Hungerstreik im Bostadel

Der Mann, der sich zu Tode hungerte

In der Sicherheitsabteilung der Strafanstalt Bostadel in Menzingen ZG entschloss sich der Häftling Martin Tobler* zu seinem Hungerstreik

(Bild: Christian Herbert Hildebrand)

Im April starb erstmals in der Schweiz ein Häftling nach einem Hungerstreik. Wer war der Mann, der im Bostadel einsass und so seine Freilassung erzwingen wollte? Und warum ging der Zuger dabei rigoroser vor als alle anderen vor ihm?

Am 13. April 2013 trifft der Seelsorger Peter Schmucki* den Häftling Martin Tobler* zum letzten Mal. 37 oder 38 Kilogramm wiegt Tobler noch, er ist zu schwach, um sich von seinem Bett zu erheben, und doch hat er während des Gesprächs im Kantonsspital Baar ein Lächeln auf den Lippen, wie Schmucki erzählt. Die Männer sprechen nicht mehr über den Hungerstreik, den Tobler Mitte Januar begonnen hat, um seine Freilassung aus dem Gefängnis zu erzwingen. Sie sprechen auch nicht mehr über die von ihm unterzeichnete Patientenverfügung, die die Zuger Behörden respektieren. Schmucki merkt, dass sein einstiger Pflegesohn dem Tod nahe ist.

In der Patientenverfügung heisst es:

«Ich lehne sowohl die künstliche Ernährung mit einer Magensonde als auch die künstliche Ernährung über Infusionen ab, selbst wenn dadurch mein Tod in Kauf genommen wird.»

Stattdessen sprechen die beiden Männer über ihre erste Begegnung, rund 14 Jahre ist sie her. Im Alter von 18 Jahren kommt Martin Tobler zu Schmucki und dessen Frau Susanne, nachdem seinen Eltern im Jahr zuvor die Obhut entzogen worden war. Eltern und Sohn hatten sich zerstritten, Tobler zog aus. Nach diesem Rückblick erzählt der mittlerweile 32-Jährige seinem einstigen Pflegevater am Krankenbett von seinem Wunsch, einer Arbeit nachzugehen, für sich selbst zu sorgen, draussen, in der Freiheit. Er wirkt gelöst. Ruhig. Drei Tage später stirbt er.

Schweizweit berichten die Medien über Toblers Tod: «Häftling im Spital verhungert» – «Weg von der Zwangsernährung» – «Hat Zug ethisch richtig gehandelt?». Die Experten sind sich in dieser Frage uneins. Rechtlich ist klar: Die Zuger Behörden haben korrekt gehandelt. Wenn eine schriftliche Patientenverfügung vorhanden ist, müssen sie den Willen des Häftlings respektieren. So will es eine 2011 vom Regierungsrat verabschiedete Verordnung, die Zwangsernährung verbietet. Doch unbeantwortet bleiben in den Medien die Fragen: Wer war Martin Tobler? Warum trat er in den Hungerstreik? Und warum zog er diesen rigoroser durch als alle anderen vor ihm – bis er schliesslich als erster Häftling in der Schweiz verhungerte?

«Eine Reanimation lehne ich ab.»

«Er wollte nicht sterben», sagt Seelsorger Schmucki drei Monate nach Toblers Tod. «Er war lebensfreudig, lustvoll, hatte Humor und etwas Spielerisches. Aber er hat den Tod in Kauf genommen, um sein Ziel zu erreichen: die Freilassung.» Der Mann mit dem «sturen Grind», wie ihn Schmucki bezeichnet, sei intelligent und einfühlsam gewesen, was sich insbesondere in Briefen gezeigt habe, die er an Leute verschickte, die er gern mochte. Später schrieb Tobler Dutzende weniger nette Briefe und EMails an ihm missliebige Personen – so etwa 2005 an den damaligen Bundesrat Pascal Couchepin: «Sie sind ein Riesenarschloch!» oder «Gerne werde ich Ihnen Ihren Sterbetag bekannt geben».

