Islam-Experte im Interview

«Eine Innerschweizer Extremistenszene kenne ich nicht»

Hat noch nicht so viel über radikale Islamisten bei uns gehört: Islamwissenschaftler Andreas Tunger. (Bild: bra)

Was bedeuten die Attacken in Paris für uns? Andreas Tunger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Luzern und Spezialist für den muslimischen Alltag in der Schweiz. «Auch bei uns können sich Jugendliche radikalisieren und abstürzen», sagt er im Interview mit zentral+.  

zentral+: Herr Tunger, die Verunsicherung in der Bevölkerung ist gross. Was erleben Sie als Luzerner Islam-Experte nach den Pariser Attentaten? Spüren Sie einen Generalverdacht? Oder geht die Bevölkerung hier differenziert mit dem Thema um?

Andreas Tunger: Eigentlich reden die Leute erstaunlich wenig über einen «Generalverdacht». In den Medien sind die Pariser Terrorakte ein grosses Thema. Zugleich ist es ja so offensichtlich, dass sie eine extreme Aktion darstellen, die mit den Muslimen hier zuerst mal gar nichts zu tun hat. Die sind alle gleich geschockt. Ich sehe eher eine gewisse Ratlosigkeit gegenüber dem neuen Phänomen, dass mitten in Europa so etwas passieren kann.

zentral+: Gibt es hier Hinweise für radikale Islamisten oder verdächtige Gruppierungen?

Tunger: Nein. Aus den Medien weiss ich von dem Fall in Kriens: Ein 33-jähriger Muslim mit bosnischem Umfeld, der nach Syrien ging und dort offenbar kämpfte. Ich kenne den Fall nicht, weiss auch nicht, ob er in der bosnischen Moschee in Emmen verkehrt hat. Ich würde annehmen, Nein. Denn in der Regel gehen jene Leute nach Syrien oder in den Irak, die eigentlich vorher recht schlecht in ihrer Religion verwurzelt waren.

Zur Person

Andreas Tunger, geboren 1961 in Chur (Graubünden), studierte in Bern Islamwissenschaft, orientalische Sprachen und Allgemeine Geschichte. An der Universität Luzern ist er Koordinator des neu gegründeten Zentrums für Religionsforschung.

Andreas Tunger-Zanetti ist Mitglied der «Groupe de recherche sur l’Islam en Suisse» (www.gris.info) und Länderberichterstatter für die Schweiz im «Yearbook of Muslims in Europe». Er arbeitete 1994–1996 als Assistent am Institut für Islamwissenschaft der Universität Bern, 1996–1998 als Betreuer wissenschaftlicher Publikationen im Verlag Peter Lang, Bern. 1999–2006 wirkte er als Auslandredaktor der «Neuen Luzerner Zeitung».

Entweder konvertieren sie neu oder sie entdecken den Islam, der für sie vorher nur eine verblasste Familientradition war, in einer Krise für sich persönlich und werden radikal. Die Sozialisierung in einer Moschee wirkt dem Radikalismus eher entgegen.

zentral+: Laut dem «Forum für einen fortschrittlichen Islam» gibt es hier aber offenbar Nährboden für den Dschihadismus. Die «Propaganda-Stände» mit der Botschaft «Lies!», welche schon länger im öffentlichen Raum den Koran verteilen, sollen als Schleuser von jugendlichen Idealisten in die IS-Strukturen funktionieren. Was sagen Sie dazu?

Tunger: Die «Lies!»-Aktion bietet schon eher das Umfeld, in dem sich jemand angenommen und aufgehoben fühlt, der später nach Syrien reist. Es wäre aber falsch zu meinen, die «Lies!»-Aktion wäre dazu ins Leben gerufen worden, um Leute für Syrien zu rekrutieren. Es ist eine Art, den Koran bekannt zu machen. Ob das viel bringt, sei dahingestellt.

Der Islamische Zentralrat Schweiz zum Beispiel, eine Organisation orthodoxer Muslime, die häufig mit radikalen Ansichten und Salafisten in Verbindung gebracht wird, hat sich an der «Lies!»-Aktion ausdrücklich nicht beteiligt. Aber klar: Flagge zu zeigen und dafür angefeindet zu werden, schweisst zusammen. Im Umfeld der «Lies!»-Aktion können sich Grüppchen bilden, unter deren Mitgliedern mit der Zeit die Absicht entsteht, nach Syrien zu reisen. Ein solches Grüppchen hatte sich in Süddeutschland gebildet. Wie gesagt: Dazu kann es im Einzelfall kommen, muss aber nicht und tut es in den meisten Fällen auch nicht.

zentral+: Wie schätzen Sie dieses Video hier ein? Es wurde in Kriens gedreht. Es zeigt offenbar, dass es hier islamistische Kreise gibt. 

