Gewaltdelikt in Emmen

«Es schreit zum Himmel»

Der Luzerner Philosoph Roland Neyerlin.

(Bild: rob)

Der Gewaltakt in Emmen, bei dem eine junge Frau vergewaltigt und schwer verletzt wurde, wühlt auf. Der Luzerner Philosoph Roland Neyerlin zeigt sich angesichts der Brutalität des Verbrechens erschüttert. Vor allem die Sinnlosigkeit mache vielen zu schaffen, sagt er im Interview mit zentral+.

zentral+: Was vergangenen Dienstagabend in Emmen geschehen ist, lässt niemanden kalt in Luzern. Warum diese starken Emotionen?

Roland Neyerlin: Ja, warum eigentlich? Schliesslich bekommen wir ja jeden Abend in der «Tagesschau» ähnlich schlimme Gewalttaten vorgesetzt. Es gibt einen banalen Grund: Diese Gewalttat hat ein Gesicht und eine örtliche Nähe. Es ist eine junge Frau von hier. Und evolutionsbiologisch sind wir so programmiert, dass unsere Anteilnahme und Fürsorge im Nahbereich am grössten ist.

zentral+: Was genau macht denn so betroffen?

Rund ein Dutzend Polizisten arbeiten an dem Fall

Die junge Frau, die vorletzte Woche von einem Unbekannten vom Velo gerissen und vergewaltigt wurde, ist nach wie vor im Schweizerischen Paraplegiker-Zentrum SPZ in Nottwil in Behandlung. Wie sich ihr Gesundheitszustand entwickelt, ob sie dauerhaft gelähmt sein wird, kann derzeit nicht gesagt werden. Erst in zwei bis drei Monaten könne ihr Gesundheitszustand beurteilt werden, schreibt das SPZ in einer Mitteilung.

Wie genau die schweren Rückenverletzungen zu Stande gekommen sind, könne man noch nicht sagen, heisst es von der Luzerner Polizei. Ob die junge Frau auf einen Stein gestürzt ist oder ob sie sich die Verletzungen eventuell erst bei der Vergewaltigung zugezogen hat, ist ebenfalls noch unklar. «Wir haben die Spuren am Tatort umfangreich erfasst, aber noch fehlen uns viele Puzzle-Teile, um genauer sagen zu können, wie sich das Verbrechen abgespielt hat», sagt Medienchef Kurt Graf auf Anfrage. Weitere Aufschlüsse erhofft sich die Polizei, wenn sie das Opfer befragen kann, was zurzeit noch nicht möglich ist.

Der Täter ist bisher noch nicht gefunden worden, die Polizei geht aber davon aus, dass ihre Arbeit Wirkung zeigen wird. «Die Chancen, den Täter zu fassen, ist gross, wir arbeiten mit Hochdruck daran», sagt Kurt Graf. Bei schweren Delikten seien die Erfolgsaussichten aufgrund intensivster Ermittlungen relativ hoch, so Graf weiter. Eine Sonderkommission arbeitet an dem Fall – laut Graf sind bis zu einem Dutzend Leute involviert.

Neyerlin: Mich hat der Fall auch sehr beschäftigt. Eine Vergewaltigung ist immer etwas Furchtbares. Doch damit nicht genug, hier kommt noch diese schwere Verletzung hinzu. Diese Art von unsinniger, mit nichts zu rechtfertigender «Doppelbestrafung» macht das Unfassbare noch unfassbarer. Es schreit zum Himmel, ohne dass von dort eine Antwort auf unsere Fragen kommt.

zentral+: Ist es die Ratlosigkeit, die quälend ist?

Neyerlin: Ja, die Tat ist nicht verstehbar. Was da geschehen ist, ergibt in keinen Sinn. Egal, wie man es dreht und wendet: Man findet dafür keine Erklärungen. Wir werden uns mit einem Schlag der Absurdität der Tat und unserer Existenz bewusst.

zentral+: Ist das nicht meist so bei einem Verbrechen? Was ist anders als bei einer anderen Gewalttat?

Neyerlin: Nein, das ist nicht immer so. Es gibt Verbrechen, da finden wir Erklärungen. Diese Tat aber bleibt sinnlos. Existenzen zerstörende Schicksalsschläge dieser Art bleiben ein Skandal des Lebens. Und das ist nur schwer auszuhalten und erschüttert uns zutiefst.

zentral+: Warum?

