Luzerner Autor über Tabuthema

Pädophil: Das war mein Vater

Der Schriftsteller Dominik Riedo hat ein Buch über seinen pädophilen Vater geschrieben. (Bild: jav)

Der Luzerner Schriftsteller Dominik Riedo erfuhr mit 18 Jahren, dass sein Vater pädophil war. Nun, nach dem Tod des Vaters, hat er dessen Geschichte mit Ausschaffung aus Thailand und Verurteilung in Luzern in einem Buch verarbeitet. Eine Arbeit, die nicht nur ihm an die Substanz ging und die polarisiert.

«Pädophil: Das war mein Vater. Das war mein Vater: pädophil. Mein Vater war pädophil. Und: Wie war es für dich? – Ich weiss es noch nicht. Aber sexuell missbraucht hat er uns nicht.»

So beginnt das erste Kapitel von Dominik Riedos Buch über seinen Vater, welches diesen September erscheint. Ein differenziertes, persönliches Werk über eine schwierige Thematik.

Der 41-jährige Luzerner, der heute in Bern lebt, hat das Buch kurz nach dem Tod seines Vaters begonnen. Dieser wurde nach zahlreichen Fällen von sexuellen Handlungen mit Kindern in Luzern angeklagt. Verurteilt wurde er schliesslich, als er verarmt aus Thailand ausgeschafft wurde. Eigentlich hatte Riedo lediglich eine Rede für die Abdankungsfeier schreiben wollen. zentral+ hat mit ihm über das Buch und seinen Vater gesprochen.

zentral+: Wie kam es dazu, dass Sie ein Buch darüber schrieben?

Dominik Riedo: Mein Vater ist Ende 2013 sehr überraschend verstorben. Ich war dann – als Schriftsteller in der Familie – zuständig für den Lebenslauf. So habe ich mich stark mit der Geschichte meines Vaters auseinandergesetzt. Ein paar Wochen später hat mich alles wieder eingeholt und es hat mich dermassen beschäftigt, dass ich mich dazu entschied, ein Buch darüber zu schreiben.

Es ist kein wissenschaftliches Buch zur Thematik. Es ist die Geschichte seines Lebens mit Auszügen aus Protokollen, aus der Presse, mit Fragen und Gedanken von meiner Seite. Fragen, die ich mir stellte, und solche, die sich bestimmt alle anderen stellen.

zentral+: Hatten Sie keine Skrupel?

Riedo: Mein Vater hat mir – auf meine Bitte hin – ein Couvert voll mit Dokumenten hinterlassen. Einige Dinge hätte er vielleicht zerstört, hätte er gewusst, dass er bald sterben würde. So aber hatte ich auch alle seine Tagebücher.

Mir ist es wichtig die Pädophilie zu thematisieren, dadurch Opfern, Tätern, Angehörigen ein Stimme zu geben – und Leuten die Möglichkeit sich zu äussern, Kontakte zu anderen Opfern zu knüpfen und so weiter. Ich kann vielleicht Leute verbinden, die Ähnliches durchgemacht haben. In einem Fall ist das bereits passiert. Das freut mich sehr. Deshalb spende ich das Geld der ersten Auflage an die Stiftung «KeinTäterwerden» in Deutschland.

«Ich hatte ihn sehr gerne.»

zentral+: Gibt es auch negative Rückmeldungen?

Riedo: Ich habe Anrufe und Mails erhalten, in welchen mir Leute Vorwürfe machen: Darüber spreche man nicht. Es ist noch immer ein Tabu. Und das halte ich für falsch. Für die Opfer, die Angehörigen aber auch für Täter und solche, die die Neigung haben, aber nicht zu Tätern werden und werden wollen.

zentral+: Welche Gefühle haben Sie heute Ihrem Vater gegenüber?

Riedo: Es hat sich stark verändert, ist distanzierter geworden. So wie ich heute Fotos von ihm ansehe und einen viel älteren Mann sehe, als wie ich ihn zu Lebzeiten wahrnahm.

Eigentlich ist es aber ein herzliches Gefühl. Er war mein Vater. Und ich habe von ihm als Kind auch mehr Wärme erfahren als von der Mutter, erstaunlicherweise. Ich hatte ihn sehr gerne. Bis ich ungefähr 13 war. Nach der Trennung meiner Eltern wurde die Beziehung aber schwieriger.

