Kritik an Betreuungsgutscheinen für Kitas

Kinderbetreuungs-Tourismus in Zug

Die Chamer Spielgruppe Chnopf (Bild) wird nach 39 Jahren ihre Türen schliessen. Die Eltern müssten mit dem neuen System viel mehr zahlen, sagen die Leiterinnen.

Die Stadt Zug prüft, ob sie Betreuungsgutscheine in den Kindertagesstätten (Kitas) einführen will. Cham und auch Baar haben den Systemwechsel Anfang 2016 vollzogen. Nun wird Kritik laut. Das System führe zu massiven Mehrkosten und einem «Kinderbetreuungs-Tourismus» zwischen den Gemeinden, monieren die Leiterinnen einer Chamer Kindereinrichtung. Kann die Stadt Zug aus allfälligen Fehlern lernen?

Die zwei Leiterinnen der Spielgruppe Chnopf und die Eltern der Kinder wehren sich momentan gegen ihre «Vertreibung». Die Chamer Spielgruppe, die bereits 39 Jahre existiert, ist in einer ehemaligen Zivilschutzanlage im Schulhaus Städtli untergebracht. Doch die Gemeinde hat Eigenbedarf angemeldet auf Anfang 2017. Die Spielgruppe Chnopf muss raus. Die Gemeinde braucht den Platz für die schulergänzende Betreuung von Kindergarten- und Primarschulkindern.

Anfang Monat publizierte die «Neue Zuger Zeitung» einen Protest-Leserbrief von Eltern. Sie verlangten vom Gemeinderat Cham einen alternativen Standort in der Region Städtli. Als Ersatz wurden der Spielgruppe Chnopf daraufhin im Kleinschulhaus Enikon Räume der Musikschule angeboten, die sie mieten könnte. Doch die Leiterinnen Gaby Nussbaumer und Lisbeth Wäspi waren nicht zufrieden und wehren sich weiter. Die Miete sei viermal so teuer am Ersatzstandort. Zudem befänden sich bereits vier andere Spielgruppen in diesem Einzugsgebiet.

Kritik am neuen System

Die Leiterinnen kritisieren überdies das System der Betreuungsgutscheine. Es bringt eine gewisse Vereinheitlichung mit sich. Fakt ist: Die Spielgruppe profitiert nicht mehr wie bis anhin von einem vergünstigten Mietzins. Gemeindeeigene Räume müssten neu zu marktüblichen Preisen gemietet werden, so Lisbeth Wäspi. Sie betont, dass die mit der Gemeinde getroffene Vereinbarung über die Betreuungsgutscheine «das Geschäft» auch sonst verteuern würde. Das massgebliche Einkommen der Eltern sei zu tief angesetzt, die Gutscheine zu wenig hoch.

«Die Spielgruppen in anderen Gemeinden müssen keine Qualitätskriterien erfüllen wie wir.»
Lisbeth Wäspi, Leiterin Spielgruppe Chnopf

Wäspi erklärt zentralplus: «Die Spielgruppen in anderen Gemeinden müssen keine Qualitätskriterien der Gemeindebehörden erfüllen wie wir.» Es würden lediglich die Richtlinien des Schweizerischen Spielgruppenverbands SSLV gelten.

Die Gemeinde Cham verlange zum Beispiel neu zwei Betreuungspersonen statt nur eine für zehn Kinder. Bisher hätten die Spielgruppen diese Empfehlung ihres Verbands auf freiwilliger Basis erfüllen können. «Wir haben das teilweise schon gemacht und wollten das schrittweise einführen», so Wäspi. Jetzt müssen sie.

«Tourismus» zwischen Gemeinden mit und ohne Gutscheine?

Wäspi: «Das erhöht natürlich zusätzlich unsere Kosten. Es ist ein Mehraufwand, den man den Eltern erklären muss.» Zudem hätten die Leiterinnen einen grösseren administrativen Aufwand mit Formularen, welche sie für die Gemeinde ausfüllen müssten. Abschreckend wirke für die Eltern auch das Beantragen der Gutscheine auf dem Sozialamt Cham.

Eltern würden ihre Kinder deshalb lieber nach Hünenberg oder Steinhausen bringen, wo die Spielgruppen keine Betreuungsgutscheine kennen und dadurch günstiger seien.

«Von 1400 auf mindestens 2700 Franken pro Kind»

Die zwei Leiterinnen haben nun genug. Sie haben den Mietvertrag mit der Stadt und ihren Angestellten gekündigt. Am 1. Juli schliesst die Spielgruppe Chnopf. Der Grund sind die Kosten. Spielgruppenleiterin Wäspi gegenüber zentralplus: «Ein Platz in der Spielgruppe kostete bisher 1400 Franken im Jahr. Von diesem Betrag bekommen die Eltern maximal 900 Franken von der Gemeinde zurückerstattet. Mit dem Umzug, den neuen Vorschriften und dem Mehraufwand haben wir ausgerechnet, dass ein Platz bald mindestens 2700 Franken im Jahr kosten würde.»

