«Mein Leben als Alkoholiker» – Teil II

«Ich habe mich gehasst, ich habe die Freier gehasst»

Ein 74-Jähriger schaute am Montagabend wohl zu tief ins Glas – den Führerschein musste er auf der Stelle abgeben.

(Bild: Symbolbild: fotolia)

Für Toni wurde der Alkohol schon früh zur Sucht, für die er sogar seinen Körper verkaufte – auf dem Luzerner Inseli. zentral+ erzählt der 65-jährige Familienvater seine Geschichte, die nahegeht. Teil II unserer Kurzserie.

Toni* wächst als eines von neun Kindern im ländlichen Luzern auf, das Geld ist immer knapp. Schon in der 3. Klasse beginnt er selbst etwas zu verdienen, indem er bei einem Bauern aushilft.

Das erste Mal trinkt er mit 14, gemeinsam mit seinem Arbeitgeber an Silvester auf einer Beizentour. Betrunken schläft er noch vor Mitternacht ein, seine Eltern halten ihm am nächsten Tag eine Standpauke. Danach ist der Alkohol eine ganze Weile kein Thema mehr in Tonis Leben.

Als er in die Lehre kommt, zieht es ihn weg. Sein gewalttätiger und unberechenbarer Vater ist der Auslöser für seine Entscheidung, sich etwas in einem anderen Kanton zu suchen. «Ich musste weg, da ich Angst davor hatte, meinem Vater irgendwann etwas anzutun», sagt der heute 65-Jährige. Er sucht sich eine Ausbildungsstelle als Automechaniker mit Kost und Logis im Aargau.

Da er beim Chef wohnen und essen kann, erhält er keinen Lohn – höchstens ein paar Rappen Trinkgeld. Bald ist die Situation für den jungen Mann unaushaltbar. Sein Chef ist regelmässig betrunken. «Und der ist ja Geschäftsmann, dachte ich mir. Das gehört also dazu.»

«Ich landete schliesslich auf dem Schwulenstrich beim Inseli.»

Toni beginnt an den Wochenenden zu trinken. «Sonst hält man das ja nicht aus», sagt er sich. Um jedoch am Wochenende etwas trinken zu können, beginnt er immer öfters kleine Beiträge zu klauen, aus der Kasse im Betrieb, aus dem Elternhaus – ein paar Franken, mehr nie.

Doch das schlechte Gewissen plagt ihn: «Deswegen musste ich mehr trinken, und dafür musste ich mehr Geld klauen – ein Teufelskreis.» Das geht so weiter, über zwei Jahre hinweg. Doch das schlechte Gewissen wächst. Schliesslich zeigt er sich bei der Luzerner Polizei selbst an. Doch die kleinen Beträge im eigenen Betrieb und der Familie sind für die Behörden nicht interessant – Hausgenossendiebstahl nennt man das. Mithilfe seines Bruders, der in den USA gut verdiente, wird das Geld zurückbezahlt und die Sache ist erledigt. «Vom Saufen war keine Rede.» Alles ist wieder gut, Toni zurück bei seinem Lehrmeister.

Klauen will er nicht mehr, doch das Geld für den Alkohol am Wochenende muss er irgendwie auftreiben. «Ich landete schliesslich auf dem Schwulenstrich beim Inseli.» Schnell verdientes Geld, doch er leidet unter der Situation. «Ich habe mich dafür gehasst, ich habe die Freier gehasst.» Die Freier bestiehlt er regelmässig. Was er gebrauchen kann, lässt er mitgehen. Dass Freier einen Stricher anzeigen würden – das ist zu dieser Zeit kein Thema – zu gross ist das Tabu.

Immer stärker braucht Toni den Alkohol am Wochenende. Sonst hält er das Leben nicht aus. Er spürt noch kein Zittern, noch nicht das Reissen, das er später kennenlernen wird. Aber der Alkohol am Wochenende, der muss einfach sein.

Mit 18 lernt er eine Frau kennen, ein paar Jahre älter als er. Er verliebt sich, schmeisst die Lehre hin, um ihr etwas bieten zu können. «Ich wollte der Mann sein, arbeiten und Geld nach Hause bringen.» Doch auch die Angst vor der Lehrabschlussprüfung lässt ihn die Lehre kurz vor Ende hinschmeissen. Über seine Zweifel und Ängste spricht er mit niemandem.

