Richter geht in Rente

«Jeder Ausländer hat eine zweite Chance verdient»

Roland Wiprächtiger an einem seiner Lieblingsplätze: Im Café «Salut» am Helvetiaplatz wird man den pensionierten Richter in Zukunft öfters antreffen. (Bild: bra)

Während gut 20 Jahren war Roland Wiprächtiger Kantonsrichter. Es lag in seiner Hand, ob Ausländer bleiben dürfen, oder nicht. Im Gespräch mit zentral+ sagt der 68-Jährige, warum er bei seiner Arbeit zum «Fachidioten» wurde, Albaner in- und auswendig kennt und welche Fälle ihm besonders an die Nieren gingen. 

zentral+: Herr Wiprächtiger, als Richter hatten Sie vor allem mit Ausländerrecht zu tun. Sie haben über Schicksale, Wegweisungen und Familiennachzüge entschieden. Wie gingen Sie als Richter mit Vorurteilen um?

Roland Wiprächtiger: Vorurteile gehören zum Menschen, auch ich habe Vorurteile. Es ist aber wichtig, diese bei sich selber zu erkennen.

zentral+: Sie bezeichnen sich selber als «Fachidioten». Warum?

Wiprächtiger: Ich sage das, weil ich mich in meiner Zeit als Richter immer mehr auf Ausländerrechtsfälle spezialisiert habe. Zuletzt habe ich als Luzerner Kantonsrichter praktisch alle Verfahren in diesem Bereich präsidiert und damit die Verfahrensleitung ausgeübt.

«Arbeitskräfte ins Land zu holen und allzu lange von der Familie trennen, ist etwas Unmenschliches.»

zentral+: Klingt nach schwierigen Entscheidungen. Welcher Typ Richter waren Sie?

Wiprächtiger: Bei Wegweisungen war ich persönlich der Meinung, jede und jeder Ausländer hat eine zweite Chance verdient. Und beim Thema Familiennachzug war ich dagegen, dass man Arbeitskräfte ins Land holt und allzu lange von der Familie trennt. Das ist etwas Unmenschliches. Im Zweifelsfall hätte ich also eher einen Familiennachzug bewilligt.

zentral+: Sie sind als Richter Experte für die Albanische Kultur geworden. Wie kam das?

Wiprächtiger: Ich bin mit den Menschen aus den albanischen Gebieten immer sehr gut ausgekommen. Den ersten Albaner habe ich 1981 kennengelernt und danach wurde mein Bekanntenkreis immer grösser. Nach den Balkankriegen bin ich viel in den Kosovo gereist. Mich beeindruckt noch heute ihre Gastfreundlichkeit und der respektvolle Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen. Vielleicht habe ich die gewisse Sehnsucht nach dem einfachen Leben. Die albanische Kultur habe ich also schon vor meiner Zeit als Richter kennengelernt.

zentral+: War das ein Vorteil oder eher ein Nachteil für Ihre Arbeit?

Wiprächtiger: Ganz klar ein Vorteil. Meine Albanischkenntnisse haben sich in den letzten zehn Jahren laufend verbessert, und ich kann jetzt recht gut lesen und die Texte verstehen. Die Kosovaren sprechen allerdings Dialekt, damit habe ich etwas Schwierigkeiten. Ich habe sehr viel erlebt mit Albanern. Privat viel Schönes, im Beruf eher dramatische Fälle. Und dadurch, dass ich mich für die albanische Sprache und Kultur interessiert habe, verstehe ich ihre, für uns manchmal fremde, Kultur; bedingt auch durch ihre schwierige Geschichte der letzten Jahrhunderte. Aber machen wir uns nichts vor: Auch wir Schweizer hatten vor einiger Zeit zum Teil Verhältnisse, welche wir all zu oft ausblenden.

Für die Gerechtigkeit

Roland Wiprächtiger wurde 1996 als Richter an das damalige Verwaltungsgericht des Kantons Luzern als Vertreter der Grünen Partei gewählt. Zuvor war er als Anwalt und Notar tätig und hatte auch diverse Funktionen in der Kantonalen Verwaltung inne. Roland Wiprächtiger hatte am 29. Mai 2015 seinen letzten Arbeitstag am Kantonsgericht Luzern. Der Luzerner war während 19 Jahren Richter am höchsten kantonalen Gericht. Seine Nachfolge tritt Pia Zeder an. 

Wiprächtiger ist 68 Jahre alt, verheiratet und hat einen Sohn. Das Richterdasein habe fast schon Tradition in der Familie, sagt er. Sein Onkel war Gerichtspräsident in Willisau, sein Bruder Bundesrichter im Kassationshof. «Wenn man das so anschaut, könnte man fast meinen, wir können nichts anderes.» Seit seiner Jugend ist er Mitglied der Grünen Partei, beziehungsweise deren Vorgänger, der «Poch». «Für mich standen stets die soziale Gerechtigkeit, die Rechtsstaatlichkeit, Gleichstellungsthemen und Integration im Fokus.»

zentral+: Welcher Fall bleibt Ihnen noch besonders in Erinnerung?

