Ein Rückblick

Die historische «Schandtat» von Luzern

Dort wo heute eine Wiese grünt, stand bis 1949 der «Freienhof». Unter einem nationalen Aufschrei wurde dieser abgerissen. (Bild: Luzern im Spiegel der Diebold Schilling-Chronik)

Die Geschichte der Zentral- und Hochschulbibliothek (ZHB) wiederholt sich. Mehrmals wehrte sich die Bevölkerung in der Luzerner Geschichte gegen den Abriss eines historisch wertvollen Gebäudes. Nur selten so erfolgreich, wie heute bei der ZHB. Die Stadt hat mehrere bauhistorische Wunden. Vor über 50 Jahren wurde in Luzern eine «Schandtat» verübt, wie der Historiker Stefan Ragaz heute sagt. Es war der Anfang der heutigen ZHB.

Vor 55 Jahren: Der Kanton hat Pläne, eine neue Zentral- und Hochschulbibliothek (ZHB) zu bauen. Doch dazu muss erst eines der bedeutendsten historischen Gebäude der Stadt weichen. Die Stadtluzerner wehren sich gegen den Willen des Kantons und mit ihnen Architekten und Historiker. Kommt Ihnen das bekannt vor? Was klingt, wie eine aktuelle Debatte, ereignete sich erstaunlich ähnlich vor 55 Jahren. Die Geschichte wiederholt sich. Ein Rückblick in die Nachkriegszeit von 1949, als in Luzern eine bauhistorische «Schandtat» verübt wurde, die den Historikern noch heute Tränen in die Augen treibt.

«Freiwillige Zerstörung von Kulturgut»

«Aus heutiger Sicht war das eine Schandtat», sagt der Historiker und Journalist Stefan Ragaz über den Abriss des «Freienhofs» im Jahr 1949. Das gotische Profangebäude (nicht kirchlich) befand sich gleich neben der Jesuitenkirche, dort wo heute die grosse Wiese grünt. Das historische Gebäude war laut Ragaz eines «der bedeutendsten Gebäude für die Stadtgründung» und erst seit 1943 im Besitz des Kantons.

Die Geschichte der ZHB ist eng mit dem Freienhof-Abriss verknüpft. Dort wo der Freienhof stand, sollte vor 55 Jahren die ZHB gebaut werden. Um die Kantons- und Bürgerbibliothek in der Stadt zu zentralisieren, plante der Kanton 1949 den Abriss des Freienhofs. «Ausgerechnet in einer Zeit, als Europa um den Verlust eines grossen Teils seiner Baudenkmäler trauerte, machte sich Luzern daran, ein Kulturgut zu zerstören – freiwillig», schreibt Ragaz in seinem 2013 veröffentlichten Buch «Luzern im Spiegel der Diebold Schilling-Chronik». Nur an wenigen Stellen im Sachbuch bezieht der Historiker so klar Stellung, wie eben beim Freienhof-Gebäude. «Der Freienhof war wohl das älteste Profangebäude der Stadt.»

«Politischer Wille fehlte»

Friedhof: Ein Herrschaftssitz

Wann der Freienhof gebaut wurde, ist laut Ragaz nicht bekannt. Klar ist, dass seine Geschichte mindestens ins 14. Jahrhundert zurückreicht, wahrscheinlich in die Zeit vor der Stadtwerdung im 12. Jahrhundert. «Wahrscheinlich war er ein eigener Rechtsbezirk, bevor sich die Stadt bildete», schätzt er in seinem Buch. Name und Lage würden dafür sprechen. 1365 wurde die Kapellbrücke an den Freienhof angebaut, er diente als Teil der Stadtbefestigung.

Wer über die Brücke ging, musste zwangsläufig auch den Freienhof passieren. Erst mit dem Bau der Bahnhofstrasse wurden die Brücke und der Freienhof voneinander getrennt. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts befand sich das gotische Gebäude immer im Besitz von Herrschaftsgeschlechtern. Ab 1803 wurde es eine Brauerei, später eine Kunsthandlung sowie Druckerei. Mehrere Um- und Anbauten im Laufe der Zeit machten es schwer, das historische Gebäude wieder herzurichten. 1949 wurde der Freienhof – begleitet von einem nationalen Aufschrei – abgerissen.

Noch vor dem Abriss kam es zu einem Aufstand der Stadtluzerner gegen die Kantonsregierung und das Parlament. Die Abrisspläne liessen auch in den anderen Kantonen aufhorchen. Die «NZZ» beispielsweise gab sich 1947 in einem Artikel verständnislos, mit welcher Leichtfertigkeit die Luzerner ihre wertvolle Uferlinie preisgeben. Zwei Jahre zuvor verfassten die Abriss-Gegner eine Mahnschrift und eine Petition gegen diese Zerstörung.  10’000 Luzerner unterschrieben die Petition. Erfolglos. Angesichts sich widersprechender Gutachten beschloss der Kanton, dass der Freienhof nicht erhaltungswürdig sei. Historiker Ragaz teilt diese Ansicht nicht: «Baulich war der Freienhof in einem schlechten Zustand. Es wäre wohl ein grosser Aufwand gewesen, das Gebäude herzurichten. Aber sicher nicht unmöglich. Es war genügend Bausubstanz vorhanden.» Letztlich habe der politische Wille gefehlt.

