Religion Zentralschweiz

Ist die jüdische Gemeinde in Luzern am Ende?

Hugo Benjamin, Vorsteher der jüdischen Gemeinde Luzern, in der Synagoge an der Bruchstrasse. (Bild: David von Moos)

Rund um die Luzerner Synagoge ist es still geworden. Vorbei sind die Zeiten, als das Bruchquartier noch jüdisch geprägt war. Mangels Kunden wurde nach der jüdischen Metzgerei nun kürzlich auch der koschere Lebensmittelladen geschlossen. Alleine in den letzten beiden Jahren verlor die jüdische Gemeinde Luzern zwei Drittel ihrer Mitglieder.

Seit über 100 Jahren zeugt die Synagoge an der Bruchstrasse von einer traditionellen jüdischen Gemeinde in Luzern. Ihre Geschichte selbst ist noch viel älter (siehe Box). Früher bereicherten zahlreiche Vereine das aktive jüdische Gemeindeleben. Damals war das Judentum ein durchaus sichtbarer Teil des gesellschaftlichen Alltags im Bruchquartier. 

Heute kämpft die jüdische Gemeinde Luzern ums Überleben. Nur noch rund 40 Personen zählt sie. Durchschnittlich liegt das Alter der Mitglieder zwischen 60 und 70 Jahren. Das sind selbst im Vergleich – Luzern ist kein Einzelfall – alarmierende Zahlen. Noch vor zehn Jahren gehörten zur orthodoxen Gemeinde nach eigenen Angaben etwa 200 Mitglieder, acht Jahre später waren es noch deren 150.

Problematische Abwanderung

Zu schaffen macht der jüdischen Gemeinschaft vor allem die Auswanderung, deren vielfältige Gründe unter anderem auch im Zionismus, der jüdischen Nationalbewegung, liegen. Gemäss Simon Erlanger, Lehr- und Forschungsbeauftragter für Judaistik am Institut für jüdisch-christliche Forschung an der Universität Luzern, verlassen pro Jahr rund 100 Juden die Schweiz Richtung Israel. Entsprechend sieht die Gesamtbilanz aus: «Seit der Gründung Israels 1948 sind tausende Schweizer Juden nach Israel ausgewandert. Heute leben in der Schweiz noch etwa 18’000 Juden.» Es lasse sich hier eine Konzentration der grösseren jüdischen Einheitsgemeinden in Zürich und Genf feststellen. Einzig diese Gemeinschaften würden wachsen – meist auf Kosten kleinerer Gemeinden.

«Leider finde ich keinen Nachfolger.»

Hugo Benjamin, Vorsteher der jüdischen Gemeinde Luzern

«Mehrmals schon wollte ich altershalber als Gemeindevorsteher zurücktreten», klagt der 83-jährige Hugo Benjamin. In Luzern geboren und aufgewachsen, ist er seit seiner Kindheit eng mit der jüdischen Gemeinschaft hier verbunden. Seit gut 50 Jahren engagiert er sich im Vorstand der Gemeinde. Seit 1985 ist er nun deren Vorsitzender. «Leider finde ich keinen Nachfolger», erklärt er. So mache er halt weiter, so lange es geht.

Ein toratreues jüdisches Leben

Nachwuchsprobleme hat nicht nur der Vorstand. Damit der tägliche Gottesdienst gefeiert werden kann, kommt regelmässig extra ein halbes Dutzend Studenten der Jeschiwa, der ultra-orthodoxen schweizerischen Talmud-Hochschule in Kriens, nach Luzern in die Synagoge. Am Sabbat jeweils zu Fuss. Denn nach strenger Auslegung der 248 Gebote und 365 Verbote dürfen Juden am Ruhe- und Feiertag nur gehen. «Wir verstehen uns als orthodoxe Gemeinde», so Vorsteher Benjamin. Das heisst, alle Institutionen sollen gemäss den Bestimmungen des jüdischen Religionsgesetzes und im Sinne der Tradition geführt werden.

«Wir verstehen uns als orthodoxe Gemeinde.»

Benjamin: «Wir wünschen uns sehnlichst Nachwuchs.» Doch der bleibt aus. Warum? «Bislang haben wir kein Erfolgsrezept», antwortet Benjamin. Man halte allerdings an der Tradition und der Ausrichtung der Gemeinde fest. Die Gemeinde stehe aber allen Juden offen, egal, ob diese im Umgang mit den religiösen Traditionen konservativ oder liberal seien. «Das ist jedem persönlich überlassen.»

Mischehen unerwünscht 

Weniger tolerant hingegen ist man in der orthodoxen Gemeinde mit Glaubensbrüdern und -schwestern, die den Bund der Ehe mit einem andersgläubigen Partner schliessen. Zwar ist ihnen die Teilnahme am Gottesdienst weiterhin erlaubt, das Eingehen einer Mischehe macht es aber unmöglich, Teil der Gemeinde zu sein. Bei «falscher» Heirat droht also faktisch der Ausschluss aus der ultra-orthodoxen Gemeinschaft.