Neyerlin: Weil das Absurde unseres menschlichen Daseins mit einem Schlag ersichtlich wird. Es gibt keine Erklärung, keine Sinn-Zusammenhänge. Die Tat bleibt sinnlos. Das erschüttert die Grundfesten unseres Weltverständnisses.

zentral+: Wir sind existentiell verunsichert, ratlos und irritiert.

Neyerlin: Genau. Aus dem, was in Emmen geschehen ist, kann man ableiten, dass es keine Gerechtigkeit gibt und dass Glück oder Unglück reiner Zufall ist. Es ist sinnlose Willkür, wen es trifft oder nicht. Das sind die Hauptgründe, weshalb uns die Tat so stark beschäftigt.

zentral+: Wäre es besser, wenn man wüsste, warum der Täter so gehandelt hat?

Neyerlin: Wäre es ein Beziehungsdelikt, dann hätte man wenigstens ansatzweise eine Erklärung für die Tat. Sie würde quasi einen Sinn ergeben, wenn auch einen fürchterlichen. Aber so bleibt uns nur, das Absurde, Unerklärliche auszuhalten.

zentral+: Ein paar Teenager sagten mir, dass ein solches Verbrechen mit der Todesstrafe gebüsst werden müsste. Verstehen Sie das?

Neyerlin: Dahinter steckt der Wunsch, dass mit einer möglichst drastischen Strafe die Welt wieder in Ordnung gebracht werden soll. Natürlich verstehe ich den Ruf nach härtester Bestrafung. Doch, was ist eine gerechte Strafe für ein solches Verbrechen? Gleiches mit Gleichem zu vergelten, macht die Welt nicht automatisch menschlicher. Wichtiger als hassgesteuerte Schnellschüsse ist die ernsthafte Suche nach einer Strafe. Es macht keinen Sinn, wenn man nun Ausländer kollektiv beschuldigt, wie es auf der Emmer Facebook-Seite geschehen ist. Das hilft niemandem – schon gar nicht dem Opfer.

zentral+: Wenn jemand vergewaltigt wird, löst das grosse Betroffenheit aus. Viele Eltern haben Angst um ihre Töchter, manche wissen nicht, ob es noch sicher ist, abends allein auf die Strasse zu gehen.

Neyerlin: Vergewaltigung ist ein unmittelbarer zerstörerischer Angriff auf die Unversehrtheit eines anderen Menschen. Ein Gewaltakt gegen Körper und Geist eines Menschen. Ein Zerstörungsakt! Die Angst des Menschen vor der Zerstörung der eigenen Person ist eine Urangst. Für diejenigen, die das erleben, ist es eine fürchterliche Erfahrung mit Dauerwirkung.

«Was keinen Sinn macht, ist extrem schlecht auszuhalten.»

Roland Neyerlin, Philosoph

 

zentral+: Was löst es bei den Angehörigen und in der Bevölkerung aus?

Neyerlin: Das Verrückte an der Gewalt ist, dass sie uns Menschen das Vertrauen wegnimmt. Viele fragen sich in diesen Tagen zum Beispiel, ob es noch sicher ist, mit dem Velo da durchzufahren, wo die Tat geschehen ist. Aber es steckt noch weit mehr dahinter: Gewalttätige Übergriffe zerstören unser Weltvertrauen. Es nimmt einem ein Stück Geborgenheit, ein Stück Vertrauen ins Leben weg. Im Endeffekt erfahren wir uns als von der Welt Entfremdete.

zentral+: Gibt es so etwas wie den «richtigen» Umgang mit so einer Tat?

Neyerlin: Es ist sicher richtig und wichtig, dass man über die Ängste redet, dass man der Empörung und der Ratlosigkeit Ausdruck gibt. Das Ereignis zeigt uns schonungslos auf, wie brüchig unsere menschliche Existenz ist. Ähnlich wie bei einem Todesfall wird plötzlich alles fragwürdig. Wir müssen uns wieder neu sortieren, zurechtfinden. Das braucht Zeit und fordert uns echt heraus. Es wäre schlimm, wenn uns dieses Verbrechen nicht berühren, nicht beschäftigen würde. Wir wären Unmenschen. Wenig hilfreich dagegen sind Zeitungsartikel, die immer mehr Details über das Opfer verbreiten.

 

 

 

 

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