Zug 15 Jahre nach der Bluttat

Zuger Attentat: «Wir haben die Freiheit nicht geopfert»

Auch wenn die Toleranz-Fahnen nicht im Hinblick auf den Jahrestag des Zuger Attentats beim Zuger Regierungsgebäude aufgehängt wurden, so wirken sie doch wie ein Mahnmal. (Bild: wia)

 

27. September 2001: Im Zuger Kantonsratssaal tötet Fritz Leibacher 14 Politiker. Die Stadt, der Kanton, ja das ganze Land wurden in ihren Grundfesten erschüttert. Und dennoch. Die Katastrophe hat Zug auch gestärkt, findet der Zuger Stadtpräsident Dolfi Müller. Wir wollten von Zeitzeugen wissen, was die Tat in Zug verändert hat.

15 Jahre ist es her, seit im Zuger Kantonsratssaal das schlimmste Attentat in der Schweizer Geschichte verübt wurde. Die Tat, die bloss zweieinhalb Minuten dauerte, kostete 14 Politikern und den Täter das Leben. Zahlreiche Politiker wurden verletzt, viele davon schwer. Was folgte, war Erschütterung, Leid, Unverständnis, Unsicherheit. Nicht nur bei den Betroffenen und Angehörigen, sondern auch in der ganzen Bevölkerung.

Wir wollten wissen, wie sich Zug seit dem Attentat verändert hat. Stadtpräsident Dolfi Müller glaubt, anders als die USA nach 9/11 sei Zug am Ende gestärkt aus dem schrecklichen Ereignis hervorgegangen. Landammann Heinz Tännler findet, das Attentat stecke bei vielen Zugern noch heute im Hinterkopf. Und ein ehemaliges Care-Team-Mitglied fragt sich, ob es Sinn macht, mit jährlichen Gedenkgottesdiensten alte Erinnerungen hervorzuholen.

«Es gibt nichts, was mir mehr in die Knochen gefahren ist, als dieses Ereignis.»

Dolfi Müller, Zuger Stadtpräsident

Aus der trügerischen Sicherheit herauskatapultiert

Dolfi Müller war 2001 Mitglied des Grossen Gemeinderats Zug. 2003 wurde er in den Stadtrat gewählt, seit 2007 präsidiert er diesen. Als wir ihn auf seine Erinnerung an das Attentat ansprechen, betont er zuerst, dass er selber nicht betroffen gewesen sei. Und antwortet dann: «Es gibt nichts, was mir mehr in die Knochen gefahren ist, als dieses Ereignis. – Obwohl ich selber nicht dabei war. Womöglich, weil wir uns bis dahin in trügerischer Sicherheit wähnten. Plötzlich wurde das Undenkbare Realität. Das Attentat hat uns alle aus den gewohnten Bahnen geworfen. Das hat man verarbeiten müssen, das ging gar nicht anders. Selbst als indirekt Betroffener.»

zentralplus: Und wie hat diese Verarbeitung in der Bevölkerung stattgefunden?

Müller: Ja, ich denke, mit den Mahnwachen, die auf dem Landsgemeindeplatz stattfanden, mit Gottesdiensten und Kerzen hat man versucht, eine Art Psychohygiene zu ermöglichen. Doch irgendwann hat einen der Alltag letztlich wieder eingeholt. – Ich möchte jedoch noch einmal betonen, dass ich hier als Nicht-Direktbetroffener rede.

zentralplus: Sie waren vor dem Attentat in der Zuger Politik. Sie sind es heute noch. Sind in Zug heute Unterschiede zu spüren im Gegensatz zu vor dem Attentat?

Müller: Auf politischer Ebene haben wir uns alle sehr viel vorgenommen nach dem Attentat. Man hat sich da quasi einen mahnenden Knopf ins Nastuch gemacht. Achtung, gehe zivilisierter mit deinen politischen Gegnern um.

«Das Klima in der Zuger Politik ist aufgrund des Attentats kaum humaner geworden.»