Für Angehörige kein Psychopath

Auch eine Angehörige Toblers betont, dass er nicht habe sterben wollen. Vielmehr habe er sich von Behörden und Gerichten ungerecht behandelt gefühlt. Mit dem Hungerstreik habe er insbesondere gegen die ihm verordnete stationäre therapeutische Massnahme in einer geschlossenen Anstalt protestieren wollen. «Er traf im Massnahmenvollzug auf Leute, die sehr viel schlimmere Delikte begangen hatten und sehr viel grössere Psychopathen waren als er», sagt die Angehörige. «Er war kein Psychopath. Sondern einfach ein – trauriger Mensch.»

Zwischen Toblers letztem Telefonat mit der Angehörigen und seinem Tod sind gut zwei Jahre vergangen. Er lehnte es ab, dass die Behörden sie oder seine Eltern über den Hungerstreik informieren. Sie kann nicht verstehen, dass man sie nicht doch informiert hat. «Ich habe doch das Recht, zu wissen, wie es ihm geht», sagt sie. «Dass er hungert und womöglich bald stirbt. Finden Sie nicht?»

Man sei an den Daten- und Persönlichkeitsschutz gebunden, sagt hingegen der Zuger Sicherheitsdirektor Beat Villiger. Informiere man gegen den Willen des Häftlings die Angehörigen, riskierten die Behörden eine Klage wegen Amtsgeheimnisverletzung. Selbstverständlich sei es jedem Häftling freigestellt, seine Familie selbst zu kontaktieren. Tobler tat es nicht. Für Schmucki gehört es zu «einem der Grundrechte von Insassen, dass sie bestimmen können, wer von ihrem Aufenthalt im Strafvollzug erfährt und wer nicht». Das Gleiche gelte auch im Hungerstreik. Informiere man die Angehörigen dennoch von sich aus, verletze man dieses Grundrecht «massiv».

«Sollte ich schwer belastende Symptome wie zum Beispiel Atemnot, Übelkeit oder Unruhe haben, möchte ich, dass ich so weit mit Medikamenten beruhigt werde, dass ich nicht mehr unter diesen Symptomen leide. Ich bin mir bewusst, dass dadurch das Risiko für lebensgefährliche Ereignisse, Körper- oder Hirnschäden oder unerwartet frühen Tod erhöht sein kann.»

Martin Tobler, als Primarschüler in einem Innerschweizer Dorf stets Klassenbester und mit einem grossen zeichnerischen Talent versehen, fällt den Zuger Behörden erstmals wegen Sprayereien auf. Da ist er 17. Ein Jahr später verurteilt ihn der Einzelrichter zu einer Busse von 100 Franken. 2000 und 2001 ergehen in zwei anderen Kantonen zwei weitere Urteile wegen Hausfriedensbruch, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie Sachbeschädigungen.

Die Polizei schreitet ein erstes Mal ein

In der gleichen Zeit beginnen Toblers schulische Leistungen nachzulassen. Er wohnt in einem betreuten Wohnheim, danach – um die zwei letzten Gymnasialjahre zu absolvieren – in einem Internat. Doch bereits nach einem Jahr, im Sommer 2000, fliegt er wegen ungenügender Noten raus. Die Schule sei ihm «zu kopflastig und sehr einseitig» gewesen, sagt Tobler später dem Psychiater. Er habe «keine Lust mehr gehabt zu lernen». Mithilfe des Zuger Sozialamts, das ihn unterstützt, findet er eine Anstellung in Genf. Später arbeitet er in einem Callcenter und einer Bank in Zürich. Und er will auf Anraten einer Angehörigen, mit der er sporadisch Kontakt hat, die Matura nachholen, wie diese erzählt.

«Ich bin vom Anstaltsarzt wiederholt über die Folgen des Hungerstreiks informiert worden und habe verstanden, dass ein Mensch ohne Nahrung je nach Umständen 30 bis 100 Tage überleben kann, wenn genügend Wasser zur Verfügung steht.»

Tobler nimmt mehrere Anläufe für die Matura – vergeblich. Das macht ihn wütend. Er versprayt die Gartenmauer und den Briefkasten eines Mitglieds der Maturitätskommission, verunstaltet das Treppenhaus des Staatssekretariats für Bildung und Forschung und schreibt böse Briefe, so unter anderem an Innenminister Couchepin: «Sie irren sich, wenn Sie glauben, dass die Sache mit meiner Matur ausgestanden sei.»