Cham hat als erste Gemeinde Spielgruppen integriert

Die Chamer Vorsteherin für Soziales, Christine Blättler-Müller, weist darauf hin, dass die Spielgruppen ein Sonderfall sind. Die Gemeinde Cham sei nach kantonalem Gesetz verpflichtet, für Kitas, Horte und schulergänzende Angebote die Qualität der Kinderbetreuung zu sichern. «Für Spielgruppen existiert diese Pflicht nicht», sagt die CVP-Gemeinderätin «Da wir der Meinung sind, dass Spielgruppen für die Früherziehung eine wichtige Rolle spielen, haben wir diese als erste Gemeinde ins System der Betreuungsgutscheine integriert.»

«Wir bedauern, dass die Leiterinnen die Spielgruppe Chnopf schliessen.»
Christine Blättler-Müller, Gemeinderätin Cham

Das System der Betreuungsgutscheine sehe vor, dass die Unterstützungsbeiträge neu direkt den Eltern aufs Konto überwiesen werden, anstelle von Subventionen zuhanden der Anbieter. Christine Blätter-Müller räumt ein: «Vorher profitierten Gruppen teilweise von reduzierten Mietzinsen. Nun können wir im neuen System nicht einer Spielgruppe eine Reduktion geben und der anderen nicht. Wir verstehen jedoch, dass die Spielgruppe Chnopf sich durch diese Veränderung eingeschränkt fühlt, und bedauern, dass die Leiterinnen die Spielgruppe Chnopf schliessen.»

Zu den Mehrkosten des Systemwechsels sagt Blättler-Müller, es führe höchstens zu Mehrkosten für die Gemeinde, jedoch nicht für die Betreuungseinrichtungen. Zum «Formularkrieg» sagt sie, sie gehe davon aus, dass eine Spielgruppe durchschnittlich 15 Formulare im Jahr ausfüllen muss. Lediglich die Kinder müssten angemeldet werden. Und was sagt sie zum kritisierten «Kinder-Tourismus»? «Die Spielgruppen, die Betreuungsgutscheine anbieten, haben konkurrenzfähige Tarife. Wir nehmen erste Evaluationen vor.»

Stadt Zug evaluiert Vor- und Nachteile

Und was meint man im Zug zum Theater in der Nachbargemeinde? Keine der angefragten Zugerinnen, die mit dem Thema zu tun haben, wollte sich näher äussern. Sie weisen jedoch daraufhin, dass in Zug bei einem Systemwechsel nur Kindertagesstätten in den Genuss der Gutscheine kämen.

In der Stadt Zug werden gewisse Kitas und auch Spielgruppen imme noch direkt subventioniert. Doch die Stadt prüft derzeit aufgrund einer überwiesenen FDP-Motion, ob sie einen Systemwechsel auf Betreuungsgutscheine vornehmen soll. «Wir stecken mitten im Entscheidungsprozess», sagt Vroni Straub-Müller, Vorsteherin des Zuger Bildungsdepartements auf Anfrage. Es wäre ein Wechsel von der «Objekt- zur Subjektfinanzierung».

Eine Fachgruppe aus dem Bildungsdepartement prüfe momentan alle Vor- und Nachteile sowie allfällige Risiken des Systems mit den Gutscheinen. «Ich kann noch nicht sagen, wie es rauskommt und was wir dem Gesamtstadtrat empfehlen werden: den Wechsel oder die Beibehaltung des Status quo.» Sie rechnet damit, dass die Vorlage im Herbst 2016 in den Grossen Gemeinderat kommen wird.

Vroni Straub-Müller: «Nicht elf verschiedene Systeme»

Was hält Straub-Müller persönlich vom System mit den Betreuungsgutscheinen? «Persönlich würde ich es begrüssen, wenn alle Gemeinden in unserem kleinen Kanton das gleiche System hätten und nicht elf verschiedene. Das wäre kundenfreundlich, besonders bei einem Umzug.»

Die Akzeptanz der Betreuungsgutscheine sei schwierig abzuschätzen. Die FDP-Motion wurde diskussionslos überwiesen. Politisch wurde das Thema, anders als in Baar oder Cham, in Zug noch nicht diskutiert. «Wichtig ist mir aber, dass wir den Mittelstand bedienen können», sagt die CSP-Stadträtin, «der Mittelstand fällt aus allen Subventionen heraus. Es sollte sich für die Eltern lohnen zu arbeiten, ohne dass sie ihren ganzen Lohn wieder der Kita abgeben müssen.»