Toni ist verliebt, arbeitet als Chauffeur – er ist zufrieden. In den folgenden Monaten trinkt er kaum. «Ich brauchte keinen Alkohol, wenn ich verliebt war.» Doch nach ein paar Monaten bekommt er den Tripper. «Die Zeit auf dem Strich war schon zu lange her, ich wusste: Es musste von meiner Freundin sein.» Und tatsächlich gesteht sie ihm, regelmässig fremdzugehen. Für Toni bricht eine Welt zusammen. Er verlässt sie, beginnt wieder viel zu trinken, geht wieder auf den Strich. Und wieder steckt er im selben Teufelskreis.

«Ich habe damals meine Seele missbraucht.»

Schliesslich spannt er einem Bekannten vom Schwulenstrich die reiche, sexsüchtige Freundin aus, eine 46-jährige Witwe mit einer eigenen Apotheke.

Er gibt ihr den Sex, den sie braucht. Sie kauft ihm Kleidung, ein Auto. Sie unternehmen gemeinsam Wochenendtrips in andere Städte. Essen, Shoppen, Sex. «Am Anfang war das noch lustig.» Aber nach einer Weile wird es ihm zu viel. Er beginnt, Pervitin zu konsumieren. Heute kennt man das Medikament als «Crystal Meth». Es nimmt die Hemmungen, fördert die Potenz, steigert die Energie und neutralisiert die Wirkung des Alkohols.

«Ich habe damals meine Seele missbraucht – bei den Männern und bei dieser Frau. Unter Einfluss oder auch für den Alkohol.» Er trinkt, um abzuschalten – jeden Abend. Am Wochenende durchgehend. Pervitin nimmt er, um nachts für sie und am Tag im Job zu funktionieren.  Zu Beginn ist es eine Pille pro Tag, doch schnell sind es vier bis fünf.

Alkoholismus

Das Bundesamt für Gesundheit liess 2014 ein Suchtmonitoring durchführen (siehe Links zum Thema). Die Ergebnisse zeigen, dass in der Schweizer Bevölkerung ab 15 Jahren neun von zehn Personen zumindest gelegentlich Alkohol trinken. Etwa eine von zehn Personen trinkt täglich, etwas mehr als 40 Prozent trinken mehrmals pro Woche, aber nicht täglich und ein Drittel trinkt seltener als wöchentlich. Zirka eine von zehn Personen trinkt nach eigenen Angaben nicht mehr oder hat in ihrem Leben noch nie getrunken.

Gemäss Schätzungen sind in der Schweiz etwa 250’000 Personen alkoholabhängig.

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Hilfe findet man zum Beispiel bei den Anonymen Alkoholikern. Auch in Luzern finden regelmässig Meetings statt (siehe Links zum Thema).

Abschalten geht plötzlich gar nicht mehr. Die Situation eskaliert. «Ich hatte drei, vier Wochen nicht geschlafen, wollte einfach nur noch runterkommen.» Da findet er in der Wohnung seiner Freundin Valium. Er nimmt 70 Tabletten Valium auf einmal – alles, was da ist – und wacht in der Psychiatrie wieder auf.

Das Saufen, das Pervitin wird nicht entdeckt: Blutbilder macht man noch nicht. Und Toni sagt wieder nichts. Er schiebt die schwierige Beziehung vor und verhindert damit, dass er eine Therapie machen muss. So kann er weiterarbeiten, zieht bei der Frau aus und mit 19 wieder zu Hause ein. Zwei Wochen lang trinkt er nichts.

Dann steht die Rekrutenschule bevor. Um diese gut durchzustehen, holt Toni am Wochenende vorher die 1700 Franken von der Bank, die er dank der reichen Exfreundin gespart hat. Er plant, das Geld mit in die RS zu nehmen.

Am Freitag vor dem Einrücken trifft er Freunde auf ein Bier. 50 Franken hat er dabei. Am Sonntag erwacht er bei der Polizei mit 35 Franken im Sack, mit denen er die Übernachtung in der Zelle zahlen muss. «Nicht so tragisch», dachte ich mir. «Da bin ich mal wieder etwas abgestürzt.» Aber als er zu Hause ankommt, sind die 1700 Franken weg. Er erfährt von seiner Mutter, dass er mehrmals da war, um Geld zu holen. Erinnerungen daran hat er keine mehr. Er weiss nichts mehr. «Ich muss alles versoffen und verhurt haben.»

Nach der RS – nach 17 alkoholdurchtränkten Wochen – beginnt er einen neuen Job auf Montage – er verdient gut. Er trinkt nicht wenig, aber selten zu viel. Nach ein paar Jahren lernt Toni seine zukünftige Frau kennen.