Die Polizei schreitet ein. Bei einer Hausdurchsuchung in Toblers Wohnung im November 2005 stellt sie eine Pistole, ein Wurfmesser und eine Sturmhaube sicher – und verhaftet den 24-Jährigen. Ein Psychiater begutachtet ihn und kommt zum Schluss, Tobler weise ein «erhebliches Potenzial für eine aggressive Impulsivität» auf. Das Aufzeigen seiner Lerngrenzen hätte für ihn eine «erhebliche Irritierung seines Selbstbewusstseins bedeutet», er weise «querulatorische, paranoide sowie narzisstische Persönlichkeitszüge» auf. Im September 2006 verurteilt das Zuger Strafgericht Tobler zu 7 Monaten und 10 Tagen Haft. Da er diese bereits in UHaft abgesessen hat, bleibt er in Freiheit. Er tritt erneut zur Matura an – und besteht. Die Medien berichten ein erstes Mal über den «Querulanten».

«Ich bin informiert worden und habe verstanden, dass es zu einem völligen Kräfteverfall mit Eintrübung des Bewusstseins bis zur Bewusstlosigkeit kommt.»

Nach einer Attacke auf eine Zugbegleiterin und erneuten Drohungen werden weitere Gutachten erstellt. Unter anderem kommt ein Psychiater 2008 zum Schluss, Tobler leide unter einer «kombinierten Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und schizoiden Zügen schwerer Ausprägung». Die Gefahr erneuter Straftaten sei erheblich, wenn die psychische Störung unbehandelt bliebe. Bisher zeige sich Tobler zu einer Therapie allerdings nicht bereit.

Kurz darauf, im Juni 2008, passiert, was wegweisend ist für Toblers weiteres Leben: In einem Einkaufszentrum sprüht er einem Staatsanwalt mit einem Deospray ins Gesicht, bespuckt und beschimpft ihn und schlägt ihm mit der Faust ins Gesicht. Noch fataler für den mittlerweile 27-Jährigen: Als man ihn gleichen Tages zu Hause verhaften will, zielt er mit einer geladenen und schussbereiten Pistole auf einen Polizisten. Er drückt nicht ab – sondern flüchtet. Tags darauf wird Tobler verhaftet und für 8 Monate in die geschlossene Abteilung der psychiatrischen Klinik in Rheinau ZH versetzt. Die Drohungen und die Gewalt, die ihm einst gegen hänselnde Schulkameraden Respekt verschafft hatten, sind eskaliert und bewirken jetzt das Gegenteil.

Im April 2009 verurteilt ihn das Zuger Strafgericht wegen Gefährdung des Lebens, einfacher Körperverletzung, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie weiterer Delikte zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten und einer stationären therapeutischen Massnahme in einer geschlossenen Einrichtung. Nach der Gerichtsverhandlung türmt Tobler aus der Tiefgarage des Zuger Gerichts. Eine sofort eingeleitete Grossfahndung bleibt zunächst erfolglos. Er befindet sich weder im Cisalpino nach Locarno noch in der Wohnung seiner Eltern, die die Polizei durchsucht – sondern in der Stadt Zug. Er wird am gleichen Abend verhaftet.

Schwierige Beziehung zu Eltern

Nun nennen die Medien Tobler einen «gefährlichen Psychopathen». Diese Bezeichnung habe ihn «sehr getroffen», sagt seine Angehörige. «Jemand, der einen anderen Menschen umbringt oder Frauen und Kinder vergewaltigt – das ist ein Psychopath. Nicht aber er.» Tobler legt Beschwerde gegen das Urteil ein. Er will sich nicht mit der stationären therapeutischen Massnahme abfinden, die «psychisch schwer gestörten» Tätern vorbehalten ist. Auch die seit der unangemeldeten Hausdurchsuchung endgültig zerrüttete Beziehung zu den Eltern belastet ihn schwer.

Ein knappes Jahr später bestätigt das Zuger Obergericht das Urteil. Eine Verwahrung wird verworfen, da Tobler nicht als völlig therapieresistent beurteilt werden könne. Zum gleichen Schluss kommt im Sommer 2010 auch das Bundesgericht. Aufgrund seiner psychischen Erkrankung könne es Martin Tobler zwar an der Einsicht fehlen, dass er eine Therapie benötige. Trotzdem sei er für diese unter Umständen zu motivieren.