Dolfi Müller, Zuger Stadtpräsident

zentralplus: Und? Geht man zivilisierter um miteinander?

Müller: Auf lange Sicht haben die ganzen Vorsätze wenig gebracht. Das Klima in der Zuger Politik ist aufgrund des Attentats kaum humaner geworden.

zentralplus: Warum das?

Dolfi Müller: «Das Attentat hat uns alle aus den gewohnten Bahnen geworfen.»

Dolfi Müller: «Das Attentat hat uns alle aus den gewohnten Bahnen geworfen.»

(Bild: Archiv)

Müller: Im Moment ist die Politik in der Schweiz stark emotionalisiert. Es ist eine populistische, symbolische Politik, die auch vor Zug nicht halt macht. Und wer emotional politisiert ist per se aggressiver. Das macht den pfleglichen Umgang schwieriger.

zentralplus: Hat sich das Bewusstsein von Zug verändert aufgrund der Tat?

Müller: Zug musste sich damit abfinden, dass das Undenkbare möglich ist. Vielleicht ist das etwas spekulativ, doch wir sind dadurch der Welt, wie sie wirklich ist, mit ihren Sonnen- und Schattenseiten, einen Schritt näher gekommen. Wir haben gemerkt, dass wir Teil dieser Realität sind. Das gehörte irgendwie zur Trauerarbeit.

zentralplus: Doch auch abgesehen von der Politik hat Zug Veränderungen durchgemacht. Der Kanton Zug schuf eine Ombudsstelle um Querulanten früh abzufangen, bei den Ratssitzungen sind Sicherheitskräfte im Einsatz.

Müller: Ja, man wurde tatsächlich sensibler. In der Stadt hatten wir die Debatte, ob wir nun unsere Büros besser schützen sollen. Und fanden dann, nein, wir wollen eine offene Stadtverwaltung bleiben.

zentralplus: Man hätte auch das Gegenteil machen können.

Müller: Ja, tatsächlich. 9/11 ist zwar nicht gleich zu werten wie das Zuger Attentat. Doch hat Amerika danach angefangen, sich zu verschanzen. Wir sollten jedoch den Tätern nicht recht geben, indem wir unsere freiheitlichen Errungenschaften einem überspitzten Sicherheitsdenken opfern.  Benjamin Franklin sagte: «Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Schluss beides verlieren.» Im besten Fall geht eine Gesellschaft gestärkt aus einer solchen Situation heraus.

zentralplus: Und ist es Zug gelungen, gestärkt aus dieser Situation herauszugehen?

Müller: (Er denkt nach.) Die Tat hat uns jedenfalls nicht geschwächt. Ja, doch, auch wenn etwa in der Politik der Umgangston nicht besser geworden ist, so ist die Gesellschaft doch gestärkt daraus herausgegangen, weil wir die Freiheit nicht geopfert haben.

 

Das Geschehene ist stets im Hinterkopf

Wie sieht es mit den Auswirkungen auf den ganzen Kanton aus? Heinz Tännler, heute Finanzdirektor und Landamman des Kantons Zug, hat das Attentat damals als Kantonsrat hautnah miterlebt. Er erklärt:

Heinz Tännler: «Ein Attentat vergisst man als Betroffener nicht. Es kommen Bilder und Erinnerungen auf.»

Heinz Tännler: «Ein Attentat vergisst man als Betroffener nicht. Es kommen Bilder und Erinnerungen auf.»

(Bild: Archiv)

Tännler: Nun gut, was heute davon sichtbar ist, sind gewisse Sicherheitsvorkehrungen, die man damals nicht hatte. Bei gewissen öffentlichen Ämtern muss man sich zuerst anmelden oder läuten, während der Ratssitzungen stehen zwei Polizisten beim Eingang des Regierungsgebäudes. Diese Veränderungen beruhen auf einem Kantonsratsbeschluss von 2002, bei dem ungefähr sieben Millionen Franken gesprochen worden waren.