Wiprächtiger: Da gibt es viele. Zum Beispiel ein Familiennachzugsfall mit einer alten, kranken Frau aus dem Kosovo, die dort praktisch niemanden mehr hatte. Sie war körperlich krank und auch zunehmend dement. Praktisch ihre ganze Familie lebte in der Schweiz. Ihr Gesuch wurde von den Vorinstanzen abgelehnt. Wir haben aber die Verhältnisse anders gewichtet, zumal wir auch die finanziellen Situation ihrer Angehörigen in der Schweiz überprüft haben. Wir durften danach davon ausgehen, dass diese Frau nicht der Öffentlichkeit zur Last fallen würde. Die Vorinstanz (das Justiz- und Sicherheitsdepartement) hatte den Fall anders beurteilt. Der Fall ist aber rechtskräftig geworden.

zentral+: Welcher Fall ging Ihnen besonders nahe? 

Wiprächtiger: Da ging es unter anderem auch um brutale häusliche Gewalt. Eine junge Frau, die hier aufgewachsen ist, suchte in der Schweiz erneut Zuflucht vor ihrem Vater. Sie und ihre Geschwister wurden vom Vater häufig geschlagen. Die Kinder waren hier aufgewachsen. Der Vater sass wegen Drogendelikten in der Schweiz ins Gefängnis, danach wurde die ganze Familie ausgeschafft und die häusliche Gewalt ging dort unten weiter. Die Kinder mussten aus Schikane draussen schlafen. Hier haben wir später für die junge Frau eine Härtefallbewilligung ausgesprochen, dass Sie hier bleiben darf. Aber das Bundesamt für Migration hatte das anders beurteilt. Diesen Fall werde ich nie vergessen.

zentral+: Wussten Sie immer in allen Fällen, was Recht und was Unrecht ist?

Wiprächtiger: Im Ausländerrecht gibt es eher weniger Rechtsfragen zu entscheiden. Es geht meistens darum, ob eine Massnahme der Fremdenpolizeibehörden verhältnismässig ist oder nicht. Die Verhältnismässigkeit ist ein Verfassungsgrundsatz. Alle Behörden haben ihn zu beachten. Diese Überprüfung ist sehr anforderungsreich. Deshalb sind auch die nötigen Abklärungen so umfassend. Es ging immer um Menschen und deren Schicksale.

zentral+: Sie fingen nie an, an Ihren Urteilen zu zweifeln?

Wiprächtiger: Eher selten. Denn rechtliche Eckpunkte gibt es schon. Ist jemand schon lange in der Schweiz, wie gut ist seine berufliche und wirtschaftliche Integration, ist jemand verheiratet, sind Kinder betroffen, wie sind die Vermögensverhältnisse, ist es seine erste Straftat und so weiter. Wir entschieden zudem meistens zu dritt, selten sind es fünf Richter. 

zentral+: Wurden Sie schon bedroht?

Wiprächtiger: Bedroht nicht, aber angefleht. Ein Mann aus Senegal sank vor mir die Knie. Es war ein Ausschaffungsfall. Unter Tränen flehte er mich an, dass er hier bleiben könne. Er hatte nach meinem Urteil eine kurze Verlängerung erhalten, aber nach drei Monaten musste er trotzdem ausgeschafft werden. So ist die Rechtsprechung.

zentral+: Wurde ein Fall schon mal bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassbourg weitergezogen?

Wiprächtiger: Ja, ein einziger. Es ging um eine Ausweisung eines «Aschkali», eines Albanisch sprechenden Angehörigen der Roma. Unser Urteil schien uns aber klar. Er musste weggewiesen werden. Er hatte seine zweite Chance nicht genutzt. Da brachte es ihm auch nichts mehr, dass er in der Zwischenzeit eine junge Schweizerin geheiratet hatte. Die Richter in Strassbourg sahen das so wie das Bundesgericht, welches auf Beschwerde unser Urteil geschützt hatte.

«Man kritisiert praktisch jedes Urteil, ohne den Hintergrund genau zu kennen.»

zentral+: Die Ausländerpolitik wird seit je her kontrovers diskutiert. Wie nehmen Sie die Entwicklung der Diskussionen war?