«Ich trank jeden Abend meine fünf bis zehn Bier, am Wochenende praktisch durchgehend.»

Mit 24 heiraten die beiden und nach neun Monaten kommt das erste Kind zur Welt. Toni trinkt wieder gar nichts. «Ich war verliebt und glücklich und brauchte es nicht. Ich verzichtete nicht einmal vorsätzlich.» Doch bald ist der Alltag zurück – seine Frau ist mit der Pflege der Schwiegermutter beschäftigt und in seinem neuen Job als Lastwagenfahrer ist Toni viel weg.

Die beiden finden kaum Zeit füreinander. Seinen Frust verarbeitet Toni nicht. Er ersäuft ihn. Mit 32 bekommt er Rückenprobleme, muss auf einen Bürojob als Disponent wechseln. Seine Unzufriedenheit wird immer grösser und der Alkoholkonsum mit ihr. «Ich trank jeden Abend meine fünf bis zehn Bier, am Wochenende praktisch durchgehend zwei, drei Kisten.» Seine Frau sagt nichts. Und auch Toni nicht.

Er versucht etwas zu ändern, sucht sich einen neuen Job, ein neues Umfeld. «Doch es ging nicht mehr. Ich trank weiter, jeden Abend.» Er wird vergesslich, muss morgens früher ins Geschäft, weil er nicht mehr weiss, was er am letzten Tag gemacht und ob er alles erledigt hat. Die Kollegen und der Chef sind beeindruckt: Immer ist Toni früher da.

Er wird befördert und beginnt eine Weiterbildung, doch aufnehmen kann er nichts. «Nach Feierabend ohne Bier in die Ausbildung – das ging nicht. Ich konnte mich nicht konzentrieren, habe gezittert.» Er trinkt beim nächsten Kursabend ein paar Bier vorher, knapp steht er den Kurs durch, doch gleich danach muss er in die nächste Beiz.

Doch durch den Kurs stösst Toni auf einen Satz, der ihn verändert: Wenn du Karriere machen willst, dann musst du ehrlich zu dir selber sein. «Und in diesem Moment musste ich es mir eingestehen: Ich habe ein Alkoholproblem.» Eine Einsicht, die noch zur rechten Zeit kommt. «An diesem Abend rief ich bei den Anonymen Alkoholikern an.» Als er später ins Bett geht, erzählt er seiner Frau davon, die ihn eigentlich am nächsten Morgen hatte verlassen wollen.

«Ich habe gelernt, ehrlich zu sein. Mit mir und mit anderen.»

«Ich ging zum nächsten Treffen der Anonymen Alkoholiker und habe seither nie mehr getrunken.» Und seine Frau blieb bei ihm. 27 Jahre ist das nun her. Einmal verbringt Toni noch eine schlaflose Nacht wegen einer Schachtel «Kirschstängeli», die seine Frau geschenkt bekommt. Aber er rührt sie nicht an und verschenkt sie gleich am nächsten Morgen dem Nächstbesten. «Meine Frau war ganz schön sauer», lacht er heute. «Ich habe ihr einige Jahre später eine Schachtel geschenkt. Heute kann ich damit umgehen.»

Aber der Alkoholentzug machte nicht plötzlich alles gut. Dass Toni nie gelernt hatte, mit seinen Gefühlen umzugehen, das änderte sich damit nicht. Er fiel in eine Depression, versuchte sich zwei Jahre nach seinem Entzug umzubringen. «Ich musste lernen, mit Emotionen umzugehen, und ich musste lernen, ohne Alkohol zu leben.»

Toni macht in den folgenden Jahren weitere Ausbildungen: die Handelsschule, eine Ausbildung als Sozialpädagoge, eine Führungsausbildung, eine Traumatherapieausbildung. Er geht auf Reisen. Und er öffnet sich seiner Frau, erzählt ihr die ganze Geschichte. «Ich habe gelernt, ehrlich zu sein. Mit mir und mit anderen. Das hat mir danach immer wieder geholfen.»

* Der vollständige Name ist der Redaktion bekannt

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Anton
    Anton, 19.01.2016, 22:07 Uhr

    Es ist keine Schande krank zu sein. Es ist jedoch eine Schande nichts dagegen zu unternehmen.
    Hilfe ist möglich, wenn man seine Krankheit akzeptiert und bereit ist, etwas dagegen zu unternehmen.
    Du schaffst es; aber Du schaffst es nicht allein.
    Hilfe ist möglich wenn Du dies zulässt.

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