Preissegen für KISS – was steckt dahinter?

«Wir müssen handeln, bevor es zu spät ist»

Betagten helfen und sein Zeitkonto füllen: Nach Luzern und Sarnen hat nun auch Cham eine KISS-Genossenschaft. (Bild: fotalia)

Eine geldfreie 4. Vorsorgesäule: Nichts weniger beabsichtigt Susanna Fassbind mit dem Projekt KISS – und wird für ihr Engagement mit Preisen überhäuft. Aber lebt denn die Plattform überhaupt? Und was sagt die Konkurrenz?

Den Milizpreis von Swiss Re hat sie gewonnen, den ersten Platz im Ideenwettbewerb «Wunsch-Schloss» und den zweiten Platz am Blick-Casting für den achten Bundesrat belegt – die Zugerin Susanna Fassbind ist auf Erfolgskurs. Oder vielmehr: Der von ihr mitgegründete Verein KISS (keep it small and simple) lässt sie diverse Lorbeeren ernten. «Das freut mich natürlich sehr», sagt denn auch die Geehrte. «Die Effekte waren jeweils sehr gut, weil diese das Projekt in die Breite treiben. Die Leute verstehen dadurch, dass KISS nicht einfach eine Idee auf dem Papier, sondern ein Projekt ist, das Hand und Fuss hat.»

Dafür spricht auch die stetige Expansion von KISS. Die jüngste Genossenschaft kam in Cham zustande (zentral+ berichtete). Während die umtriebige Mitgründerin Fassbind mit Preisen überhäuft wird, stellt sich die Frage, was zwischenzeitlich aus den hochgesteckten Ambitionen geworden ist. Konnte der nationale Trägerverein seinen Erfolgskurs auch in Cham weiterführen oder lassen die Bemühungen in punkto Nachbarschaftshilfe die Zuger kalt?

«Die Vereinstätigkeit sorgt auf vielen Ebenen für Entlastung.»

Mojca Birbaumer, KISS-Mitglied

Ein Geben und Nehmen

«Was mir an KISS gefällt, ist die Tatsache, dass man nicht nur Hilfe empfängt, sondern auch geben kann. Der Verein sorgt dafür, dass man mit ‹ruhigem› Gewissen Leistungen annehmen kann. Man ist nicht einfach Nutzniesser», sagt Susanne König, eine 62-jährige Genossenschafterin. Die gesundheitlich angeschlagene Frau sei überglücklich, dass ihr jemand bei Haushaltsarbeiten unter die Arme greife. Es sei schon schwer genug, sich eingestehen zu müssen, dass das gesundheitliche Befinden nicht mehr alle Arbeiten zulässt. Wenn dann noch eine helfende Hand ausbleibt, haue das einen zusätzlich um. «Ich könnte die ganze Welt umarmen», verleiht König ihrer Freude ob dem Verein Ausdruck.

«Die Stundengutschriften bilden mit Sicherheit einen grossen Anreiz, um bei KISS mitzumachen», erzählt Erich-Ralf Pister, seit kurzem Genossenschaftsmitglied in Cham. Der 66-Jährige blickt mit Besorgnis auf die Entwicklung der Alterspyramide und betrachtet KISS im Sinne einer 4. Vorsorgesäule als plausiblen Lösungsansatz. Mit Essenszubereitungen und schlichten Gesprächen nimmt er Bedürftige an der Hand. «Es ist dabei aber nicht unbedingt wichtig, dass ich Stunden auf meinem Konto anhäufe. Viel essenzieller ist das psychologische Element des Konzepts», sagt Pister und meint damit, dass die Leute viel eher bereit dazu seien, Hilfe anzunehmen, wenn sie auch solche geben können.

«Ich könnte die ganze Welt umarmen.»

Susanne König, KISS-Mitglied

Bei der KISS Genossenschaft Cham selbst zeigt man sich indessen äusserst glücklich: «Wir sind begeistert und hätten nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde», freut sich die Geschäftsstellenleiterin Karin Pasamontes. «Seit der Gründung der KISS Genossenschaft Cham konnten schon über 30 Personen aufgenommen werden, weitere 10 Personen haben im Juli einen Termin. Ausserdem konnten wir bereits sechs Tandems bilden, also Paare, die sich regelmässig treffen und aktiv Leistungen erbringen und annehmen», freut sich Pasamontes. Sie seien auf dem richtigen Weg und mehr denn je überzeugt davon, dass das Projekt funktioniert.

