Was weiss die Jugend über Zugs schwärzesten Tag?

Zuger Attentat: Fast jeder Jugendliche kennt Angehörige eines Opfers

Das Zuger Regierungsgebäude war im September 2001 Schauplatz des schrecklichen Verbrechens von Fritz Leibacher, bei dem 14 Zuger Politiker starben und viele weitere teilweise schwer verletzt wurden.

(Bild: mbe.)

Das Attentat vom 27. September 2001 ist noch präsent im kollektiven Gedächtnis von Zug. Direktbetroffene reden nur ungern über die schrecklichen Erlebnisse. Doch weiss die jüngere Generation eigentlich noch, was vor 15 Jahren genau geschah? Wir sind auf die Strasse gegangen und haben Stimmen gesammelt.

Drei Halbwüchsige sitzen im Bahnhof Zug auf einem Bänkchen. «Wisst ihr, was am Zuger Attentat geschah?» «So halb …» antwortet der eine. Er war damals erst sechs Tagen auf der Welt. Woher hat er sein «Halbwissen»? «Das weiss man halt als Zuger», fügt er hinzu. Banknachbar Benjamin, 16 Jahre alt, ist gesprächiger. «Das war so ein Busfahrer, der irgendwie Probleme hatte», erzählt er, «er ist ins Parlament gestürmt und hat ungefähr zwölf Menschen erschossen. Einige wollten aus dem Fenster springen, einer hat sich einen Koffer vors Gesicht gehalten.» Der Dritte sagt nichts. Adieu, sie müssen auf den Bus rennen.

Der Zuger David Iten, 25 Jahre: «Ich kann leicht reden heute, ich war ja nicht dabei. Für die Betroffenen ist das aber alles sehr hart.»

Der Zuger David Iten, 25 Jahre: «Ich kann leicht reden heute, ich war ja nicht dabei. Für die Betroffenen ist das aber alles sehr hart.»

(Bild: mbe.)

Lirije Zekaj sitzt auf den Stufen bei der Bäckerei Meier, sie macht Pause von ihrer Sammeltätigkeit für Pro Juventute. Die 18-Jährige kommt aus Schwyz. «Nein, ich habe noch nie etwas von diesem Attentat gehört», sagt sie. Ich erkläre ihr, was damals passiert ist. Sie hat eine Erklärung, warum man vielleicht ausserhalb Zugs so wenig darüber spricht. «Wenn es ein Terroranschlag gewesen oder der Täter ausländischer Nationalität gewesen wäre, hätte man sicher mehr darüber erfahren.»

Lirije Zekaj, 18 Jahre: «Wenn der Täter ausländischer Nationalität gewesen wäre, hätte man sicher mehr darüber erfahren.»

Lirije Zekaj, 18 Jahre: «Wenn der Täter ausländischer Nationalität gewesen wäre, hätte man sicher mehr darüber erfahren.»

(Bild: mbe.)

Nachdenklich gestimmt ist Melinda Rüegger, die wir als Nächstes treffen. Der Vater einer Kollegin sei beim Attentat gestorben, erzählt die 16-jährige Zugerin, welche die Fachmittelschule besucht. «Ich habe mir viele Gedanken gemacht, ob das auch bei uns in der Schule passieren könnte», sagt sie. Das seien «wichtige Leute» gewesen damals. Sie meint damit die Zuger Politiker. Passieren könnte so etwas aber überall. «Wir leben ja heute in Zeiten des Terrors, dessen muss man sich bewusst sein. Doch wenn man Angst hat, kann man nirgends mehr hingehen», fügt das Mädchen hinzu.

«Wir haben allgemein viel zu wenig Schweizer Geschichte. Die Thematisierung des Zuger Attentats wäre sinnvoll. Dieses hat die Geschichte Zugs und der ganzen Schweiz geprägt.»
Erik aus Zug, 16 Jahre alt

Erik und Nastasia, 15 und 16, sind, wie die meisten Zuger Jugendlichen nur grob über die Geschehnisse von 2001 informiert. Ihre Mutter kenne eine Frau, die seit dem Attentat gelähmt sei, erklärt Nastasia. Eriks Mutter arbeitet beim Kanton. «Ich weiss, dass die Sicherheitsmassnahmen in Zug erhöht worden sind, man kommt nur noch mit einem Badge ins Gebäude hinein», erzählt er. Der Schüler findet, man sollte das Attentat in der Schule im Geschichtsunterricht behandeln. «Wir haben allgemein viel zu wenig Schweizer Geschichte. Die Thematisierung des Zuger Attentats wäre sinnvoll, es hat die Geschichte von Zug und der Schweiz geprägt.»

Jöran Frey, 16 Jahre: «Ich finde es wichtig, dass wir offen mit dem Thema umgehen. Es ist heikel, aber man sollte es ansprechen.»

Jöran Frey, 16 Jahre: «Ich finde es wichtig, dass wir offen mit dem Thema umgehen. Es ist heikel, aber man sollte es ansprechen.»

Der 16-jährige Jöran Frey fasst die Geschichte des Attentats auf Anhieb zusammen. Es habe eine Schiesserei gegeben, bei der mehrere Menschen schwer verletzt oder getötet worden seien. «Soviel ich weiss, war der Täter ein Geistesgestörter», sagt er. Der Zuger Jugendliche glaubt nicht, dass so etwas nochmals passieren könnte. Man passe seither sicher besser auf. Würde er sich mehr Information wünschen? Ja, sagt er. «Ich finde es wichtig, dass wir offen mit dem Thema umgehen. Es ist ein heikles Thema, aber es ist wichtig, dass man es anspricht.»

