Aufarbeitung Kinderheim Rathausen

«Man hat ihnen nicht geglaubt»

Markus Ries hat massgeblich zur der Aufarbeitung der Geschichte des Kinderheim Rathausen beigetragen. Mit dem Text des Denkmals ist er jedoch nicht zufrieden. (Bild: Sandro Portmann)

Seit August 2009 steht in Rathausen ein Mahnmal zur dunklen Geschichte des Kinderheims. Mit dem Text, der an das Leiden der Kinder erinnert, ist Markus Ries nicht zufrieden. Er leitete die Studie der katholischen Kirche zur Aufarbeitung der Geschichte des Heims in den Jahren 1930 bis 1970. Und diese Aufgabe sei noch nicht beendet.

«Es gab nicht nur Körperstrafen, es gab auch Demütigungen, ‹Psychoterror› würde man heute sagen. Prügel gab es tagtäglich, ja stündlich. Wenn wir geschlagen wurden, hiess es, wir seien selber Schuld.» Dies ist ein Auszug aus den Mitteilungen von Eduard Steiner, geboren 1934 in Hergiswil am See, an die Zeitschrift «Beobachter». Steiner lebte im Alter von 5 bis 18 Jahren im Kinderheim Rathausen.

«Man sollte die Betroffenen zu Wort kommen lassen», sagte Markus Ries von der Universität Luzern an seinem gestrigen Vortrag an der Veranstaltung des Forum Gersag im Pfarreizentrum Bruder Klaus. «Gewalt gegen Kinder unter dem Dach der Kirche». Er leitete die Studie der katholischen Kirche des Kantons zur Aufarbeitung der Geschichte des Kinderheims Rathausen in der Zeit von 1930 bis 1970. 15 Kinder- und Jugendheime gab es in jener Zeit im Kanton, sie betreuten zwischen 540 und 750 Kinder. Zehn der Heime wurden von Ordenspersonal geführt. Die Ergebnisse der Aufarbeitung zeigten ein Ausmass, das in dieser Intensität nicht erwartet wurde. «Kinder wurden nicht nur schlecht behandelt. Sie wurden auch misshandelt», sagt Fries. «Und das in einem erschreckendem Ausmass.» Mehr als die Hälfte der Befragten berichteten von sexueller Gewalt. Drei verschiedene Berichte zeugen vom Leid der damaligen Kinder.

«Man müsste den Text korrigieren»

Heute erinnern ein Apfelbaum und eine Tafel an das Leid der Kinder im Kinderheim in Rathausen, einem der grössten Heime der damaligen Zeit. Das Mahnmal wurde im August 2009 errichtet. «Wer hungrig oder wehen Herzens einen Apfel stibitzt, ist kein Dieb», steht da in grossen Buchstaben. Und: «Als Mahnung, dass sich Unrecht nicht wiederholt.» Ries kritisiert das Mahnmal. Er stört sich am Text mit dem Hungrigen und dem Apfel. «Das bedeutet etwa: Das Kind hat Fehler gemacht und wir haben das völlig überbewertet. Aber nein, das Kind hat keinen Fehler gemacht.» Für ihn ist klar: «Man müsste den Text korrigieren.» Einen besseren Vorschlag habe er aber nicht.

«Warum hat es 70 Jahre gedauert, bis die Diskussion begonnen hat?», wollte einer der rund 25 Anwesenden vom Referenten wissen. «Es ist mir selber ein Rätsel», antwortete Ries. «Wahrscheinlich, weil man ihnen einfach nicht geglaubt hatte.» Verschiedene Instanzen hätten versagt, damit die Misshandlungen so lange unter dem Deckel haben bleiben können – nicht zuletzt die Gesellschaft selber. Fries spricht von einer Geringschätzung gegenüber den Kindern, die wegen einer fürsorglichen Zwangsmassnahme ins Heim kamen. Zum Beispiel weil der Vater ein Säufer war oder das Kind unehelich geboren wurde. «Man dachte, sie seien miserable Leute, denen man den Weg zeigen musste.» Die kollektive Kontrolle habe versagt. «Ich finde niemanden aus dem Jahr 1950, der gesagt hätte, dass uneheliche Kinder ganz normale Kinder wären.»

Wiedergutmachung für 500 Millionen Franken

«Es darf sich nicht wiederholen», war eine zentrale Aussage der Opfer im Bericht von Ries. Das Geschehene soll nicht in Vergessenheit geraten. Zumindest aktuell sorgt das Thema in der Schweiz wieder für Gesprächsstoff. Am 19. Dezember 2014 wurde die Wiedergutmachungsinitiative eingereicht. Über 110’000 Personen haben sie unterschrieben. Vorgesehen ist ein Fonds über 500 Millionen Franken. Schwer betroffene Opfer sollen daraus eine Wiedergutmachung erhalten. Hinter der Idee einer finanzielle Entschädigung für die Opfer steht auch der Bundesrat. Nur einen Monat nachdem die Initiative eingereicht wurde, hat er einen Gegenvorschlag lanciert. Darin sieht er 300 Millionen als Entschädigung für das erlittene Unrecht vor. Der Bundesrat kommt auf einen kleineren Betrag, weil er von weniger Opfern ausgeht. So schreiben die Initianten auf ihrer Webseite: «In der Schweiz leben heute noch rund 20’000 Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen.» Die Landesregierung hingegen geht von 12’000 bis 15’000 Betroffenen aus. Als nächstes muss das Parlament über den Vorschlag des Bundesrats entscheiden.

«Aufarbeitung muss weitergehen»

«Die erschreckenden Misshandlungen in Rathausen waren exemplarisch für die Zustände in vielen Kinderheimen dieser Zeit», sagt Guido Fluri, Vater der Wiedergutmachungsinitiative auf Anfrage. Der Unternehmer ist selber in Heimen aufgewachsen und kennt die Schicksale. «So manche Kinder, die Opfer von Übergriffen wurden, haben ihr Vertrauen in die Institution Kirche verloren. Als gläubiger Christ bin ich der Meinung, dass gerade auch darum die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels insgesamt weitergehen muss», sagt Fluri.

Noch ist unklar, wie viele missbrauchte Personen aus Rathausen noch leben und von der Initiative profitieren würden. Klar ist: «Die Betroffenen aus Rathausen, die Opfer von schwerem Missbrauch wurden, fallen selbstverständlich unter den Kreis derjenigen, die eine Wiedergutmachung zugute hätten», sagt Fluri. Auch sie seien Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. «Ihr Leid soll nun erstmals dank der Wiedergutmachungsinitiative umfassend – auch mit finanziellen Leistungen – anerkannt werden.»

Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


0 Kommentare
    Apple Store IconGoogle Play Store Icon