Eine Win-win-Situation

Weitere Gemeinden würden deshalb in absehbarer Zeit auf den Zug aufspringen. «Es besteht grosses Interesse. Wir befinden uns mitten in der Planungsphase einer Genossenschaftsbildung in der Stadt Zug», führt Pasamontes aus. Die letztlich verbleibende Hürde sei das Geld, erläutert Susanna Fassbind. «Die Grundvoraussetzungen sind noch nicht ganz gegeben. Der Aufbau in Zug hängt auch davon ab, ob das Lotteriefondsgesuch bewilligt wird.»

«Jede Person, die durch Freiwilligenarbeit länger zuhause bleiben kann, bedeutet eine Entlastung für die öffentliche Hand.»

Karin Pasamontes, Leiterin KISS Genossenschaft Cham

«Wir müssen handeln, bevor es zu spät ist», ist Mojca Birbaumer (66) überzeugt. Die ehemalige Spitex-Mitarbeiterin leistet bereits seit einiger Zeit Nachbarschaftshilfe auf freiwilliger Basis. Dass sie nun bei der KISS mitmacht, liege vor allem an der demografischen Entwicklung, welche sie sorgenvoll verfolge. «Der Zuwachs an immer mehr älteren Leuten führt dazu, dass es immer schwieriger wird, genügend Pflegeplätze zu finden. Jeder Ansatz, der die Menschen länger in den eigenen vier Wänden leben lässt, ist deshalb klar begrüssenswert», sagt sie.

Ein zivilgesellschaftliches Projekt

Das biete für viele Beteiligten handfeste Vorteile: «Krankenkassen, Gemeinden, Pflegebedürftige und deren Angehörige – die Vereinstätigkeit sorgt auf vielen Ebenen für Entlastung. Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten», konstatiert Birbaumer. Dem stimmt auch Karin Pasamontes von der KISS Cham zu: «Jede Person, die durch Freiwilligenarbeit länger zuhause bleiben kann, bedeutet eine Entlastung für die öffentliche Hand.»

Das bestätigt Christian Plüss, Bereichsleiter der Jugend- und Gemeinwesenarbeit Cham: «Wir verstehen KISS als eine wichtige Massnahme in der Strategie ‹ambulant vor stationär›. Der Verein trägt somit zur besseren Lebensqualität zuhause bei und soll, in Ergänzung zu den professionellen Leistungen, ein längeres Wohnen in den eigenen vier Wänden ermöglichen. Diese Aspekte bergen einen materiellen Nutzen.» Gleichzeitig bringe KISS einen grossen immateriellen Nutzen mit sich: So stärke das Projekt die soziale Vernetzung innerhalb der Gemeinde, beuge der Einsamkeit vor und liefere eine sinnstiftende Tätigkeit für Chamer mit (Zeit-)Ressourcen, sagt Plüss.

«Die Aushilfe einer Pflegeinstitution könnte ich finanziell schlicht nicht tragen.»

Susanne König, KISS-Mitglied

Auch Private würden also profitieren. «Die AHV alleine ist für viele Ältere nicht ausreichend. Die Kosten von Pflegeorganisationen lassen sich mit der Minimalrente schlicht nicht decken», erklärt Pasamontes. Bei KISS wird nicht mit Geld, sondern mit Zeit gehandelt. Auch deshalb sieht sich Fassbind nicht in einem Konkurrenzverhältnis zu kostenpflichtigen Anbietern. Susanne König bestätigt: «Die Aushilfe einer Pflegeinstitution könnte ich finanziell schlicht nicht tragen.»

