Bericht zu Medikamenten-Versuchen liegt vor

Luzerner Klinik St. Urban hat damals offenbar nicht illegal gehandelt

Die psychiatrische Klinik in St. Urban. Hier wurden Medikamentenversuche an Patienten durchgeführt.

(Bild: zvg)

In einer Untersuchung wurde der Umgang mit Arzneimittelversuchen in der Klinik St. Urban zwischen 1950 und 1980 rechtlich beurteilt. Der Bericht kommt gemäss der Luzerner Staatskanzlei zum Schluss, dass die Klinik St. Urban keine Rechtsnormen verletzt habe. Der Umgang mit Arzneimitteln habe dem Standard der damaligen Zeit entsprochen, so das Fazit.

Im November 2017 wurden in der SRF-Sendung «Schweiz aktuell» die Medikamentenversuche in der Klinik St. Urban (heute Luzerner Psychiatrie lups) in den Jahren 1950 bis 1980 thematisiert (zentralplus berichtete). Gesundheits- und Sozialdirektor Guido Graf stellte im Rahmen dieser Sendung in Aussicht, stichprobenweise Patientendossiers im Kontext der damals geltenden Rechtsgrundlagen überprüfen zu lassen.

Mit der Untersuchung wurde Prof. em. Dr. iur. Paul Richli, emeritierter Ordinarius für öffentliches Recht und ehemaliger Rektor der Universität Luzern, betraut. Die Untersuchung hatte gemäss Kanton zwei Ziele: Einerseits die Klärung der rechtlichen Situation im Bereich Medikamentenversuche im Zeitraum zwischen 1950 und 1980 und andererseits eine Analyse des formellen Vorgehens bei Arzneimittelversuchen in der Klinik St. Urban anhand einer Auswahl von Patientendossiers. 

Keine Verletzung von Rechtsnormen

Im besagten Zeitraum habe die Gesetzgebung des Kantons Luzern keine Rechtsnormen gegolten, wonach die Klinik St. Urban verpflichtet gewesen wäre, die Patienten über Arzneimittelversuche aufzuklären und ihre Zustimmung einzuholen, so schreibt der Kanton Luzern in einer Mitteilung. Auch aus dem damals geltenden Bundesrecht oder aus interkantonalen Vereinbarungen hätten sich keine derartigen Rechtsnormen ergeben.

Es habe auch keine klinikinternen Richtlinien gegeben für die Handhabung von Arzneimittelversuchen, keine Richtlinien für die (einheitliche) Führung von Patientendossiers und keine einschlägigen Forschungsstandards. Aus der Rechtslehre und der Rechtsprechung sowie aus Standesnormen der Ärzteschaft und Bestimmungen über die Zulassung von Arzneimitteln lasse sich im Untersuchungszeitraum 1950 bis 1980 gemäss Bericht keine eindeutige Verpflichtung ableiten, Patienten von psychiatrischen Kliniken über den Einbezug im Testverfahren von Arzneimitteln aufzuklären und dafür die ausdrückliche Zustimmung einzuholen.

«Die Klinik St. Urban ha somit hinsichtlich der Handhabung von Arzneimitteln dem Standard der damaligen Zeit entsprochen», so die Staatskanzlei weiter. Sie falle auch im Hinblick auf die damalige Praxis nicht gegenüber der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel ab, die zum damaligen Zeitpunkt sogar international eine herausgehobene Stellung einnahm.

Stichprobenweise Überprüfung von Patientendossiers

Das Staatsarchiv Luzern habe unter der Leitung von Staatsarchivar Dr. phil. Jürg Schmutz nach statistisch relevanten Kriterien aus rund 19’000 Patientendossiers eine Auswahl von rund 2000 Dossiers von Patienten aus dem Zeitraum 1950 bis 1980 getroffen. Für die Auswertung seien jedes 20. Dossier sowie zusätzlich rund 50 vom Staatsarchiv als besonders auffällig identifizierte Dossiers hinsichtlich folgender Kategorien untersucht worden: 

• «Anzeichen für Zustimmung»
• «Patientenwünsche betreffend Behandlung/Medikation»
• «Widerstand gegen Behandlung oder Arzneimittel»
• «Versuchspräparat bzw. noch nicht zugelassene Arzneimittel»
• «Zwangsbehandlung oder Behandlungsverweigerung»

Es habe bereits in den 50er-Jahren – in denen die Entwicklung von Medikamenten in der Psychiatrie ihren Anfang nahm – klare Anzeichen dafür gegeben, dass das Personal mit den Patienten über die gefassten Massnahmen gesprochen und auch Wert auf die Akzeptanz gelegt hat.

Kein Eingriff in die psychische und physische Integrität

Dies treffe insbesondere auf die Verabreichung von Arzneimitteln zu. Die Arzneimittelversuche hätten dem Zweck gedient, bessere Heilmethoden zu entwickeln. Sie seien zur damaligen Zeit nicht als Eingriff in die psychische oder physische Integrität der Patienten betrachtet worden.

Aus der Analyse der Dossiers werde aber auch ersichtlich, dass die Patienten teilweise überredet oder Zwangsmassnahmen angedroht seien. In einigen Fällen sei die Zustimmung von Familienangehörigen (beispielsweise des Ehepartners oder der Eltern) eingeholt worden. Das Personal habe sich bei Widerständen gegen Massnahmen auf ausführliche Diskussionen eingelassen und die Patientin respektive den Patienten zu überzeugen versucht, beziehungsweise erfolgreich überzeugt.