«Ich bin informiert worden und habe verstanden, dass Blutdruck und Herzfrequenz absinken.»

Zum Zeitpunkt des Bundesgerichtsurteils befindet sich Tobler bereits in einem ersten Hungerstreik. Im Frühling 2010 hat er beschlossen, aus Protest nichts mehr zu essen. «Er sah nicht ein, warum er eine stationäre therapeutische Massnahme absolvieren soll. Er empfand sie als unfair», sagt sein Pflegevater, der Seelsorger Peter Schmucki. Schuldbewusstsein für seine Taten hätte Tobler jedoch gezeigt. «Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte», habe er dann jeweils gesagt, «würde ich anders handeln.»

Tobler verliert Kilo um Kilo – und wird schliesslich von der Zuger Strafanstalt Bostadel ins Inselspital Bern und von dort nach Baar verlegt. Dort besucht ihn neben seinem Pflegevater auch Sicherheitsdirektor Beat Villiger: «Er war überhaupt nicht aggressiv, im Gegenteil», erinnert sich der CVP-Politiker. «Er sah seine Fehler ein. Ich habe einen deutlichen Zukunftswillen gespürt.» Ähnlich äussert sich Schmucki, der zu der Zeit auf Wunsch von Tobler dessen Eltern dringend um einen Kontakt bittet, ohne den Hungerstreik zu erwähnen: «Er dachte an ein Leben nach dem Hungerstreik. Beim zweiten Hungerstreik war das anders: Die drohende Verwahrung bot ihm keine Lebensperspektive.» Die Eltern besuchen ihn nicht.

Unterstützung durch Zuger Regierungsrat

Als Tobler so schwach ist, dass er sich nicht mehr vom Spitalbett erheben kann, entscheidet er sich plötzlich, wieder zu essen. Der Grund sind weder die Besucher noch die ein bis zwei Sicherheitsmänner, die 24 Stunden am Tag an seiner Seite wachen. Sondern vielmehr «ein Lichtblick, ein Hoffnungsschimmer», wie Schmucki sagt. Auf Hinwirken von Regierungsrat Villiger wird ein schweizweit hoch begehrtes Zimmer in einem geschlossenen Massnahmenzentrum frei. «Man könnte sagen, ich habe mich erpressen lassen», sagt Villiger. «Doch ich sehe es anders: Ich konnte einen Platz für ihn organisieren, also habe ich es getan. Schliesslich war er gewillt, die Therapie anzutreten.»

Doch im Therapiezentrum Im Schache im solothurnischen Deitingen will es nicht klappen. Genauso wenig wie beim ersten Mal im Jahr 2009. Genauso wenig wie in der Therapieabteilung der Berner Strafanstalt Thorberg, wo er zeitweilig ebenfalls eine Therapie antrat. «Er wollte niemandem Einblick geben in sein Innerstes», sagt Paul Loosli, Direktor der Strafanstalt Schöngrün und des Therapiezentrums Im Schache. «Das macht es für Psychiater sehr schwierig – und für ihn selbst auch. Denn das Ziel der Massnahme sind Fortschritte.»

Im Juni 2012 verfügt der Zuger Vollzugs- und Bewährungsdienst die Aufhebung der stationären therapeutischen Massnahme. Dies ist möglich, wenn deren Durch- und Fortführung aussichtslos erscheinen. Der Leiter des Dienstes, Toni Amrein, beschreibt die Situation so: «Er sagte immer wieder: ‹Ich will das nicht. Ich brauche das nicht. Ich mache das nicht.› Irgendwann machte es auch aus unserer Sicht keinen Sinn mehr.» Der Vollzugsdienst beantragt beim Gericht, die Verwahrung Toblers zu prüfen. «Wir mussten befürchten, dass er in Freiheit erneut das Leben von Menschen gefährdet. Das wollten und konnten wir nicht riskieren», sagt Amrein. Ein Psychiater bestätigt die Persönlichkeitsstörung Toblers. Und er beantwortet die alles entscheidende Frage eindeutig: Ja, es seien Tötungsdelikte zu erwarten.