Ansonsten glaube ich nicht, dass sich das Leben in Zug gross verändert hat. Die Normalität hat in den meisten Fällen seit Langem wieder Einzug gehalten, und das finde ich auch richtig so. Man kann nicht ein Leben lang an einem Attentat festhalten. Natürlich gibt es Ausnahmen, Menschen, die sich heute täglich mit den Folgen des Attentats befassen müssen. All denen wünsche ich viel Kraft.

zentralplus: Hat der Kanton heute eine andere Selbstwahrnehmung?

Tännler: Nicht per se. Ich glaube, die ist in etwa gleich geblieben. Und doch. Man hat das Geschehene im Hinterkopf. So ein Attentat vergisst man nicht. Das äussert sich insofern, als dass man respektvoll mit dem Gegenüber umgeht. Auch dass man Randgruppen nicht einfach in eine Ecke stellt und deren Anliegen ernst nimmt. Diese Kultur hat Zug zwar schon immer gehabt, doch ist sie heute wohl noch etwas ausgeprägter.

«Meines Erachtens braucht es ganz grundsätzlich ein gesundes Mass an Respekt, Attentat hin oder her.»

Heinz Tännler, Zuger Landammann

zentralplus: Damals haben sich einige Politiker vorgenommen, einen pfleglicheren Umgang miteinander zu haben. Ist davon heute etwas zu spüren?

Tännler: Man muss sehen, dass in den verschiedenen Gremien heute Leute vertreten sind, die das Attentat nicht hautnah miterlebt haben. Die sind nicht so stark involviert und haben eine gewisse Distanz zum Thema. Entsprechend ist der Umgang direkt. Man debattiert konkret und ist hart, aber fair in der Sache. Meines Erachtens braucht es ganz grundsätzlich ein gesundes Mass an Respekt, Attentat hin oder her. Es geht darum, dass man einen korrekten sachlichen Umgang miteinander hat. Auch wenn es hin und wieder Ausrutscher gibt.

zentralplus: Heute jährt sich das Attentat zum 15. Mal. Welche Bedeutung hat dieser Tag jeweils für Sie?

Tännler: Ich halte kurz inne, ein Attentat vergisst man als Betroffener nicht. Es kommen Bilder und Erinnerungen auf. Aber es ist nicht so, dass ich in Trauerstimmung verfalle. Das Erlebte habe ich längst verarbeitet.

 

Sind Trauergottesdienste sinnvoll?

Der reformierte Pfarrer Jürg Rother hat den Betroffenen als Chef des Care-Teams vor 15 Jahren Beistand und Trost geleistet während der schweren Zeit. Er antwortet nur zögerlich auf die Anfrage von zentralplus und erklärt:

Rother: Im Vorfeld zu diesem 15. Jahrestag habe ich einige Medienanfragen bekommen – wenn man das Attentat googelt, stösst man relativ schnell auf meinen Namen. Und ich bin ehrlich gesagt nicht sicher, ob ich antworten mag. Ausserdem war es mir wichtig, bei Betroffenen nachzufragen, wie sie dazu stehen, immer wieder aufs Neue an die Tat erinnert zu werden. Und ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Viele mögen das gar nicht mehr hören. Natürlich gehört das Attentat zur Kantonshistorie, doch wollen das viele nicht immer wieder aufwärmen. Vielleicht müsste man das noch stärker respektieren.

Pfarrer Jürg Rother stand beim Attentat als Vizepräsident des Care-Teams Zentralschweiz im Einsatz. (Bild: ref-zug.ch)

Pfarrer Jürg Rother stand beim Attentat als Vizepräsident des Care-Teams Zentralschweiz im Einsatz. (Bild: ref-zug.ch)

zentralplus: Dennoch kann ich mir vorstellen, dass es für die Menschen tröstlich sein kann, einen Gedenkgottesdienst zu besuchen.

Rother: Da bin ich mir nicht sicher. Die Leute, mit denen ich geredet habe, werden mehrheitlich nicht dort teilnehmen. Auch tauchte die Kritik auf, dass die Kirche diese Gottesdienste vor allem für sich selber durchführe. Aber ich muss und will das nicht werten.

zentralplus: Sie waren quasi von der ersten Stunde an, gemeinsam mit Ihrem Care-Team, Ansprechpartner für Betroffene und haben Seelsorgearbeit geleistet. Wie haben Sie das damals geschafft?

