Eine Frau erzählt vom Suizid ihres Partners

Eine Angehörige gibt Ratschlag: «Darüber reden, nicht schweigen!»

Für Hinterbliebene ist es schlimm, wenn der Suizid von Angehörigen totgeschwiegen wird.

 

(Bild: Emanuel Ammon/AURA)

Wenn sich jemand das Leben nimmt, folgt oft das grosse Schweigen. Dabei sind Tausende Menschen davon betroffen. Auch die Angehörigen, die nach einem Suizid traumatisiert zurückbleiben. Das hat auch Anita Bättig erlebt: Ihr Partner hat sich das Leben genommen.

Täglich verüben in der Schweiz im Schnitt drei Menschen Suizid. 2014 waren es im Kanton Luzern 76 Personen. Dazu kommen 49 Suizidversuche und eine unbekannte Anzahl geplanter Selbsttötungen, die nirgends registriert sind. Bei jeder Selbsttötung bleiben rund sechs Menschen zurück, die dem oder der Verstorbenen nahegestanden sind – nicht eingerechnet sind betroffene Lokführer, Polizisten, Ärzte und andere Fachpersonen.


Hinterbliebene sind oft traumatisiert

Was heisst es für Angehörige, die einen geliebten Menschen durch Suizid verloren haben? Wir wollten von Anita Bättig wissen, wie sie den Suizid ihres Partners verarbeiten konnte und welche Ratschläge sie für andere Betroffene hat, die einen Menschen durch Suizid verloren haben.

zentralplus: Ihr Partner Roberto hat sich vor 15 Jahren das Leben genommen. Wie haben Sie damals diese Nachricht bekommen und was war Ihre erste Reaktion?

Anita Bättig: Zuerst war ich erleichtert. Ich ahnte, dass sich Roberto etwas angetan hatte, zwei Tage vorher hatte ich eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Die Ungewissheit war extrem schlimm: Wo ist er? Was tut er sich an und was, wenn man ihn gar nie findet? Als die Polizei die Nachricht brachte, war das wie eine Erlösung. Und nachher kam dann ganz schnell der Schock. Zuerst bin ich in eine Starre gefallen, danach ist meine Welt komplett zusammengestürzt. Eine Erfahrung, die ich niemandem wünsche.

Buch und Anlaufstellen

Das Büchlein «Darüber reden» versammelt sehr persönliche Texte von Hinterbliebenen, die jemanden durch Suizid verloren haben.

Die Autorinnen – darunter auch Anita Bättig – wollen Menschen in gleicher Situation in ihrer Trauerarbeit unterstützen, aber auch Nichtbetroffene für das Thema sensibilisieren.

(Bild: Buchcover, zVg)


Anlaufstelle für Hinterbliebene

Es gibt einige Organisationen, an die sich Hinterbliebene wenden können. Dazu gehört etwa der Verein für Hinterbliebene nach Suizid (www.verein-refugium.ch).




zentralplus: Gab es bei Ihrem Partner Anzeichen dafür, dass er sich etwas antun könnte, und falls ja: Wie haben Sie darauf reagiert?

Bättig: Roberto ging es seit ein paar Jahren schlecht. Beruflich lief es nicht gut, dazu sind körperliche Beschwerden gekommen. Das waren mit Gründe, dass er psychisch in keiner guten Verfassung war. Er hat mehr als einmal angedeutet, dass er mit dem Gedanken einer Selbsttötung spielte. Das war auch für mich sehr schwierig. Mir war bewusst, was das für mich heissen würde, und ich habe Roberto gefragt: «Denkst du dabei auch an mich?» Konkret unternommen habe ich nichts, es war ja alles sehr diffus. Im Rückblick würde ich vielleicht anders reagieren, zum Beispiel seinen Hausarzt kontaktieren und dort Unterstützung holen. Damals habe ich zwar vermutet, aber nicht erwartet, dass er seine Pläne wirklich umsetzt.

«Ich rate auf jeden Fall dazu, solche Äusserungen ernst zu nehmen.»

zentralplus: Was raten Sie Betroffenen, deren Angehörige Suizidabsichten äussern?