«Soviel ich weiss, war der Täter ein Geistesgestörter.»
Jöran Frey aus Zug, 16 Jahre

Und was sagen ältere Jugendliche? Wissen sie mehr über den 27. September 2001? David Iten kennt ebenfalls eine Mitschülerin, die einen Angehörigen verloren hat. Der 25-Jährige hat Bedenken, was die historische Aufarbeitung des Attentats betrifft. «Es ist sicher gut, wenn man weiss, was los war. Aber ich kann das leicht sagen, da ich nicht dabei war», meint Iten. Doch für die Direktbetroffenen sei das alles sehr hart. Ein Filmprojekt, wie es einmal geplant war vom SRF, aber auf Intervention des Kantons Zug gestoppt wurde, fände David Iten nur gut, wenn die Betroffenen dem Film zustimmen.

Claudia Frey, 26 Jahre: «Ich habe in der Oberstufe davon gehört. Es hat uns alle sehr mitgenommen.»

Claudia Frey, 26 Jahre: «Ich habe in der Oberstufe davon gehört. Es hat uns alle sehr mitgenommen.»

(Bild: mbe.)

Beim «Metalli» treffen wir auf eine Gruppe Schulkinder. Lorenzo war noch nicht auf der Welt, als das Attentat geschah, er wurde 2003 geboren. Und Alexandre ist just 15 Jahre alt. Beide finden, man sollte über das Attentat Bescheid wissen. «Damit niemand je wieder so etwas tut in Zug.»

Das Fazit unserer kleinen, nicht repräsentativen Strassenumfrage: Die meisten Kinder und Jugendlichen haben ihre Infos vom Hörensagen. Viele kennen jedoch Personen, die wiederum Opfer kennen. Über den Hintergrund der Geschichte und den Amokläufer Friedrich Leibacher wissen sie fast nichts.

Lorenzo hat Jahrgang 2003, Alexandre kam 2001 zur Welt: «Man sollte über das Attentat Bescheid wissen, damit niemand je wieder so etwas tut in Zug.»

Lorenzo hat Jahrgang 2003, Alexandre kam 2001 zur Welt: «Man sollte über das Attentat Bescheid wissen, damit niemand je wieder so etwas tut in Zug.»

(Bild: mbe.)

Rektor zur Frage der historischen Aufarbeitung

Eine historische oder schulische Aufarbeitung ist auch nach 15 Jahren noch (?) kein Thema in Zug. Gemäss Urs Landolt, Rektor der Stadtschulen Zug, wird das Thema nicht offiziell im Unterricht behandelt. «Es steht nicht im Lehrplan», sagt Landolt auf Anfrage. Aber es könne durchaus sein, dass einzelne Lehrer oder Lehrerinnen das Thema individuell im Unterricht behandelten. In den beiden Tagen unmittelbar nach dem Attentat 2001 habe man in allen Schulen Zugs der Opfer gedacht, Gedenkminuten veranstaltet und Kerzen angezündet, erinnert sich der Rektor.

«Das Attentat würde ich nicht ins Zentrum stellen. Aber die Frage, wie man als Bürger vorgehen soll, wenn man mit Entscheidungen der Behörden nicht einverstanden ist.»
Urs Landolt, Rektor der Stadtschulen Zug

«Die Betroffenheit ist immer noch gross. Jeder Zuger kennt jemanden, der Angehörige verloren hat, und erinnert sich noch genau, was er zum Zeitpunkt des Attentats gerade tat», sagt Urs Landolt. Man könnte sich aber durchaus die Frage stellen, ob das Thema in der Schule behandelt werden sollte. Das Attentat als solches würde er nicht ins Zentrum stellen. Es sei ja nicht vergleichbar mit anderen, politisch motivierten Attentaten. «In der Staatskunde könnte man aber die Frage behandeln, wie man als Staatsbürger vorgehen soll, wenn man mit Entscheidungen der Behörden nicht einverstanden ist.» Der Weg, den der Attentäter damals wählte, war der falsche. Wichtig fände der Rektor, auf die neu geschaffene Ombudsstelle beim Kanton hinzuweisen, die seither bei Problemen zwischen Bürgern und Behörden vermittelt.

Lesen Sie einen weiteren Artikel zum Jahrestag des Zuger Attentats:
– Zuger Attentat: «Wir haben die Freiheit nicht geopfert.»

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2 Kommentare
  • Profilfoto von Marc Benedetti
    Marc Benedetti, 28.09.2016, 10:51 Uhr

    Danke für den Hinweis, Herr Ebinger. Ich entschuldige mich bei Ihnen für die unvorsichtige Verwendung des Wortes und habe dieses mittlerweile durch das Wort «Jahrestag» ersetzt. Der «Gedenktag» wäre in diesem Zusammenhang ein weiteres Synonym.

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  • Profilfoto von mebinger
    mebinger, 27.09.2016, 17:12 Uhr

    Es ist 17.00 Uhr und hätte ich diesen Bericht nicht gesehen, wäre mir das Attentat nicht in den Sinn gekommen. Dieses Jahr haben nicht einmal die Glocken was genutzt. Aber wen man schreibt, sollte man die Sprache beherrschen. Jubiläum leitet sich von annus jubilaeus: Jubeljahr ab. Weiss echt nicht, was am 27.09.2016 zu jubilieren ist. Für mich als direkt betroffener vielleicht, den heute feiere ich einen zweiten Geburtstag. Ich zweifle daran, das dieses ständige Erinnern zu was Nütze ist

    Michel Ebinger ( direkt betroffener)

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