Und 1992, als ich davon erfuhr, fühlte ich nichts. Ich war im Schock. Ein Jahr später begann ich jedoch, es extrem zu thematisieren. Ich wollte viel darüber sprechen. Das hat einige Leute auch verunsichert.

Später, nach Thailand und seiner Haft, wurde unsere Beziehung distanzierter. Schal. Wir standen uns nicht sehr nahe. Es war auch schwierig, mit ihm zu sprechen. Er hat sich mit diversen Verschwörungstheorien beschäftigt. Sah sich immer als Opfer des Lebens, seiner Neigung, als Versager in allen Belangen. Es gab wie keine Entwicklung mehr. Er sah sich überall wegen seiner Neigung diskriminiert, auch wenn die Leute das teilweise gar nicht wissen konnten.

«Ich bin richtig wütend auf ihn, dass er uns mit zu anderen Pädophilen genommen hat.»

zentral+: Empfinden Sie Wut?

Riedo: Natürlich. Ich bin wütend auf ihn, dass er seine Neigung ausgelebt hat, dass er selbst Kinder hatte, dass er nichts gesagt hat, dass er andere Pädophile gedeckt hat. Und ich bin richtig wütend auf ihn, dass er uns mit zu anderen Pädophilen genommen hat.

zentral+: Würden Sie davon erzählen?

Riedo: Soweit ich weiss, waren es einige Male. Es ist nichts passiert. Aber schlimm war, als ich meinen Vater später darauf ansprach. Er sagte, dass er nicht eingeschritten wäre, wenn ein anderer Pädophiler mit mir sexuelle Handlungen vorgenommen hätte, wenn ich es auch gewollt hätte. Das war ein Schock. Das waren die Momente, in welchen man nicht mehr weiter weiss.

Das Buch

Dominik Riedos Buch heisst «Nur das Leben war dann anders – Nekrolog auf meinen pädophilen Vater» erscheint im Offizin Verlag und ist bereits online erhältlich.

«Das ist ein schwieriger und wichtiger Stoff, den Dominik Riedo aber auf eine Art darstellt, wie man sie solchen Stoffen wünscht: persönlich und doch der Sache verpflichtet, urteilend, doch nicht überhastet. Ein Buch, das bewegt.» Tim Krohn

zentral+: Hat er seine Taten bereut?

Riedo: Er hat es juristisch eingesehen, dass es nicht erlaubt ist, aber er hat es nicht verstanden. Für ihn waren die Jungen seine «Kleinen Freunde», zu denen er Beziehungen aufbaute. Er half ihnen bei Hausaufgaben, kochte für sie, lies sie bei sich spielen, fuhr sie zum Sport. Aber Sexualität gehörte auch zu einigen dieser Beziehungen. Er hatte aber nie das Gefühl, die Jungen zu etwas zu zwingen. Bei einem grossen Teil der Jungen kam es dann auch gar nicht zu sexuellen Handlungen. Und, was sich vielleicht blöd anhört, ich war etwas erleichtert, als ich erfuhr, dass es nie zu Penetrationen kam.

Ganz seltsam für mich war, was ich nach seinem Tod erfuhr: Mit ein paar seiner «Kleinen Freunde» hatte er bis zu seinem Tod eine Freundschaft gepflegt. Einer der Männer hat mir nach seinem Tod sogar gesagt, dass mein Vater sein bester Freund war.

Ich glaube, dass er sich wegen seiner Handlungen mit den Jungen auch Sorgen machte. Er hat bei vielen später nachverfolgt, ob sie geheiratet haben, Kinder bekamen, ein normales Leben führten. Also wusste er ja, dass es für die Jungen nicht gut war.

«Natürlich habe ich meinen Bruder gefragt, ob ich vielleicht etwas verdrängt habe.»

zentral+: Bei Ihnen und Ihrem Bruder kam es jedoch nie zu Missbrauch?

Riedo: Nein. Das weiss ich. Obwohl es gefährlich ist, da man sich nachträglich Sachen einreden kann, die vielleicht gar keine Bedeutung hatten, oder gar nicht passiert sind. Aber natürlich habe ich meinen Bruder gefragt, ob ich vielleicht etwas verdrängt habe. Wir waren uns aber beide sicher. Und heute ist es ganz klar.

zentral+: Weshalb?