Dennoch, so sagt Fassbind, könne es mitunter vorkommen, dass sie als Konkurrenz wahrgenommen würden. Auch wenn sie selbst sich nicht in dieser Rolle sehe. Denn KISS operiere auf einer anderen Ebene, als dies etablierte Pflegeorganisationen täten. «KISS ist ein zivilgesellschaftliches Projekt. Die mitmachenden Genossenschaftsmitglieder bieten eine zwischenmenschliche Qualität, die man mit Geld nicht kaufen kann», erläutert Fassbind.

Mit persönlichen Gesprächen und einfachem Zusammensein werde etwas für die Stärkung des Kitts innerhalb der Gesellschaft getan. «Wir verbinden Generationen. Es geht dabei nicht nur darum, Nachbarschaftshilfe anzubieten und Zeit fürs hohe Alter anzusparen, sondern auch darum, der Vereinsamung im letzten Lebensabschnitt entgegenzuwirken», fügt sie an.

Koordinierte Nachbarschaftshilfe

Das sehen auch die Mitglieder so. «KISS wirkt gegen die Einsamkeit», sagt denn auch Birbaumer. König fügt an: «Die Koordination des Vereins hilft, dass das Ganze nicht einschläft, wie dies bei der freiwilligen Nachbarschaftshilfe leider oftmals vorkommt.» Genossenschafter Pister lobt die Seriosität und die Motivation der KISS-Mitarbeiter, bemängelt jedoch den etwas schleppenden Aufbau. Denn: «Expansion ist wichtig, es bleibt schliesslich alles eine Frage des Bekanntmachens.»

Bei den vermeintlichen Konkurrenten will man übrigens von Konkurrenz nichts wissen: «Wir verfolgen die Entwicklung des Vereins KISS intern, haben ein Auge darauf, wie das Projekt läuft. Aber als Widersacher sehen wir ihn nicht», sagt Olivia Stuber von der Pro Senectute Cham. Das gleiche Bild zeigt sich bei der Spitex: «KISS ist keine Konkurrenz, sondern eine ergänzende Leistung, wie dies kirchliche Organisationen beispielsweise auch sind», sagt die Geschäftsleiterin Doris Ruckstuhl. Konkrete Pläne für eine Zusammenarbeit bestünden jedoch bei beiden Pflegeorganisationen vorerst nicht.

All denjenigen, welche sich nicht dazu entschliessen können, bei KISS mitzumachen, hält Genossenschafter Pister entgegen: «Ich bin zwar zurzeit autonom. Wer aber garantiert mir, dass ich das auch in absehbarer Zeit noch sein werde?»

«Zeit» als stabile Währung im Alter

Small and simple – schlank und einfach – so soll die Altersvorsorge sein. Das sei sie aber nicht, meint Susanna Fassbind. Ganz im Gegenteil: Die Kosten würden aus dem Ruder laufen, die bestehenden Vorsorgesysteme kämen mit den demografischen Veränderungen nicht zurecht und zu viele Menschen würden ihren Lebensabend unnötig in Heimen verbringen. Ihr schlanker und einfacher Lösungsvorschlag besteht in einem Zeitvorsorgesystem. Das Konzept: Mit dem Zeitvorsorgemodell Personen jeden Alters dazu ermutigen, fragile ältere Menschen zu betreuen und zu unterstützen, damit diese länger eigenständig wohnen und leben können. Das Ziel: Mit Zeitgutschriften eine 4. Säule der Altersvorsorge etablieren.

Wer sich engagiert, bekommt die dafür aufgewendeten Stunden auf seinem Konto gutgeschrieben und kann diese später, wenn er selber Hilfe benötigt, wieder beziehen. Ob Einkäufe tätigen, Fenster putzen oder einfach ein Gespräch führen: Die Art der erbrachten Leistungen spielt dabei keine Rolle, und eine Stunde behält ihren vollen Wert auch in zwanzig oder fünfzig Jahren. Eine Form der Nachbarschaftshilfe, die mit Zeit vergütet wird.

Der Dachverein wurde 2011 gegründet. Seither wurden die Grundlagen für die Umsetzung der Zeitgutschriften erarbeitet und deren Kriterien definiert. Seit nunmehr zwei Jahren sind in der Stadt Luzern (100 Mitglieder) und im Kanton Obwalden (120 Mitglieder) Genossenschaften aktiv und realisieren das Modell KISS.

 

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