Bättig: Das ist sehr individuell, von Situation zu Situation anders. Aber ich rate auf jeden Fall dazu, solche Äusserungen ernst zu nehmen und das Gespräch zu suchen: Die suizidale Person darauf ansprechen, und zwar ganz konkret, ohne um den heissen Brei herumzureden. Du hast Suizidabsichten? Warum? Hast du schon Pläne dazu? Man kann dann anbieten, sie oder ihn zum Arzt zu begleiten, allenfalls in die Permanance oder den Notfall. In einer akuten Krisensituation kann man auch den Notfallarzt über 118 anrufen, der dann einen Notfallpsychiater avisiert. In jedem Fall aber: Darüber reden und nicht schweigen!

zentralplus: Sie waren zehn Jahre mit Roberto zusammen, kannten ihn entsprechend gut und wussten von seiner schlechten psychischen Verfassung. Haben Sie sich nach seinem Suizid Vorwürfe gemacht?

Bättig: Natürlich. Das ist etwas vom Schlimmsten für die Angehörigen. Die quälenden Überlegungen: Was habe ich nicht bemerkt, was falsch gemacht, wie hätte ich helfen können? Diese Fragestellungen haben mich extrem beschäftigt – nicht erst nach, sondern schon vor seinem Suizid. Roberto wollte sich auch gar nicht helfen lassen. Das hat mich extrem ohnmächtig gemacht.

(Bild: Emanuel Ammon/AURA)


zentralplus:
Wie sind Sie mit den angesprochenen Selbstvorwürfen umgegangen, und was hat Ihnen in der ganzen Situation geholfen?

Bättig: Sehr hilfreich war für mich die sogenannte «Realitätsprüfung». Dabei schaut man mit Freunden oder Fachpersonen genau hin und geht alle diese Vorwürfe, Gedanken und Fragen Punkt für Punkt durch: Wie war das genau? Was hat er gesagt? Wie habe ich reagiert? Was hätte ich anders machen können? – Halt all die Sachen, die einen dann beschäftigen. Die Selbsttötung von Roberto zu verarbeiten, war ein jahrelanger Prozess. Wichtig war für mich sein Abschiedsbrief, in dem er seine Entscheidung zu erklären versuchte. Und schreiben hat mir auch sehr geholfen (siehe Box).

«Manchmal kam ich mir vor, als hätte ich die Pest.»

zentralplus: Wie reagierte Ihr Umfeld auf den Suizid Ihres Partners, und was könnte der Bekanntenkreis in einem gleichen Fall besser machen?

Bättig: Bis auf einige Menschen, die Anteil an meinem Schicksal nahmen, reagierte mein Umfeld mit eisernem Schweigen. Manchmal kam ich mir vor, als hätte ich die Pest. Es gab Leute, die förmlich zurückwichen, wenn ich erzählte, was passiert war. Das war schlimm für mich, ich fühlte mich extrem alleine gelassen. Ich selber konnte in meiner Sprachlosigkeit auch nicht auf mein Umfeld zugehen, was einen gegenseitigen Dialog dann unmöglich machte. Es sind kleine Zeichen, die in dieser Situation gut tun: ein Kärtchen, eine Blume vor der Tür, das Angebot eines gemeinsamen Essens. Wichtig ist, beziehungsweise wäre es auch, dass zurückgebliebene Angehörige über längere Zeit Anteilnahme erfahren, nicht nur im ersten Moment – denn die Verarbeitung eines solchen Erlebnisses dauert unglaublich lange.

«Solange das Thema tabuisiert ist, finden wir auch keine Sprache dafür.»

zentralplus: Suizid und die Auswirkungen auf Betroffene und Angehörige werden tabuisiert. Warum ist das so, und wie könnte es geändert werden?

Bättig: Ich verstehe nicht, dass ausgerechnet darüber in der Gesellschaft keine Diskussion stattfindet. Für alles, aber wirklich alles gibt es riesige Präventionskampagnen. Wir werden aufgeklärt über die Risiken von Aids, Fettleibigkeit, Alkoholsucht und so weiter – aber Suizid? Kaum ein Wort, viel zu wenig Prävention. Obschon durch Suizid so viele Menschen sterben und Tausende Betroffene traumatisiert zurückbleiben. Solange das Thema tabuisiert ist, finden wir auch keine Sprache dafür. Und was versteckt ist, lässt sich nicht lösen. Darum ist es mir ein grosses Anliegen, über meine Erfahrungen zu sprechen.

zentralplus: Welchen Ratschlag haben Sie für andere Betroffene, die einen Menschen durch Suizid verloren haben?

