Neuägeri

«Hier bin ich und 20 Asylanten»

Neuägeri, das ist dort, wo das Lorzentobel Anlauf nimmt, bevor es ins Tal runterzieht. Der kleine Ort gehört sowohl zu Baar als auch zu Ägeri, ist teilweise in Menzingen und auch ein wenig in der Gemeinde Zug. Und doch gehört der Weiler nirgends richtig dazu. Und das zeigen seine Bewohner auch.

Da ist kein Mensch draussen im Garten oder auf dem Balkon, obwohl es ein warmer, sonniger Herbsttag ist. Die einzige Bewegung im Weiler Neuägeri scheint von den Autos zu kommen, die am Ort vorbeidonnern. Anhalten, das tun die wenigsten. Denn hier gibt es nichts.

Neuägeri liegt eingekesselt zwischen Hügeln. Zur einen Seite erhebt sich der Zugerberg, zur andern der Gubel, dazwischen schlängelt sich die Lorze von Unterägeri her einen Weg durchs Tobel in Richtung Baar. Der Weiler hat kein Zentrum, die bestehenden Häuser säumen beinahe ausnahmslos die Zugerstrasse.

Vier «Pfötli» und viele Fotografen

Gegenüber der Bushaltestelle «Neuägeri» steht die prächtige weisse Spinnerei, darin sind heute Dutzende Firmen eingemietet. Darunter das «4-Pfötli-Hotel», ein Polster-Atelier, mehrere Grafiker und Fotografen. Vor dem Haus wurde eine Lounge eingerichtet. Diese will mit ihren mediterranen Pflanzen und den unechten Rattan-Sesseln nicht ganz zum Ortsbild passen.

Es gibt hier keinen Laden, keine Poststelle und erst recht keine Schule. Dafür hat Neuägeri den Verkehrslärm einer Grossstadt. Der Verkehr ist so dicht, dass es kaum möglich ist, die Strasse ohne Fussgängerstreifen zu queren. Einzig zwei Restaurants gibt es. Das «Schmittli» am unteren Ende des Dorfs lässt sich kaum von der danebenliegenden Autogarage unterschieden. Auf der Fassade wird mit XXL-Cordonbleus geworben. Weiter oben an der Zugerstrasse liegt das «Rössli».

Am Ruhetag auf den Traktor

Das «Heute Ruhetag»-Schild deutet darauf hin, dass der Einblick in die Stammtischrunde an diesem Tag verwehrt bleibt. Gerade kommt der Wirt mit einer jungen Frau aus der Türe. Man müsse noch kurz mit dem Einachser-Traktor etwas erledigen. Der Wirt des «Rössli», Kurt Kunz, ist bereits 16 Jahre auf dem Betrieb. Dieser wiederum hat bereits mehr als 160 Jahre auf dem Buckel. Zur Frage, wer denn zu seinen Gästen zählt, meint Kunz: «Wir haben alles. Stammgäste, aber auch Durchfahrer.» Der Betrieb laufe gut.

Neuägeri ist ein Unort. Aber das so konzentriert, dass er die Bewohner zusammenschweisst. So stark, dass sie ihre eigene Republik gegründet haben. Eine sonderbare Flagge, die darauf hinweist, weht unter anderem vom Restaurant Rössli.

Eine Republik entsteht beim Bier

Auch an weiteren Gebäuden und in Gärten ist die Fahne aufgehängt. Darauf vereint sind die vier Wappen der Gemeinden Baar, Zug, Menzingen und Unterägeri. Darunter steht in schwarzen Lettern «Republik Neuägeri». «Die Idee für diese eigene Fahne hatten ein paar Bewohner vor einigen Jahren am Stammtisch beim Bier», klärt mich eine Bewohnerin auf. Das Gebiet von Neuägeri liege in den vier verschiedenen Gemeinden. «Und weil etwas viele Ausländer hier wohnen, haben die Schweizer hier eine Republik gegründet.»

«In jeder Stadt ist es bestimmt lauter»

Der Rössli-Wirt Kunz bestätigt, dass es in Neuägeri überdurchschnittlich viele Ausländer und auch einige Asylbewerber gebe. «Die vielen Ausländer machen mir aber nichts aus», sagt Kunz, und zuckt mit den Achseln.
Eine Passantin erklärt, dass sie seit drei Jahren hier in Neuägeri wohnt. Sie selber kommt aus Exjugoslawien, ihr Deutsch ist gut. «Wir haben vorher 28 Jahre in Unterägeri gelebt», erklärt sie mir, dann reibt sie Daumen und Zeigefinger aneinander, «aber dort wird es immer teurer». Darum bewohnt ihre Familie nun eine Neuägerer Wohnung gleich neben der Lorze. Nein, zu laut sei es nicht, so nah an der Strasse. «Man kann ja die Fenster schliessen. Ausserdem ist es in jeder Stadt bestimmt lauter.» Sie ist zufrieden hier in diesem Weiler, der weder Fisch noch Vogel ist. «Nur ein Laden fehlt. Das wäre schön, wenn wir hier die wichtigsten Dinge kaufen könnten und ich nicht immer nach Ägeri müsste dafür.»

In diesem Dorf, das keines ist, fallen vor allem die baulichen Gegensätze auf. Die bünzligen Chalets lassen, garniert von penibel genau arrangierten Geranientöpfen, den starken Wunsch nach Heimatgefühl vermuten. Gleich daneben stehen alte Gebäude aus der Industriezeit, die an der stark befahrenen Strasse und mit trister, fader Fassade, ein sehr unglückliches Bild abgeben.

 

«Hier bin ich und zwanzig Asylanten.»

Einwohner von Neuägeri

An der Bushaltestelle «Neuägeri» steht ein alter Mann. Er lehnt am Zaun, wartet, bis der Bus ihn auflädt und ins Tal fährt. Freundlich ist er. Er erklärt mir, dass er bereits seit 14 Jahren hier wohne und fügt stolz hinzu: «In einem alten Atelier, das ich als ehemaliger Zimmermann selber ausbauen konnte.» Es gefalle ihm gut in Neuägeri. «Obwohl», ergänzt er: «Hier bin ich und zwanzig Asylanten.»

Der alte Mann hat schlohweisses Haar, sein Blick ist trüb. Er wirkt gebrechlich. Ein junger Mann fährt uns auf dem Trottoir mit dem Velo entgegen. Es ist genug Platz da, dass er problemlos passieren kann. Trotzdem stellt sich der alte Herr plötzlich in die Mitte des Trottoirs, hebt die zittrigen Arme zu beiden Seiten, macht sich breit. Als der Velofahrer nicht vom Trottoir weicht, ergreift ihn der Alte am Arm und drängt ihn auf die Strasse. Zum Glück fährt gerade kein Auto vorbei. Der Velofahrer hält verdutzt an, schaut ungläubig zurück und spricht den alten Mann auf Spanisch an. Dieser reagiert empört, schreit: «Das Trottoir ist für mich bestimmt, du huere Lümmel!» Woraufhin der Velofahrer den Kopf schüttelt, zu fluchen beginnt und von dannen zieht. Der Alte ist sichtlich ausser sich vor Rage. «Genau so einer hat mich einmal umgefahren! Wenigstens passiert so etwas nicht jeden Tag.» Dann kommt der Bus.

 

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