Rother: Damals konnte ich das. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das heute noch schaffen würde. Ich zweifle nicht daran, dass wir mit dem Care-Team etwas Positives bewirken konnten, wir haben jedenfalls gemacht, was wir konnten. Die Aufgaben eines Care-Teams sind grundsätzlich in einem zeitlich sehr begrenzten Rahmen.

zentralplus: Haben Sie noch heute mit Betroffenen von damals zu tun? 

Rother: Ich würde heute nur noch reaktiv arbeiten, also mit Leuten, die von sich aus auf mich zukommen. Proaktiv auf jemanden zuzugehen halte ich nicht mehr für angemessen. Denn viele Leute verbinden mit mir gewisse Situationen.

zentralplus: Wie meinen Sie das?

Rother: Dass durch mich eine Erinnerungsbrücke entsteht, welche die Menschen erneut belasten könnte.

zentralplus: Für Sie muss die Situation ebenfalls sehr schwierig gewesen sein. Wie sind Sie mit den Belastungen umgegangen?

Rother: Natürlich hatte ich persönliche Ansprechpersonen, auch tauschten wir uns aus. Man merkt ja dann irgendwann, wo man Abstand nehmen muss. Das ist in der herkömmlichen Seelsorge nicht anders.

Damaliger Beitrag der «Tagesschau» von SRF

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Laestic
    Laestic, 28.09.2016, 16:47 Uhr

    Alle Zugänge bei tagenden Parlamenten hätten schweizweit stets gesichert werden müssen. Aber eben, das kostet und da schweizweit zudem 2000 Polizisten (zur verhehlten Freude der betr. kant. Finanzdirektoren…)fehlen, geschah halt nichts, bis …..etwas geschah. So ist das bei uns > Es muss immer zuerst etwas geschehen….»Vorbeugung» ist ein politisches Fremdwort. Entsprechend Hellsehende, Klarsichtige können sich seltenst durchsetzen. Alles muss immer formaljuristisch vonstatten gehen, man (ein Ombudsperson) kann Querulanten nie zu einem Bier einladen und somit bei diesen deren Frust-STAU abbauen. Das liegt scheinbar nicht in unserer Gen-Gesinnung = gemäss unserer blutigen Schlachtenkriegervergangenheit, > ist unmännlich, nicht innerschweizerisch. «Ein Mann weint nicht», kämpft, gewinnt oder verliert > bringt sich – und ggf. auch andere – um. Alles andere ist unerträglicher Gesichtsverlust, der gerächt werden muss, auch wenn man dabei selber umkommt. // Die Leute erwarten einfach zu viel «Service» vom Staat. Dort arbeiten auch nur «Menschen» und der Staat muss, wie die Volkswirtschaft und die Amtskirchen, halt diejenigen Leute als Angestellte nehmen, die er «bekommt». Er hat und bekommt keine anderen > sog. besseren. Wer gegen den Staat verliert, hat entweder ungenügenden Anwalt, das (natürlich ungerechte….)Gesetz gegen sich oder schlicht Pech gehabt. Man muss halt auch mal offiziell verlieren können, dabei braucht man ja seine Selbstachtung nicht zu verlieren. Vielleicht ändern die Gesetze zum Besseren, man findet neue Gegenbeweise, tüchtigeren Anwalt und schon kann mans nochmals versuchen > gegen den Staat, wenn die Sache das auch wirklich wert war. Oft ist sie es nämlich wirklich nicht. Das Leben ist manchmal sehr ungerecht, dämmt die Lebensfreude aufs Minimum. Ja und dann? Dann bringt der Dummverbrecher sich (und andere) um, währenddem der Lebensklugtüchtige einige Zeit in sich (auf Tauchstation) geht, vielleicht umzieht und neu beginnt, mit anderen Leuten, anderem Umfeld.

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