Bättig: Es ist wichtig, dass nicht nur dieser Schluss in Erinnerung bleibt. Wichtig ist es, auf das ganze Leben zurückzublicken, auf die guten und schönen Momente, die man erlebt hat. Auch das Verzeihen ist wichtig: dem Menschen, der Suizid begangen hat – aber auch sich selber. Dies ist aber ein Prozess, der oft viele Jahre braucht. Es gibt mehrere Anlaufstellen für Hinterbliebene, diese empfehle ich unbedingt: Der Austausch mit anderen Betroffenen hat mir sehr geholfen.

 

 

 

 

«Die Dargebotene Hand»

Bei der Dargebotenen Hand Zentralschweiz gehen jährlich rund 13’000 Anrufe ein. Geschäftsführer Klaus Rütschi gibt Auskunft:

Klaus Rütschi, Geschäftsleiter Dargebotene Hand Zentralschweiz.

Klaus Rütschi, Geschäftsleiter Dargebotene Hand Zentralschweiz.

(Bild: zVg Dargebotene Hand)

zentralplus: Herr Rütschi, Sie sind Geschäftsleiter der Regionalstelle Zentralschweiz. Hier gehen jährlich rund 13’000 Anrufe ein. Sind darunter auch solche von Menschen mit suizidalen Gedanken?

Klaus Rütschi: Ja, im Durchschnitt kommen etwa zwei bis drei Prozent der Telefonanrufe von Menschen mit Suizid-Absichten, im 2015 waren es etwa 200 Anrufende. Derzeit nehmen diese Anrufe eher ab: 2014 und 2013 waren es noch 300–400 Anrufe mit Suizid-Absichten. Der grösste Teil ist Mitte 40 bis 50. Aber wir haben auch Anrufende von über 65 Jahren. Eine Zunahme verzeichnen wir bei den jüngeren Leuten. Ein grosser Anteil unserer Anrufenden sind Frauen.

zentralplus: Wie können Sie telefonisch bewirken, dass sich die Anrufenden beruhigen?

Rütschi: Der Leidensdruck ist bei diesen Personen meistens riesengross. Den einzigen Ausweg sehen sie im Suizid. Diese Entscheidung müssen wir gemeinsam mit dem Anrufenden immer wieder hinterfragen und ihm aufzeigen, warum das Leben doch lebenswert ist. Das ist eine lange Sinn- und Such-Reise.

zentralplus:
Was raten Sie den Anrufenden: Was sollen sie machen, wohin sich wenden?

Rütschi: Wir geben keine konkreten Ratschläge. Zuerst müssen wir den Druck abbauen, die Krise entschärfen. Danach besprechen wir gemeinsam mögliche Lösungen. Die Lösungen müssen aber dem Anrufenden passen. Vielleicht ist es für den einen suizidalen Menschen einfacher, sich an einen Arzt seines Vertrauens zu wenden. Vielleicht ist es aber auch möglich, sich im Umfeld der Familie oder bei Freunden zu öffnen und Hilfe zu suchen. Selbstverständlich verfügen wir über eine Datenbank von etwa 600 Fach- und Beratungsstellen in der Zentralschweiz.

zentralplus: Falls es ein akuter Ernstfall ist: Gibt es eine Krisenstrategie? Werden andere Stellen wie etwa die Polizei zugezogen?

Rütschi: Anders als beispielsweise bei einem Arzt, droht dem suizidalen Mensch keine Einweisung in eine Psychiatrie, wenn er bei uns anruft. Unsere Dienstleistung ist deshalb sehr niederschwellig. Wir arbeiten anonym. Wir sehen also nicht, wer und von wo jemand anruft. Für uns ist das sehr schwierig auszuhalten. Aber unsere Telefonberatenden versuchen alles, um die Suizid-Absichten zu vereiteln und den Menschen wieder Stück für Stück ins Leben zurückzubringen.

 

 

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