Zweiter Aufstand erfolgreich

Und eben zu diesem Zeitpunkt nach dem Abriss fliessen die Geschichten wieder zusammen. Denn die ZHB wurde bekanntlich nicht an der freien Stelle des Freienhofs gebaut. Es gab eine zweite Volksbewegung, die den Neubau schliesslich verhinderte. Denn als die Luzerner nach dem Abriss die Fassade der Jesuitenkirche sahen, wehrten sie sich, diese wieder zu verbauen. Mitten in den Aushubarbeiten kam der Baustopp. Die ZHB wurde an der Sempacherstrasse im Vögeli-Gärtli gebaut, wo sie noch heute steht, wenngleich in schlechtem Zustand.

Sensibilisierung nach dem Krieg

Heute haben die Luzerner ein starkes Bewusstsein für ihre historischen Bauten. Der Aufstand für die Rettung der ZHB zeugt davon. Aber nicht nur: «Wie sehr sich die Menschen in Luzern mit ihrem kulturhistorischen Erbe identifizieren, zeigte die Katastrophe in den frühen Morgenstunden des 18. August 1993, als die Kapellbrücke niederbrannte», schreibt Ragaz als Autor in «Luzern im Spiegel der Diebold Schilling-Chronik». Doch dieses Bewusstsein musste erst geschaffen werden. Laut Ragaz entstand es erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert. Auch die Zerstörung der historischen Bauten während des 2. Weltkriegs sensibilisierte die Menschen in Europa.

Die «Säuberung»

Neben dem Freienhof bezeichnet Ragaz auch den Abriss des alten «Rössli» als Wunde aus der gleichen Zeit. Das Gasthaus «Zum weissen Rössli» war eines der ersten Wirtshäuser und die bedeutendste Herberge der Stadt. Das Gebäude wurde 1947 abgerissen. Heute befindet sich eine Coop City-Filiale an diesem Standort.

Es war die Zeit, als man Altes mit einem kritischen Blick betrachtete. Speziell galt dies für die Tourismusbauten der «Belle Epoque». Ausgerechnet ein Luzerner, Armin Meili (1892 bis 1981), der Erbauer des Kunst- und Kongresshauses Luzern mit Wagenbachbrunnen (1933), erstellte 1943/44 im Auftrag des Bundes die Studie «Bauliche Sanierung von Hotels und Kurorten». Darin empfahl er die «Säuberung der Baukörper von den unzweckmässigen und hässlichen Zutaten aus dem Ende des letzten Jahrhunderts» oder gar die vollständige Entfernung. Das Hotel Du Lac wurde 1948 abgerissen, das Hotel St. Gotthard-Terminus im Jahre 1964. Auch der Kursaal stand auf der Liste. Ein Zeuge dieser Denkschule ist das 1845 erbaute Hotel Schweizerhof, dessen Fassade im Jahre 1955 «purifiziert» wurde.

Ein Mahnmal der Ignoranz

Vor dem «Schweizerhof» klafft eine noch ältere Wunde. Dort stand einst die Hofbrücke. Sie verschwand, als im 19. Jahrhundert die Seebucht zugeschüttet wurde. «Es war die Zeit der Expansion», sagt Ragaz. Man schuf in der Stadt Platz, um weiter zu wachsen. Ebenso nahm der Verkehr zu, auch der Fremdenverkehr, und Luzern wurde schon vor dem Bau des Bahnhofs im Jahr 1859 zu einem wichtigen Knotenpunkt. «Die Hofbrücke musste letztlich aber weichen, weil das ‹bedeckte Gerüst›, wie die Brücke im städtischen Rat bezeichnet wurde, den Touristen die Sicht auf den See versperrte», erklärt der Historiker.

«Der Kanton wollte beweisen, wer das Sagen hat.»

Stefan Ragaz, Historiker

«Das ist heute unvorstellbar, wenn man bedenkt, welchen Stellenwert die Kapellbrücke hat.» Trotzdem sei es eine andere Zeit mit anderen Prioritäten gewesen. «Ich kann das nachvollziehen für jene Zeit. Nicht aber beim Freienhof, als die Luzerner das Bewusstsein für ihre historischen Bauten bereits hatten.» Er schätzt, dass es sich um ein Machtspiel des Kantons als Eigentümer des Gebäudes gegenüber der Stadt handelte. «Der Kanton wollte beweisen, wer das Sagen hat», so Ragaz. «Heute zeugt die grüne Wiese neben der Jesuitenkirche wie ein ungewohntes Mahnmal von der Ignoranz der seinerzeitigen Politiker», schreibt Ragaz in seinem Buch. 

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1 Kommentar
  • Profilfoto von tonino wir sind cool.org
    tonino wir sind cool.org, 11.10.2014, 18:43 Uhr

    kann ich mit ZENTRAL+ meinen Blickwinkel erweitern. Gut erinnere ich mich an die Zeiten als Autos auf dem Reussquai ohne Fahrverbot unterwegs waren und div. Stadtplätze als Parkplätze dienten. Nun freue ich mich, bald eine autofreie Bahnhofstraße zu erlaufen.

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