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Eine Reise zurück zu meinen literarischen Wurzeln

Sag mir, was Du liest und ich sage Dir, wie Du wohnst

Auch meine Katze liebt lesen.

(Bild: Katja Zuniga-Togni)

Literaturbloggerin Katja Zuniga-Togni entführt uns heute in ihre Anfänge als Leseratte. Sie erzählt unter anderem von ihrer Liebe zu Karl May und Enid Blyton und davon, warum Sie damals keine Comics zuhause hatte.

In der vierten Primarklasse hebe ich beim Lesen ab und galoppiere auf dem Rücken eines schwarzen Hengstes durch die Prärie. Mit ist nicht ganz klar, ob ich die Geliebte Winnetous sein will, da Squaws keine eigenen Pferde besitzen und ich sehr gern einen schwarzen Hengst mein Eigen nennen würde. Das Leben als Mann scheint abenteuerlicher zu sein. Ich überfliege Passagen, wo die Erzählung durch langweilige Liebensangelegenheiten unterbrochen wird.

Diese halten den Fluss der Geschichte nur unnötig auf. Wenn hingegen der lustige kleine Mann sein Toupet in die Höhe hält und triumphierend kichert, stelle ich mit vor, wie er von den Indianern skalpiert und sein Kopf für immer von den Haaren befreit wird. Die Indianer, vor allem die Sioux und die Mohikaner, befinden sich ständig auf dem Kriegspfad. Die edlen Apachen hingegen skalpieren nur zur Not. Wird das Kriegsbeil ausgegraben, spannen sich die Sehnen der Pfeilbogen. Angriffsgeheul durchbricht die Nacht, Feuer erhellten die in Brand gesteckten Wigwams und überstrahlen den schwachen Schein der Taschenlampe.

Die Siedler werden aus dem Hinterhalt angegriffen, wenn sie in ihren Planwagen friedlich durch feindliches Gebiet Richtung Westküste ziehen. Ein wilder Westen ist das, wo ich in der Nacht unter der Bettdecke herumschleiche und seitenlang um Old Shatterhand bange, der an einen Marterpfahl gefesselt ist und von Winnetou in letzter Minute befreit werden wird.

Bis ich die Bände, die in der Bibliothek meiner Eltern auf dem untersten Tablar stehen, durchgelesen habe, verbrauche ich zahlreiche Batterien. Selber haben meine Eltern kaum eine Zeile Karl May gelesen. Der ist verpönt.  Nein, ein gebildeter Mensch lächelt nur abschätzig über diesen Autor, der keine Ahnung hatte, wovon er schrieb. In Wirklichkeit sass er immer wieder im Gefängnis in Deutschland; mitnichten galoppierte er durch das grosse, freie Amerika. Er erfand Geschichten, in denen Frauen kein eigenes Pferd besassen, und wenn er jetzt lebte, schriebe er Bücher, in denen die Frauen nicht Auto fahren können.

Karl May liest man als erwachsene Person nicht mehr

Aus Amerika ergreift uns die Welle der lustigen Taschenbücher – Mickey Mouse huscht durch die Kinderzimmer und pfiffige Autoren lassen Daniel Düsentrieb auf uns los. Um den Atlantik zu durchschwimmen benötigen Disneys Figuren aus Duckburg und Mouseton 21 Jahre und gründen hier 1951 das deutsche Entenhausen.

Tim und Struppi werden gerade noch geduldet, auch aus der Lektüre von Asterix kann man noch etwas lernen, aber Mickey und seine Freunde werden von den Erwachsenen als Schundliteratur abgetan. Das macht sie für uns Kinder umso begehrenswerter. Überall lachen mir Comics entgegen, nur nicht im eigenen Haus, da sind sie des Teufels.

«Nur gewöhnliche Leute lesen Comics!», sagt mein Vater, der selber nie ein Buch liest, nicht einmal in den Ferien.

An einem freien Mittwochnachmittag bin ich bei Hanneli im Block eingeladen. In der Wohnung gibt es keine Büchergestelle. Auf dem Buffet stehen nur einige Reader’s Digest-Ausgaben. Hanneli öffnet den Wandschrank in ihrem Kinderzimmer und mein Erstaunen nimmt kein Ende. Liegen schon auf dem Boden Bessy-Heftli herum, so stapeln sich im Schrank erst noch Dutzende von «Lustigen Taschenbüchern». Sie gehören Hannelis Bruder.

Eine selbstgemalte Zeichnung meiner Katze auf dem Büchergestell.

Eine selbstgemalte Zeichnung meiner Katze auf dem Büchergestell.

