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Feierabendgedanken im Weichbild des Siedlungsbreis

Trittst im Abendrot daher

(Bild: Hans Eiskonen)

Thomas Hürlimann nannte seinen Heimatkanton einmal ein Raumschiff, das abgehoben habe. Richtung globalen Profit, könnte man beifügen. Der wirtschaftliche und siedlungspolitische Durchstart hat die Hauptstadt allerdings nicht davor bewahrt, ihre schönste, grösste und zentralste Fabrik abzureissen, um dort ein langweiliges Einkaufszentrum Platz greifen zu lassen.

Die Volksabstimmung vor 30 Jahren war von keinerlei Diskussionsinput seitens der Denkmalpflege gebremst. Während die Zürcher ihrer Schiffbauhalle zwecks Theater eine neue Nutzung verpassten, blieben die Chancen zu einer genialen Neuinterpretation des wichtigsten Bauzeugen seit der Stadtmauer (ebenfalls abgerissen) ungenutzt. Während Boston, Melbourne und viele andere Städte ihre Industriekathedralen als Malls zu neuem Leben erweckt haben, sind sie hierzulande verschwunden, von sporadischen Ausnahmen einmal abgesehen (Spinnerei an der Lorze, Untermüli).  

Zug und Baar haben in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ihre Identität verloren. Eine missglückte, d.h. geistig abgestumpfte Stadtplanung hat passiv zugeschaut, wie Spekulation und Ausnützung jeder organischen Entwicklung den Garaus gemacht haben. Nicht nur Kees Chistiaanse hat diesen Identitätsverlust diagnostiziert. Die Achse Altstadt–Bahnhof hat ihre bürgerlich-historistische Prägung eingebüsst und ist durch klotzige Dutzendbauten in eine charakterlose Warteschlaufe geraten.

Wie schnell die angestrebte Fortschrittlichkeit zum alten Hut wird, lässt sich am Beispiel des Hauses Zentrum verdeutlichen, das nach wenigen Jahrzehnten als Schandfleck und Störfaktor am Rande einer herausgepützelten Altstadt obsolet geworden sei, wie Volkes Stimme moniert. Die Reste der bejahrten Rumpf-Neustadt gegen den Bahnhof hin werden zur «neuen Altstadt» verklärt und sollen dem Defizit der verdunsteten Lebensqualität ballenbergartig entgegenwirken. Verspäteter Respekt, denn für das Biotop eines Stadtteilcharakters braucht es mehr als einige potemkinsche Gassen.

Hochhausfieber

Da wäre schon eine baustilmässig kohärente, über Jahrzehnte gewachsene Ausdehnung wie die der Luzerner Neustadt vonnöten. Wenn aber die Innenstadt charakterlos geworden ist, der Abglanz der Belle Époque dem glanzlosen JeKaMi der neuen Gewerblichkeit gewichen ist, führt leider kaum ein Weg zurück. Das «Raumschiff» muss im symbolischen Dunst unsichtbar abheben, ohne Kosmodrom. Kein Schiffbau in Zug also, kein Sulzer-Areal, kein Erhalt von Zeugen der wirtschaftlichen Entwicklung: fort mit Weberei Gygli, Goldmatt, Aerofiber, Spulenfabrik.

Die Ikonen der jüngsten Geschichte östlich des Bahnhofs – Migros-Block («Crèmeschnitte»), Mark-Rich-Gebäude und Glashof – sind der Abrissbirne und der Willkür einer tobleroneartigen Plumpzahnzeile geweiht, was auf dem Radar der Denkmalpflege keinerlei Irritation auslöst. In Baar geschah fünfzig Jahre nach der Zuger Innenstadt-Nivellierung dasselbe, in plötzlich zu Städten explodierenden Agglomerationen wie Rotkreuz scheint Amplikon die Richtlinie vorzugeben, oder – grössenwahnsinnig – der Berliner Bahnhof Warschauer Strasse.

Das Hochhausfieber grassiert, wobei die abschreckenden jüngsten Zentrumbeispiele kaum eine Kurskorrektur zu Folge haben, wie die gegenwärtige Reglementabstimmung deutlich macht. Mit vage von Qualität faselnden Bestimmungen wird der profitgierigen Spekulation Tür und Tor geöffnet. Die unwirtlich gewordene Stadt beherbergt professionell vor allem global tätige Firmen. Es gab ein Leben vor der Steueroase, aber die Erinnerung daran ist dem Finanzplatz nur noch lästig. Normalverbraucher natürlich auch. Wenn diese zum Beispiel Lottomillionäre wären, könnten auch sie profitieren, wenn sie das grosse Los gezogen hätten.