«Ich rechne nicht mit mehr Geld vom Parlament.»
Vroni Straub-Müller, Stadträtin Zug

Zur Befürchtung von Mehrkosten sagt Müller-Straub: «Wir haben drei Millionen Franken im Topf.» Sie glaube nicht, das die Stadt Zug mehr Geld für die Kinderbetreuung vom Parlament bekommen werde.  Doch je nach Bedingungen für die Betreuungsgutscheine – wenn man zum Beispiel die Einkommensobergrenze weiter senkt – steigt natürlich die Anzahl der Berechtigten für Betreuungsgutscheine. Und die Nachfrage nach Plätzen steigt.

KiBiZ-Präsidentin spricht von Quantensprung

Der grösste Anbieter von Kindertagesstätten in Zug ist KiBiZ. Im Jahresbericht spricht Präsidentin Karen Umbach von einem bevorstehenden «Quantensprung in der Stadtzuger Familienpolitik». KiBiZ stehe einem bedarfsgerechten Betreuungsgutscheinmodell, bei dem auch der Mittelstand profitieren könne, positiv gegenüber. Die FDP-Gemeinderätin begrüsst wie ihre Partei den Systemwechsel. «Ich finde das System fairer», sagt Umbach. Es profitierten nicht nur mehr die Eltern, die das Glück hätten, einen subventionierten Platz zu bekommen. Der Wettbewerb zwischen Anbietern führe dazu, dass mehr Plätze geschaffen würden.

«Wenn die finanziellen Mittel gleich hoch bleiben, hebt sich der positive Effekt auf.»
Esther Krucker, Geschäftsführerin KiBiZ Zug

KiBiZ-Geschäftsführerin Esther Krucker sagt auf Anfrage: «Das System hat sicher Vorteile, weil die Eltern mehr Wahlfreiheit bei den Kitas haben.» Heute hätten ja nicht alle Kitas Leistungsvereinbarungen mit der Stadt Zug. Doch Krucker weist darauf hin, dass es ein Problem geben könnte, wenn ein grösserer Personenkreis von den Betreuungsgutscheinen profitiere, aber die finanziellen Mittel gleich hoch blieben. «Dann ist der positive Effekt natürlich ein Stück weit aufgehoben.»

Branchenübliche Löhne mit heutigem System

Sie hofft auch, dass die heutigen Qualitätskriterien bei einem allfälligen Systemwechel beibehalten werden. Die Stadt Zug verlangt heute branchenübliche Löhne für die Erzieherinnen. Und dass die Kitas Lernende ausbilden. Ebenso will man, dass die Kitas Praktikantinnen im Anschluss eine Lehrstelle anbieten und sie nicht als «günstige Arbeitskräfte» ausnützen. «Dies ist teilweise ein Problem in der Branche», so Krucker (siehe zentralplus-Bericht zum Thema).

Betreuungsgutscheine: In Cham, Baar und bald in Zug?

Das System der Betreuungsgutscheine ist in den grösseren Zuger Gemeinden ein Thema. Cham und Baar haben den Systemwechsel in der familienergänzenden Kinderbetreuung in diesem Jahr eingeführt. Die Gemeinde subventioniert damit die Einrichtungen nicht mehr direkt, sondern gibt den Eltern einkommensabhängige Betreuungsgutscheine ab.

In der Stadt Zug hat der Grosse Gemeinderat eine FDP-Motion überwiesen, welche den Wechsel anregt.

Das System war auch in Baar nicht unbestritten, wie man in den Unterlagen zur Urnenabstimmung von 2015 nachlesen kann. Dort sorgte die Einkommensobergrenze für Diskussionen. Die Frage war ausserdem, ob die Gutscheine auch in bewilligten Kitas anderer Zuger Gemeinden gelten sollten. Die Baarer Kitas befürchteten, dass ihre Position dadurch geschwächt würde, weil der Markt stärker spielen würde. Deshalb hat Baar auf die Ausweitung verzichtet und beschränkt sich auf sein eigenes Gemeindegebiet.

In Cham ist der Kreis der Einrichtungen mit einer Vereinbarung weiter gefasst worden. So hat Cham auch Vereinbarungen mit Kitas der KiBiZ Zug und schliesst Vereinbarungen mit den Spielgruppen ab. Diese waren bisher frei, wie sie sich organisierten. Jetzt müssen sie gewisse Qualitätskriterien erfüllen, die sich an den Empfehlungen des Verbands ausrichten (Auch in Cham brauchte es 2015 eine Urnenabstimmung zur Einführung des neuen Systems mit den Gutscheinen).

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