Wie 2016? Vor 200 Jahren waren wir ohne Sommer!

Als sich die Luzerner von Aas und Gras ernährten

Der Tod ging um – 1816 – im Jahr ohne Sommer.

 

Vor 200 Jahren war die Aussage «Das ist ja kein Sommer» wirklich berechtigt. Denn 1816 schneite es selbst im Juli bis in die Niederungen. Auch in Luzern hungerte das Volk, die Kinder grasten auf den Wiesen, die Tiere verendeten. Die Welt war aus den Fugen. Und das alles wegen eines Ereignisses am anderen Ende der Welt.

Der Sommer 2016 wird schlecht – das prophezeite der Zürcher Böög und die Frühlingsmonate geben nicht viel Anlass zur Hoffnung –, das Wetter schlägt auf die Stimmung. Vor genau 200 Jahren jedoch, da ging es den Menschen so richtig dreckig. Denn das Jahr 1816 ging als «Jahr ohne Sommer» in die Geschichte ein – mit dramatischen Folgen.

Vulkanausbruch mit 140 Milliarden Tonnen Material

Ausgelöst wurde die damalige Kälte nach heutigem Wissensstand durch einen Vulkanausbruch am 5. April 1815 auf der indonesischen Insel Sumbawa. Ganze fünf Tage lang spuckte der Vulkan Tambora Feuer und Lava – 140 Milliarden Tonnen vulkanisches Material insgesamt. Es war der schlimmste Vulkanausbruch seit über 20’000 Jahren.

Die Folgen waren verheerend – 10’000 Menschen starben sofort. Und die Historiker gehen heute davon aus, dass mehr als 100’000 Menschen ihr Leben durch die Folgen des Ausbruchs verloren. Dies bei einer Weltbevölkerung von einer Milliarde.

Denn die grösste Gefahr lauerte in der ungeheuren Mengen vulkanischen Materials, deren kleinste Partikel bis in die Stratosphäre geschleudert wurden. Wie ein Schatten legte es sich über den gesamten Planeten und verdunkelte die Sonne. Es wurde kalt. Und die Welt geriet aus den Fugen.

Verfroren, verfault, verdorben

Die Schweiz 1816: Es schneit jeden Monat mindestens einmal bis auf 800 Meter, im Juli gar bis ins Flachland. Was auf den Feldern nicht dem Bodenfrost zum Opfer fällt, das verfault durch den dauernden Regen in der Erde oder wird weggeschwemmt. Es gibt eine katastrophale Missernte, gefolgt von Hungersnöten, Krankheiten und Aufständen, die speziell in der Zentralschweiz ausgeprägt sind.

Aus Not seien in der Schweiz die «ekelhaftesten Speisen» gegessen worden, schrieb der Chronist R. Zollikofer. Darunter Brei aus Knochenmehl, Heu oder getrocknete Kartoffelschalen. Mehl wurde damals in Luzern auch aus dem giftigen Getreideunkraut Turt hergestellt.

In der Innerschweiz «haben die Kinder oft im Gras geweidet wie die Schafe», berichtete der Schwyzer Armenfürsorger Augustin Schibig. Wer Glück hatte, erwischte zwischendurch noch einen Hund oder eine Katze. Auch die verendeten Pferde wurden gegessen, heisst es in Luzerner Aufzeichnungen.

Zeichnung eines unbekannten Künstlers von der Hungersnot: Menschen grasen mit den Kühen. (Bild: Toggenburger Museum Lichtensteig)

«Von einem Leichnam als Leichnam geboren»

Die Schilderungen aus der Zeit malen ein grausliges Bild: «In einem kleinen Stübchen waren acht Menschen in Lumpen, die als zerrissne, zerfranste Fetzen kaum an ihnen hängen bleiben konnten», schrieb ein Augenzeuge namens Scheitlin 1816 aus dem Glarnerland. «In einer Wiege lag ein neugebornes Kind, von einem Leichnam erzeugt, und von einem Leichnam als Leichnam geboren. Wie aus Gräbern hervorgescharrt sahen alle Anwesenden aus; am elendesten der ausgemagerte Vater des Kindes, dessen hohle Augen und eingefallene Backen die Nähe des Todes verkündigten.»

«Herr, wir müssen halt sterben. Wir müssen halt verhungern», hätten die Menschen Scheitlin gesagt.

Überfüllte Gefängnisse

Die Notlage schlug sich aber auch auf die Anzahl der Straftaten aus. Während 1815 nur 63 Fälle vors Kriminalgericht kamen, waren es zwischen Juli 1816 und Juni 1817 ganze 186 Fälle. Die Historikerin Heidi Bossard-Borner schreibt in ihrer Abhandlung aus dem Kanton Luzern: «Im Juli 1817 waren die Gefängnisse derart überfüllt, dass Seuchengefahr bestand.»

Im Luzerner Staatsarchiv finden sich auch Zeugnisse von einer privaten Suppenanstalt, die extra eingerichtet werden musste, um die Bedürftigen zu versorgen. Die Todesfälle stiegen im Jahr 1817 im Vergleich zu den fünf vorherigen Jahren in Luzern um 43 Prozent.

Gottes Strafe oder doch die Blitzableiter?

Die Leute ahnten damals nicht, dass ein weit entfernter Vulkanausbruch all ihr Leid verursacht hatte. Einige gaben der neuen Erfindung namens Blitzableiter die Schuld. Er habe die Wärme der Erde abgeleitet. Die meisten jedoch betrachteten die Hungersnot als Strafe Gottes. Davon zeugen auch zwei Medaillen aus dem Historischen Museum Luzern.

Eine Erinnerungsmedaille aus dem Jahr 1816/17 zeigt ein betendes Paar mit Kornfeld und eine Bauernfamilie vor einem Baum. Die Umschrift lautet: «Gros ist die Noth O Herr erbarme dich». Eine weitere Medaille aus derselben Zeit ziert eine Frau mit Kindern und die Aufschrift: «O gib mir Brod mich hungert». Auf der Rückseite heisst es: «Verzaget nicht – Gott lebet noch».

Ausgelöst durch das Elend

Doch die Not machte auch erfinderisch. Der vulkanische Winter soll die 18-jährige Mary Godwin und spätere Mary Shelley am Genfersee zu ihrem Horror-Bestseller «Frankenstein» inspiriert haben. Und der deutsche Erfinder Karl Drais soll das Tretrad – den Vorgänger des Velos – nur erfunden haben, weil die Pferde wegen dem Mangel an Hafer haufenweise verendeten.

Nach einer solchen Geschichte lassen sich doch die paar kommenden Regentage gleich viel gelassener ertragen.

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