Riedo: Ich habe schliesslich in den Tagebüchern meines Vaters Aussagen dazu gefunden, dass er sich bei uns zurückgehalten hat. Wenn ich zurückblicke, dann glaube ich, es zu sehen. Wir haben kaum Zärtlichkeiten von unserem Vater erlebt. Kaum Berührungen oder Umarmungen. Nicht einmal auf Familienfotos, Ferienbildern – bei welchen man sich ja manchmal gar nur dem Foto zuliebe umarmt – gab es das in unserer Familie.

In seinen Tagebüchern las ich aber, dass für ihn teilweise schon ein Streicheln über den Kopf, oder Händchenhalten sexuell erregend war. Da bekommt man schon Zweifel, was der Vater in solchen Momenten uns gegenüber empfand, als wir in dem Alter waren. Er interessierte sich für Jungen zwischen 11 und 15 Jahren.

zentral+: Sie sind sehr rational und ruhig, wenn Sie darüber sprechen. Wie geht es Ihnen?

Riedo: Es ist aufwühlend, körperlich anstrengend. Aber es tut auch gut darüber zu reden. Es hat jedesmal fast etwas Therapeutisches. Das Buch ist für mich eine Verarbeitung. Ich will damit einen Schlussstrich ziehen. Ich merke, dass es wichtig ist, auch wenn es sehr viel Kraft braucht. Wie nach meiner Rede bei der Abdankungsfeier, als ich es nicht mehr alleine zum Grab geschafft hatte. Über dem Bild dieses missratenen Lebens bin ich zusammengebrochen.

«In unserer Familie wurde nicht wirklich über Dinge geredet.»

zentral+: Wie sehr konnten Sie es gemeinsam mit Ihrer Familie verarbeiten?

Riedo: Ich habe viel mit meiner Freundin zusammen verarbeitet. Durch sie habe ich auch viel gelernt, was Beziehungen, allgemein Zwischenmenschliches angeht. In unserer Familie wurde nicht wirklich über Dinge geredet, diskutiert. Man spricht nicht darüber oder man macht etwas nicht. So bin ich aufgewachsen. Meine Mutter hatte meinen Vater bereits 1980 erwischt. Doch erst sieben Jahre später trennten sich die beiden. Sie konnte das vorher nicht. Aus Angst wahrscheinlich, es zuzugeben und davor, in der Öffentlichkeit als die Frau des Kinderschänders dazustehen.

zentral+: Bei Berichterstattungen sind die Kommentare und Reaktionen oft sehr emotional und extrem. Von «Schwanz abschneiden», über «An die Wand stellen» liest man so einiges. Betrifft Sie das?

Riedo: Ja, solche Aussagen mit Aufrufen zur Selbstjustiz und Gewalt, die betreffen mich. Wenn es hetzerisch wird und undifferenziert. Ich schwanke bei meinem Bild von meinem Vater zwischen Opfer und Täter. Ich sehe beides.

Dominik Riedo mit seinem Vater Otto. (Bild: zvg)

Dominik Riedo mit seinem Vater Otto. (Bild: zvg)

zentral+: Wer war Ihr Vater?

Riedo: Er war ein sensibler Mensch, tierlieb und leichtgläubig. Sein Leben war von Geburt an zerstört. Ein versautes Leben. Die ersten Lebensjahre im Heim, dann in der Familie Quälereien, Versagen als Ehemann und im Job. Er hat später aber auch alles, was in seinem Leben schiefging, auf die Pädophilie geschoben. Er war nie sehr reflektiert. Er meinte beispielsweise auch, dass er durch die Ehe mit einer Frau von seiner Neigung geheilt würde. Und die letzten Jahre war er ein gebrochener Mann.

zentral+: Verteidigen Sie Ihren Vater?

Riedo: Ich höre diese Frage nicht das erste Mal. Und ja, vielleicht tue ich das ein bisschen. Mein Vater hat seine Neigung in den über 20 Jahren vor seinem Tod – nach der Verurteilung – nicht mehr ausgelebt. Er hat die psychologische Behandlung über sieben Jahre länger weitergeführt, als er verpflichtet gewesen wäre. Er wurde mit chemischer Kastration, also Lustdämpfern, behandelt. Andererseits nehme ich meinen Vater überhaupt nicht in Schutz. Er ist Lehrer geworden, hat den Kontakt gesucht. Er hat sich nicht selbst zurückgehalten. Das ist unverzeihlich.

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