(Bild: Katja Zuniga-Togni)

Wenn das mein Vater sehen würde, müsste ich sofort wieder gehen. «Deshalb wohnen diese Leute in einem Block! Siehst du! Das kommt davon, wenn man solche Schundheftli liest! Dann lebt man automatisch auch billig!»

Den ganzen Nachmittag lang lesen wir die Abenteuer von Andi und Bessy, seiner Hündin, die gleich aussieht wie Lassie. Meine Eltern haben mich für immer verloren, und meine glanzvolle Zukunft wird sich fortan aufs Lesen ebensolcher Lektüre beschränken.

Meine Bewunderung für Karl May’s Romane wird nicht gemindert, als mich mein älterer Bruder zu entzaubern versucht, indem er mir etwas vom tatsächlichen Leben des Autors verrät. Karl May sei bloss ein simpler Betrüger gewesen, der sich in seiner Zelle zu bessern hatte und zum Zeitvertrieb Romane schrieb.

Im Gegenteil. Ich lese dann auch noch Karl May’s Abenteuerromane, in denen arabische Wadis vorkommen, obwohl er auch den Orient nur in Gedanken besuchte und sich sein grosses Wissen über Geografie und Gepflogenheiten der Bewohner der auserwählten Schauplätze mittels Studium von Reiseberichten angeeignet hat.

In meiner Kindheit buhlen Karl May und Enid Blyton um meine Gunst

Enid Blyton’s Protagonisten, Mädchen und Jungen in meinem Alter, erleben in einem Schulinternat die spannendsten Abenteuer. Die fünf Freunde verkürzen die Nächte – ich lese bei Einschlafen und träume von einem Leben im Internat. Wöchentlich leihe ich mir neue Bände aus, von meinen Freundinnen oder aus der Bibliothek.

Auch die Bücher, die meine Mutter lesen, haben Titel, die mich neugierig machen:

  • Der Idiot
  • Mit den Clowns kamen die Tränen
  • Der erste Kreis der Hölle

Das letztere ist mit einem roten Stoffumschlag versehen, und in schwarzen Lettern prangt darauf der Namen des Schriftstellers: Andrej Solschenizyn. Ein Schriftsteller, der gleich heisst wie mein ältester Bruder! Ich vertiefe mich in die erste Seite, aber ich verstehe das Gelesene nicht. Es ist weder lustig noch spannend. Auch nicht irgendwie familiär, wie es der vertraute Vorname meiner kindlichen Phantasie vorgaukelt. Ich bin enttäuscht.

Der erste jugendfreie Roman

Mit Dreizehn werde ich dann einen Roman lesen, der nicht für Kinder geschrieben wurde, und das kommt so: Ich fahre im Zug ganz alleine zu meinen vier Grosstanten nach Lugano für ein Wochenende. Sie sind über siebzig Jahre alt. Ihre Wohnung liegt über dem Bahnhof und ist eingerichtet wie eine Puppenstube. Alles winzige Möbel, alle alt, ohne je Antiquitäten zu werden. Im Wohnzimmer lässt sich der Diwan zu einem Bett ausziehen. An der Wand steht eine Kommode mit einer Ablage, auf der etwa zehn Bücher Platz finden.

Diese sind auf Italienisch oder Französisch verfasst, den Umgangssprachen meiner Grosstanten. Die jüngeren beiden können zudem noch fliessend Hochdeutsch, da sie lange in Luzern gelebt und gearbeitet haben. Wohl deshalb steht auch ein Buch im Regal, das auf Deutsch verfasst ist – «Im Westen nichts Neues» von Erich Maria Remarque. Dass ein Mann Maria mit Vornamen heisst, zeichnet ihn in meinen Augen als speziellen Menschen mit einer speziellen Begabung aus.

Der Rainer Maria schrieb das wunderschöne Gedicht vom Panther, der im Herzen aufhört zu sein. Was hat wohl der Erich Maria geschrieben?

Ich schlage das Buch auf, als ich nicht einschlafen kann, und plötzlich bin ich mitten drin. Im Morgengrauen erwache ich völlig erschöpft aus Krieg und Bedrohung. Ich lese das Buch am selben Wochenende zu Ende. Es bewegt mich sehr. Die Personen, die ich während dem Lesen liebgewonnen habe, sterben im Granatenhagel oder verbluten in den überfüllten Lazaretts. Das ist kein Abenteuer mit Helden und Happy End.  Die Enid Blytons und Winnetous, die zu Hause noch herumliegen, versinken in Belanglosigkeit.

Zwei Jahre später lese ich Hermann Hesses Siddharta, und meine Kindheit ist endgültig vorbei.

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