet man überhaupt in Zug? Und wie stellt sich der Kanton zu dem von staatlichen Stellen begangenen Unrecht? Frau Landammann Manuela Weichelt sagt auf Anfrage: «Auch der Kanton Zug beteiligt sich an der Wiedergutmachung des Schicksals von Verdingkindern und will einen Beitrag dazu leisten, dieses traurige Kapitel der Schweizer Geschichte aufzuarbeiten sowie Betroffenen entsprechende Unterstützung und Beratung anzubieten.»

Der Zuger Regierungsrat habe diese Absicht bereits im Februar 2016 bekräftigt – in einer Stellungnahme zur Umsetzung des Bundesgesetzes. Und zwar gegenüber der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK).

Zug rechnet mit zirka 40 Gesuchen

Von der SODK gibt es auch eine Schätzung, wie viele Personen sich in Zug melden könnten. Nach hypothetischer Berechnung werden auf den Kanton Zug 0,3 Prozent aller voraussichtlich in der ganzen Schweiz gestellten Gesuche fallen. «Dieser Prozentsatz würde zirka 40 Gesuchen entsprechen», erklärt die Vorsteherin der Direktion des Innern.

Zug habe im Übrigen schon lange vor der Verabschiedung des Gesetzes ein Zeichen gesetzt. «Bereits im April 2013 wurde das Leid der Betroffenen als Unrecht anerkannt und im Kanton Zug wurden Anlaufstellen für die Betroffenen bezeichnet. Gleichzeitig beteiligte sich der Kanton Zug mit einem Beitrag am damals ins Leben gerufenen Soforthilfefonds», erklärt die Regierungsrätin.

Der Regierungsrat unterstützte den ersten Soforthilfefonds gemäss einer Pressemitteilung von 2014 mit einem Beitrag von 72’505 Franken aus dem kantonalen Lotteriefonds; auch die anderen Kantone finanzierten ihre nach Bevölkerungszahlen abgestimmten Beiträge aus ihren Lotteriefonds. Institutionen, Organisationen und private Spender beteiligten sich ebenfalls. So sollten total 7 bis 8 Millionen Franken zusammenkommen.

Dieser erste Fonds diente als Überbrückungslösung für Betroffene in finanzieller Notlage, denen das Abwarten von gesetzlichen Grundlagen und der damit verbundenen Schaffung des Fonds für Solidaritätsbeiträge nicht zumutbar war.

«Ein allfälliger freiwilliger Solidaritätsbeitrag des Kantons Zug würde aus dem Lotteriefonds finanziert.»
Manuela Weichelt

Kantone tragen einen Drittel der Kosten

An die rund 300 Millionen Franken, welche der Bund gemäss Entscheid des Parlaments im September 2016 für «Solidaritätsbeiträge» (Wiedergutmachungszahlungen) bereitgestellt hat, sollen die Kantone gemäss Erwartung des Bundesrats freiwillig rund 100 Millionen Franken bezahlen. Die Zuger Regierung hat das offenbar noch nicht entschieden. «Ein allfälliger Solidaritätsbeitrag des Kantons Zug würde aus dem Lotteriefonds finanziert», erklärt die Vorsteherin der Direktion des Innern, «die Solidaritätsbeiträge haben somit keine Auswirkungen auf die laufende Rechnung.»

Arbeitsgruppe klärt wissenschaftliche Aufarbeitung

Weiter gibt es im Kanton Zug eine Arbeitsgruppe zum Themenkomplex. Sie prüft, ob und in welchem Umfang eine wissenschaftliche Aufarbeitung im Kanton Zug finanziert werden soll. In der Gruppe arbeiten Vertretungen von Kirche, Bürgergemeinden, Einwohnergemeinden, der Gemeinnützigen Gesellschaft Zug (GGZ) und der Direktion des Innern mit.

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