Das macht die Partnerwahl für junge orthodoxe Juden schwer. Und wird auch der Gemeinde zur Last, die deswegen Mitglieder verliert. Denn mangels Partnerinnen verlassen junge Männer die Gemeinde und gründen anderswo eine Familie. Familien zerstreuen sich in alle Himmelsrichtungen. Benjamins Gross- und Urgrosskinder beispielsweise leben über verschiedenste Länder verteilt. «Das tut schon ein bisschen weh», so Benjamin, der seine Grosskinder kaum je zu Gesicht bekommt. Er sei aber sehr stolz darauf, dass seine Kinder die jüdische Tradition weiterpflegen.

«Wir sind es gewohnt, mit Zwängen umzugehen.»

Warum die Strenge – auch mit sich selbst? Ein toratreues Leben verlange seine Opfer, so Benjamin. «Wir sind es uns gewohnt, mit Zwängen umzugehen. Wir kennen nichts anderes.»

Selbstverschuldete Isolation? 

Die strengen Regeln machen teilweise auch die Integration nicht ganz einfach. Einladungen beispielsweise – ob von Freunden oder Geschäftspartnern – könne man nur in seltenen Fällen wahrnehmen, erzählt der frühere Geschäftsmann Benjamin. Zahlreiche Regeln stünden auch der Teilnahme an gesellschaftlichen Anlässen entgegen.

Sich von den Zwängen loszusagen, kommt für strenggläubige Juden wie Benjamin nicht in Frage. «Liberale» gelten ihrer Meinung nach als bequem. «Liberalisierung ist ein gefährliches Fahrwasser. Volk und Religion gehen Hand in Hand. Wir sind ein Volk aufgrund unserer Religion.» Zusammenhalt und Identität seien existenziell. Wer die religiösen Traditionen nicht pflege, der gefährde das Volk in seinem Fortbestand, so Benjamin.

Kein «Judentum à la carte»

Es scheint, als stehe sich die Luzerner Gemeinde in Sachen Mitgliedergewinnung selbst im Weg. Daniel Gerson vom Institut für Judaistik der Universität Bern: «Die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität ist in orthodoxen Kreisen sehr ausgeprägt. Die Bewahrung des Jüdischen in einem das Religionsgesetz sehr eng interpretierenden Sinn wird hochgehalten.» Insbesondere ultra-orthodoxe Gemeinden könnten sich mit der modernen säkularisierten Welt nicht identifizieren. «Der gesellschaftliche Trend hin zu mehr Öffnung wird abgelehnt. Es soll keine Liberalisierung im Sinne eines ‹Judentum à la carte› geben.» Den Konsequenzen dieser Haltung sei man sich durchaus bewusst.

Trotzdem wäre es für Gemeindevorsteher Benjamin eine «Tragödie, wenn die Luzerner Gemeinde sterben würde». In der Tat verschwände damit ein Stück Luzern.

Bewegte Geschichte

1288 finden sich erste Hinweise zu Juden in Luzern. In den folgenden Jahrhunderten wurden sie immer wieder in ihren Rechten eingeschränkt und vertrieben. 1866 durften sich jüdische Familien im Bruchquartier ansiedeln. Sie gründeten den «Israelitischen Kultusverein», die heutige «Jüdische Gemeinde Luzern». Vor zwei Jahren konnten die Luzerner Juden das 100-jährige Bestehen ihrer Synagoge feiern.

Seit der Gründung der Gemeinde hat sich viel verändert. Früher war die Gemeinschaft mit eigenem Gemeindehaus, Tauchbad, Friedhof und sogar einer eigenen Primarschule sehr präsent. Zahlreiche Vereine prägten das jüdische Gemeindeleben.

Opfer der eigenen Nationalbewegung

Nach 1945 ging die Gemeindemitgliederzahl unter anderem durch Auswanderung nach Israel zurück. Nach Gründung des Staates Israel unterstützte der Rabbiner Samuel Brom 52 junge Gemeindemitglieder in ihrer Bestrebung, auszuwandern. Wobei der orthodoxen Gemeinde freilich fast eine ganze Generation verloren ging. 

Gegenläufig zur gesellschaftlichen Öffnung und Säkularisierung entwickelte sich die Luzerner Gemeinde in den 50er und 60er Jahren von ihrer Prägung her in eine ultra-orthodoxe Richtung. Derzeit gehören der jüdischen Gemeinde Luzern noch etwa 40 Mitglieder an.

Unabhängige Subkultur

Große Aktivitäten in Luzern hingegen entfaltet seit 2003 die jüdische Organisation Chabad Lubavitch Luzern, deren Veranstaltungen parallel zum bisherigen jüdischen Gemeindeleben verlaufen. Ziel dieser Bewegung ist es, allen Juden – unabhängig von ihrer Ausrichtung – jüdische Religiosität nahe zu bringen und ihnen die Möglichkeit zu geben, an jüdischen Anlässen teilzunehmen.

 

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