«Ich bin informiert worden und habe verstanden, dass der starke Eiweissverlust zu Muskelschwäche, Apathie und Herzschwäche führt.»

Tobler macht die Aussicht auf Verwahrung schwer zu schaffen. Noch im Frühsommer 2012 beginnt er, zurück in der Strafanstalt Bostadel, seine Ernährung drastisch einzuschränken. «Er ass nicht nichts, aber viel weniger, und bereitete seinen Körper so auf einen zweiten Hungerstreik vor», sagt sein Pflegevater. Im Januar 2013, der Entscheid des Gerichts ist noch nicht da, beginnt Tobler schliesslich zu hungern. Er will in die Freiheit entlassen werden – und teilt dies sowohl Vollzugsdienstleiter Amrein als auch Regierungsrat Villiger schriftlich mit. Tobler spekuliert darauf, dass seine Delikte zu wenig gravierend sind, um verwahrt zu werden. Und doch macht ihm eine mögliche Verwahrung Angst. Es schaue nicht gut für ihn aus, habe Tobler ihm wiederholt gesagt, erzählt Seelsorger Schmucki. Tobler kannte die Einschätzungen der Psychiater. Ende Februar 2013 wird er ins Kantonsspital von Baar verlegt. Es ist die 18. Verlegung seit Sommer 2009 – und Toblers letzte Station.

Wieso aber hat er nicht in die Therapie eingewilligt, die ihm bei erfolgreichem Absolvieren die ersehnte Freiheit gebracht hätte? Wollte er nicht? Oder konnte er nicht? Für Vollzugsdienstleiter Amrein sind die Fragen theoretischer Natur: «Es ändert nichts an der Ausgangslage. Er hatte eine Persönlichkeitsstörung und musste an dieser arbeiten.» Seelsorger Schmucki vermutet hingegen, «dass Tobler, auch wenn er gewollt hätte, wohl nicht gekonnt hätte – und das gespürt hat, ohne es jemals zuzugeben.»

«Eine nach einem abgebrochenen Hungerstreik zugeführte künstliche Ernährung kann für den Körper sehr belastend sein und unter Umständen zu Komplikationen mit bleibenden Schäden oder sogar zum Tod führen.»

Und so hungert Tobler weiter. Ob er tatsächlich daran glaubt, dass der Hungerstreik ihm die Entlassung bringen wird, weiss niemand. Nicht der Sicherheitsdirektor, der ihn wiederholt darauf aufmerksam macht, dass die «Situation dieses Mal eine ganz andere ist». Die Massnahme sei wegen Toblers fehlenden Willens abgebrochen worden, also könne er – Villiger – nicht erneut nach einem freien Therapieplatz suchen. Dem Regierungsrat sind auch deshalb die Hände gebunden, weil Tobler mündlich und schriftlich klargestellt hat, dass er keinesfalls mehr an einer Massnahme teilnimmt. Er will die Freilassung – oder den Tod.

Zwangsernährung als einzige Alternative

Auch der Pflegevater weiss nicht, ob Tobler tatsächlich an die Entlassung glaubte. «Aufgrund seiner juristischen Kenntnisse, die sich Martin im Fernstudium zugelegt hatte, wusste er, dass der Regierungsrat ihn nicht aus dem Gefängnis entlassen kann», sagt Schmucki. «Und doch hatte er das Gefühl, der Regierungsrat könne schon, wenn er wirklich wolle.» Das sei typisch gewesen für Tobler. Für logische Begründungen – in diesem Fall die Gewaltentrennung – sei er häufig nicht zugänglich gewesen, obwohl er sie von seinem Intellekt her verstanden hätte. Als Beispiel dafür führt Schmucki Gespräche mit seinem einstigen Pflegesohn über Prüfungen an. Wenn er wegen mangelnder Vorbereitung schlecht abgeschnitten habe, seien die Lehrer schuld gewesen. Sie seien doch dafür bezahlt, ihm das Durchkommen zu ermöglichen.