Das Werbe-Video des IZRS mit Luzerner Szenen

Tunger: Das in Kriens gedrehte Video zitiert nicht IS-Propaganda. Vielmehr bedienen sich das Video wie auch die IS-Propaganda eines Bildvokabulars, das seit Langem in Computerspielen, Action- und Fantasyfilmen und anderen Produkten der Jugendkultur angesagt ist. In Verbindung mit dem Islam und einer Dosis Provokation lässt dies beim Schweizer Durchschnittsbürger gleich die Alarmglocke läuten.

zentral+: Welchen Einfluss haben die Attentate von Paris auf die «Innerschweizer Islamistenszene» – findet eine Radikalisierung statt?

Tunger: Eine Innerschweizer Islamistenszene kenne ich nicht. Ich bezweifle auch, dass es eine solche gibt. Wenn es eine Szene geben könnte, dann nach meiner Einschätzung nur ausserhalb von Moschee-Strukturen. Auch eine Radikalisierung findet so generell nicht statt. Es sind immer Einzelfälle, und da muss biografisch einiges schieflaufen: Meist beginnt es mit schwierigen Familienverhältnissen oder häufigen Wohnortwechseln. Oft kommen im Lebenslauf Erfahrungen des Scheiterns und der Ausgrenzung in Gesellschaft, Schule und bei der Lehrstellensuche vor; wenn sich das alles kumuliert und ein Jugendlicher dann an einen Anbieter einfacher religiöser Lösungen gerät, kann es zu einem «Absturz» in die Radikalisierung kommen, den der Betreffende natürlich als heroischen Akt umdeutet.

«Es sind immer Einzelfälle, und da muss biografisch einiges schieflaufen.»

zentral+: Gibt es unter Muslimen Ängste vor einer erstarkenden Ausgrenzung?

Tunger: Das gibt es schon. Aber Muslime haben nun schon des Öfteren die Erfahrung gemacht, dass irgendwelche Gräueltaten mit Islambezug verübt worden sind. Inzwischen sind sie «geeicht», weil sie auch immer wieder mal Fragen beantworten müssen. Sie sind mehr darauf eingestellt als Vertreter anderer Religionen in der Schweiz.

zentral+: Erleben Zentralschweizer Muslime nun mehr Ressentiments aus andersgläubigen Teilen der Schweizer Bevölkerung?

Tunger: Ich denke nicht. Wie gesagt gibt es eigentlich die Situation nicht zum ersten Mal. Sie ist einfach diesmal durch eine Aktion neuer Art hervorgerufen worden. Meiner Meinung nach kommt kein Schweizer auf die Idee, dass aus der nächsten Moschee eine solche Aktion entstehen könnte. Die Parallele zu Paris ist nirgends zu sehen.

zentral+: Haben Sie das Gefühl, die Integration von Muslimen in der Zentralschweiz ist in Gefahr?

Tunger: Nein. Nicht wegen diesem Ereignis. Ich denke, man könnte in verschiedenen Bereichen mehr tun. Aber das hätte ich auch schon vor diesem schrecklichen Ereignis gesagt. Gleiche Chancen bei der Lehrstellen-, Arbeits- und Wohnungssuche wären enorm wichtig. Hier gibt es eine Diskriminierung, die durch Studien klar belegt ist. Auch jeder Einzelne kann etwas zu einem vorurteilsfreien Umgang mit dem zunächst Unbekannten beitragen. Er wird in den meisten Fällen positiv überrascht sein.

«So, wie sich Muslime gegen aussen geben, so werden sie wahrgenommen.»

zentral+: Besteht die Gefahr, dass sich muslimische Menschen in der Schweiz nun eher abschotten, als sich der Gesellschaft zu öffnen?

Tunger: Ich glaube, es ist immer ein Wechselspiel. So, wie sich Muslime gegen aussen geben, so werden sie wahrgenommen. Ein schönes Beispiel ist die Kopftuch-Thematik: Eine Frau, die sich ängstlich und defensiv gibt, erntet eher anfeindende Reaktionen als eine Frau, die offen, herzlich und auch selbstbewusst auftritt. Mit dem Verhalten signalisiert sie entweder «Ich bin eine von euch» oder «Ich sehe mich als Randerscheinung».

zentral+: Werden die Attentate zu einer weiteren politischen Beschränkung der Glaubensfreiheit für Muslime in der Schweiz führen, wie zum Beispiel das Minarettverbot? Gibt es solche Befürchtungen unter Schweizer Muslimen?

Tunger: Ich wüsste nicht, welche Beschränkungen das sein sollten. Ich fände sie auch ungerechtfertigt. Im Grunde würde man hier genau das Spiel der Terroristen spielen, die eine Verunsicherung und Verhärtung der Fronten erreichen wollen. Das Problem der freien Gesellschaft ist, dass sie verwundbar ist. Ich habe aber den Eindruck, die Gesellschaft reagiert relativ reif, gerade weil der Auslöser so monströs ist. So gesehen befürchte ich keine zukünftigen Beschränkungen gegenüber Muslimen.

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