Im Untersuchungszeitraum sei seitens der Klinik das Bestreben vorhanden gewesen, dass die Patienten mit den sie betreffenden Massnahmen einverstanden gewesen seien. Es lasse sich kein grundsätzlicher Unterschied zwischen der Aufklärung und Einholung der Zustimmung für Versuchspräparate einerseits und für zugelassene Arzneimittel andererseits feststellen. Minderjährige scheinen nicht anders behandelt worden zu sein als Erwachsene.

Kein Hinweis auf Todesfälle aufgrund der Verabreichung von Versuchspräparaten

Mit Blick auf die Auftragsumschreibung wurde die Abklärung des Umgangs der Klinik St. Urban mit einem 17-jährigen Patienten gewünscht, an dem gemäss Angaben der SRF-Sendung «Schweiz aktuell» ein Arzneimittelversuch vorgenommen worden sein soll. Dieser Patient konnte in den rund 19’000 Patientendossiers mit zumutbarem Aufwand jedoch nicht identifiziert werden. Es wurde zwar das Dossier eines 17-jährigen Patienten gefunden. Darin fanden sich aber weder Arzneimittelangaben noch Angaben zu Arzneimittelversuchen.

In der Kategorie «Versuchspräparat bzw. noch nicht zugelassene Arzneimittel» komme der Bericht zum Schluss, dass in den Patientendossiers fast nie angegeben worden sei, ob die Patienten über den Versuch informiert worden seien und ob man ihre Zustimmung eingeholt habe. Betreffend «Zwangsbehandlung oder Behandlungsverweigerung» zeige der Bericht auf, dass die Patienten vereinzelt mit Zwang dazu gebracht wurden, ein Arzneimittel einzunehmen oder eine Behandlung zu akzeptieren. Vereinzelt wurden weitergehende Massnahmen angedroht, beispielsweise die Meldung an die Behörden.

Nebenwirkungen wurden selten vermerkt

Nebenwirkungen von Arzneimitteln – ungeachtet, ob bereits zugelassen oder nicht – seien in den Patientendossiers nur selten vermerkt. Gemäss Bericht kann davon ausgegangen werden, dass die Wirkung der Versuchspräparate – wie die Wirkung von Arzneimitteln allgemein – überwacht worden sei und dass man auf negative Wirkungen (Nebenwirkungen) mit einer Anpassung der Medikation reagiert habe.

Den Dossiers sei gemäss Kanton Luzern nicht zu entnehmen, dass es bei der Verabreichung von Versuchspräparaten zu besonderen Vorkommnissen oder sogar Todesfällen gekommen wäre. Die Frage möglicher Beitragszahlungen von Pharma-Firmen an die Klinik St. Urban kann nicht eindeutig beantwortet werden. Entsprechende Akten aus jener Zeit, welche allfällige finanzielle Aspekte thematisieren, seien nicht (mehr) vorhanden. 

Fliessende Übergänge zwischen Therapie und wissenschaftlicher Verwertung

In den 50er-Jahren waren Medikamentenprüfungen häufig Heilversuche, bei denen die Übergänge von Therapie und wissenschaftlicher Verwertung fliessend waren. Mit der Etablierung erster Standard- und Referenzmedikamente, der zunehmenden Standardisierung der Wirkungserfassung sowie dem Aufkommen kontrollierter Versuchs-Settings ab Mitte der 60er-Jahre habe sich der experimentelle Anteil an den Prüfungen verstärkt.

Im Bericht werde festgehalten, dass davon auszugehen sei, dass die Patientenrechte vor den 70er-Jahren in der Schweizer Psychiatrie kein grosses Thema gewesen seien. Es habe ein paternalistisches Verständnis der Arzt-Patienten-Beziehung vorgeherrscht, wobei der Arzt geglaubt habe, im wohlverstandenen Interesse des Patienten zu handeln.

Heute sind Patientenrechte klar geregelt

Mittlerweile seien die Patientenrechte umfassend und detailliert geregelt und es bedürfe insbesondere im Hinblick auf Arzneimittelversuche des ausdrücklichen Einverständnisses der sich zur Verfügung stellenden Person. Anzumerken sei, dass laut Angaben der Klinik St. Urban nach 1980 auf die Mitwirkung an Arzneimittelversuchen verzichtet wurde.

Gesundheits- und Sozialdirektor Guido Graf sagt im Hinblick auf die Arzneimittelversuche in der Klinik St. Urban zwischen 1950 und 1980: «Es ist wichtig und richtig, dass wir dieses Kapitel aufgearbeitet haben und wir nun wissen, was passiert ist – wobei die Resultate im Licht der damaligen Zeit zu betrachten sind.» Er bedauere es, dass es vereinzelt zu Situationen gekommen sei, die aus heutiger Sicht nicht tolerierbar seien. Zudem zeige dies auf, wie wichtig detaillierte Regelungen und einheitliche Standards im Bereich der Patientenrechte seien und wie viel Fortschritt es diesbezüglich in den vergangenen Jahrzehnten gegeben habe.

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