Die anderen müssen handeln

Das sei ein Muster, das sich immer wieder gezeigt habe, sagt Schmucki. Die anderen müssten handeln. Die anderen müssten sich verändern. Nicht er. Man habe oft auf Granit gebissen. Dieses beharrliche, ja oft sture Bestehen auf eigenen – vorhandenen und vermeintlichen – Rechten sei wohl Teil seiner Persönlichkeit. Oder wie es Psychiater formulieren würden: seiner Persönlichkeitsstörung.

Zu den Gutachten will sich Toblers Angehörige nicht äussern. Die Behörden hätten ihn zur Person gemacht, die er am Ende gewesen sei, ist sie überzeugt. Einen «starken Willen» habe er bereits in der Jugend gehabt. Damals habe er sich gegen die Eltern zur Wehr gesetzt – etwa wenn sie unlogische Regeln aufgesetzt und behauptet hätten, etwas sei einfach so, wie es sei. Sie kritisiert die Zuger Verordnung, die es den Behörden erlaube, einen Häftling «einfach sterben zu lassen». Doch auch sie räumt ein, dass die Alternative zum Hungerstreik keine einfache gewesen wäre: Zwangsernährung.

Seelsorger Schmucki hingegen findet es richtig, dass die Behörden den Häftling haben sterben lassen: «Martin hat seinen Weg während langer Zeit mehrfach hinterfragt, diesen immer wieder schriftlich und mündlich bestätigt, war nicht depressiv und wusste, was er tat.» In diesem Fall gehe das Recht auf Selbstbestimmung vor. Zudem: «Er hat sein Bewusstsein erst ganz am Schluss verloren. Man hätte ihn, den Protestierenden, zur Zwangsernährung mit massiver Gewalt ans Bett festschnallen müssen. Wäre das humaner gewesen?»

* Namen geändert.

Sterben lassen oder zwangsernähren?

Die Frage, ob Häftlinge zwangsernährt werden sollen, wenn sie an einem Hungerstreik zu sterben drohen, wird in der Schweiz unterschiedlich beantwortet: 12 Kantone haben juristische Grundlagen geschaffen, um sie sterben lassen zu dürfen, wie eine Umfrage der WOZ ergeben hat. Es sind dies BS, BL, BE, GL, NE, NW, SH SO, SG, VS, ZH und ZG.

Der Kanton Zürich etwa stützt sich seit diesem Jahr auf Richtlinien, die das Vorgehen bei Hungerstreik in den Vollzugseinrichtungen des Amts für Justizvollzug festlegen. Diese beschreiben detailliert das Vorgehen des Gefängnispersonals und des internen Arztdienstes im Fall eines Hungerstreiks. So muss dem Hungerstreikenden beispielsweise dreimal pro Tag eine Mahlzeit angeboten werden, und er wird durch den Gefängnisarzt über die möglichen Folgen seines Verhaltens aufgeklärt. Das ist auch beim Langzeitgefangenen Hugo Portmann der Fall, der sich in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies seit 29. Juli im Hungerstreik befindet.

Nach eigenen Angaben hat Portmann keine Patientenverfügung unterschrieben und würde im Notfall zwangsernährt werden wollen. Selbstverständlich könne und wolle man Insassen nicht dazu zwingen, eine Patientenverfügung zu unterzeichnen, sagt Rebecca de Silva, Sprecherin des Amts für Justizvollzug. Es handle sich «eher um ein Angebot». Werde die Patientenverfügung nicht unterzeichnet, liege der Entscheid über eine allfällige Zwangsernährung «einzig und allein» bei den zuständigen externen Ärzten in der Klinik. Zum konkreten Fall Portmann äussert sich das Amt für Justizvollzug nicht.

Der Kanton Bern hat die Hungerstreiks bei Häftlingen im Gesetz über den Straf- und Massnahmevollzug (SMVG) geregelt, das seit 2003 in Kraft ist. Unterschreiben Häftlinge eine Patientenverfügung, wird wie in Zürich auf Zwangsernährung verzichtet. Auch eine solche ist im SMVG geregelt. In den Kantonen AR, JU und LU sind juristische Regelungen in der Vernehmlassung. GR hat nur die Zwangsernährung geregelt, die restlichen Kantone nichts.


Der Artikel erschien zuerst im «Tages-Anzeiger» vom 19. August 2013

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