Wiprächtiger: In den letzten 30 Jahren haben die Stammtisch-Sprüche merklich zugenommen. Man könnte es auch «Parolen der Wutbürger» nennen. Die Gesellschaft beurteilt viele Themen anders als früher. Europaweit geht es vielen Leuten schlechter und oft müssen die Ausländer als Sündenböcke herhalten. Ich beobachte auch, dass die Justiz immer mehr unter Druck kommt. Man kritisiert praktisch jedes Urteil, welches öffentlich wird, ohne den Hintergrund genau zu kennen. Jeder Krethi und Plethi das Gefühl, er wüsse es besser und schreibt Leserbriefe. Dabei ist es eben gerade die Aufgabe der Gerichte, einen kühlen Kopf zu bewahren und das geltende Recht durchzusetzen.

zentral+: Hat Ihr Spielraum als Richter mit der Zeit abgenommen?

Wiprächtiger: Vor allem das Ausschaffungshaftrecht hat sich verändert. Es ist mehrmals revidiert und verschärft worden. Das Ausländerrecht hingegen, also die Regeln, wer hier bleiben darf oder nicht, wer hierherkommen darf oder nicht, wurden während meiner Zeit von tiefgreifenden Veränderungen verschont. Nun aber muss die Ausschaffungsinitiative umgesetzt werden. 

zentral+: Sie sind offensichtlich kein Fan der Ausschaffungsinitiative.

Wiprächtiger: Wie die Gerichte mit der Ausschaffungsinitiatie umgehen werden, wird sich in Zukunft zeigen. Hier muss insbesondere das Bundesgericht (Strassbourg bitte auslassen) letztlich festlegen, wie dieser neue Verfassungsartikel umzusetzen ist. Das Problem ist, auch das Verhältnismässigkeitsprinzip ist ein Verfassungsartikel. Das Ganze unter einen Hut zu bringen, wird sehr schwierig.

zentral+: Albaner haben einen schlechten Ruf in der Schweiz. Was ist Ihre Meinung dazu?

Wiprächtiger: Ich bin überzeugt, dass man in zehn oder zwanzig Jahren nicht mehr so über die Albaner sprechen wird. Ich kann mich sehr gut erinnern, dass zuerst über die Italiener viele solche Klischees zu hören waren, danach waren es die Tamilen und jetzt spricht man in dieser Art über die Albaner. Die Presse ist auch ein wenig anders als früher. Sie ist angriffiger. Im Fernsehen und in den Boulevard-Zeitungen spielt Gewalt generell eine grosse Rolle.

«Die Gesellschaft soll mehr Akzeptanz für Migranten zeigen.»

zentral+: Trotzdem sind Albaner in der Kriminalstatistik vorne mit dabei. 

Wiprächtiger: Es ist für mich zu kurz gegriffen, wenn man eine ganze ethnische Gruppe als gewalttätig einordnet.

zentral+: Wie kann den Migranten am besten geholfen werden, sich zu integrieren?

Wiprächtiger: Die Gesellschaft soll mehr Akzeptanz für Migranten zeigen. Die Mehrheit der Schweizer sieht die Einwanderer aber schon heute als Teil des Landes. Migranten sollten das Wahlrecht haben und ihr Leben hier mitgestalten können. Ich will aber realistisch sein, denn es ist nicht einfach, das zu erreichen. Wir wissen aus der Geschichte, dass wir ziemlich spät das Frauenstimmrecht eingeführt haben. Es war ein langer Weg. Dass die Migranten das Stimmrecht erhalten, wird leider auch dauern.

zentral+: Was müssen die Albaner tun, um in der Schweiz besser integriert zu sein?

Wiprächtiger: Bildung. Das kann man nicht genug sagen. Die Eltern müssen ihre Kinder besser in der Schule unterstützen. Es wird mit der Zeit immer mehr Albaner hier geben, die hohe Positionen inne haben, zum Beispiel jene, die Anwälte oder Ärztinnen sind. Sie sollten besser organisiert sein. Die Albaner müssen lernen, eine Organisation zu unterstützen, ihr eine Chance zu geben und sie nicht von Anfang an abzulehnen.

zentral+: Sie gehen nach fast zwanzig Jahren Richterdasein in den Ruhestand. Was werden Sie am meisten vermissen? 

Wiprächtiger: Etwas vom Schönsten in meiner Arbeit als Richter war die Zusammenarbeit mit unseren jüngeren Gerichtsschreibern und Gerichtsschreiberinnen. Sie haben die gleiche Ausbildung wie wir, befinden sich aber in einem anderen Lebensabschnitt, sind eher risikofreudig und generell aufgestellter als wir. Besonders, wenn man älter wird, lernt man das zu schätzen. Viele verschiedene Ansichten sind sehr bereichernd. 

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1 Kommentar
  • Profilfoto von dejo
    dejo, 06.06.2015, 07:19 Uhr

    Wenn wir mehr solche Richter und Politiker hätten, könnte man auch wieder stolz auf unser Land sein!

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