Hanglage Seeblick

Ausbeutung der Natur heisst hierzulande Hanglage Seeblick, also Bewirtschaftung der Landschaft mit Aussicht. Die vielgelobte Schönheit der Umgebung erschliesst sich nur den Gutbetuchten, und auch ihre Anteile schmelzen dahin, wenn die Baukonjunktur die Bodenpreise und die Ausnützungsziffern in ungeahnte Höhen treibt. Dieses Diktat gibt auch den Takt für den gemeinnützigen Wohnungsbau vor, der derselben Logik der Rendite zu folgen hat wie die Verdichtung in den einstigen Einfamilienhauszonen am Berg. Das scheinheilige Argument der Zersiedelung an der Peripherie muss herhalten für die Legitimation der Wertsteigerung des Bodens durch Zerstörung bestehender Bausubstanz und anschliessender Verdichtung. Höhere Ausnützung geht aber nicht mit einer Senkung der Miet- und Kaufpreise einher.

Im Gegenteil: Die alten Arbeiterblocks um die einstige Hauptarbeitgeberin, die Landis & Gyr, in der Gartenstadt soll von den neuen Besitzern, der Gebäudeversicherung, abgerissen und neu überbaut werden, um doppelte Mieteinnahmen aus der einzigen preisgünstigen Siedlung des Kantons herauszupressen (was Gott und der Verein Pro Gartenstadt verhüten mögen!).

Doch kommen wir zurück zu mir und zu den versprochenen Gedanken auf meiner Terrasse, auf der ich des Abends wandle. Eine in die Jahre gekommene Villa der Jahrhundertwende thronte auf dem nahezu waldartig überstrüppten Hügel, umgeben von einem Natursträsschen. Eine Tierarzt-Witwe und ihre verhärmte Tochter teilten sich den Sitz mit unzähligen Hunden und Katzen. So stellte sich meine Umgebung dar, in der wir 1960 ein neues Heim gefunden hatten. Im Opus 1 des Zuger Architekten Fitz Stucki, drei Jahre zuvor hoch an den Abhang geklebt, to end all verbaute Aussicht auf die Stadt. In Sichtdistanz döste einst das ebenfalls unverbaubare Aussichtsrestaurant Rosenberg, auf dessen Vorplatz an Sommerabenden eine lautstarke Gesellschaft den Weisswein und den Sonnenuntergang genoss, dahinter ein immenses Bienenhaus.

So blieb es natürlich nicht lange. Das Haus auf dem Bohlgutsch hinter mir kam weg, die geschützte Linde überlebte den «versehentlich» dranfahrenden Bagger nicht, und ein Luxusresort mit 11 Maisonettes samt Schwimmhalle breitete sich auf der prähistorischen Hügelkultstätte aus, wo VIPs wie Johannes Mario Simmel und Jean-François Bergier zu wohnen kamen. Aber wiederum nicht für lange. Drei Jahrzehnte später wurden auch diese neuwertigen Behausungen samt dem restlichen Baumbestand dem Erdboden gleichgemacht, um eine verdichtete Nullachtfünfzehn-Glasbunkeransammlung gen Himmel – und über meine Terrasse – wachsen zu lassen, deren Preis die interessante Marke von 9 Millionen (pro Wohnung) erreicht hat und spielend verkauft wurde. An durchgewinkten Russen ist ja in Zug – die Medien haben’s an den Tag gebracht – kein Mangel.

Das Leben zieht weiter

So stehe ich des Abends, wenn die Baumaschinen schweigen, auf meinem Ausguck, den Blick schweifen lassend über die wie Pilze aus den Einfamilienhausgärten emporschiessenden Appartementblocks, über die kaum beleuchteten Hochhäuser der Stadt und im Ennetsee, und erinnere mich wehmütig an das Palaver und Lachen, das vom Restaurant her an solchen Abenden zu hören war, kaum merklich anschwellend im alkoholbeflügelten Crescendo. Bis zum Tag des Abrisses der ein halbes Jahrtausend alten Wirtschaft mit Hotel, die einem zu zwei Dritteln bewohnten Luxuskasten weichen musste. Heute dringt kaum ein Laut von dort an mein Ohr.

Das Leben, das einst im Quartier heimisch war, ist zweihundert Meter hügelwärts gezogen, wo die Stadt die heimatstilig konservierte Beiz zum Rötelberg als letzten bescheidenen Rückzugsort künstlich zu beatmen sucht.

Ich senke den Blick, unzufrieden ob meiner absolut unverantwortlichen Unzufriedenheit. Und komme zu mir. Herr, unser tägliches Ärgernis gib uns heute, feixe ich nach oben, zum Raumschiff hin. Der Abendhimmel rötet sich im Westen. Betet, freie Schweizer, betet!

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