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Thomas Brändle

Du kunst mich mal!

Ihre Beine sind schlank, ebenmässig, samten wie Seide. Der grazile, provozierend posierende Körper strahlt verheissungsvolle Verführung aus.

An Ausstellungen für zeitgenössische Kunst trifft man Schönheit, Geld, manchmal auch Künstler, sicherlich Kunstkritiker, ganz selten Kunst … aber immer Hanspeter Kurmann.

Auf der Bank gegenüber des Eingangs zum ersten Saal der «Millennium Art» sitzt ein junger Mann in hellem Anzug, die Beine salopp übereinandergeschlagen, mit sorgfältig zerzaustem Haar und glatt rasiertem Gesicht. Er trägt eine dunkle Sonnenbrille, eine Plastikuhr und rote Lederschuhe. An der Wand über ihm hängt ein Schild mit der Aufschrift: Sich verweigernder Künstler.

«Das ist doch mal was zum Drüber-Nachdenken, oder?», sagt Hanspeter Kurmann und schiebt sich den Rest seines Getreideriegels in den Mund.

Das Pärchen daneben nimmt keine Notiz von ihm. Sie ist das, was man einen echten Hingucker nennt. Er ist ein betont lässig wirkender Mittfünfziger in italienischen Designerklamotten, mit protzigen Armbanduhren an beiden Handgelenken, wie sie Zuhälter oder Kokainhändler in Fernsehserien tragen, mit streng nach hinten gekämmtem Haar. Er markiert den gelangweilten Kunstkenner, sie die Interesse heuchelnde Intellektuelle.

«Das ist ein künstlerischer Protest gegen die Kommerzialisierung der Kunst», haucht die Schönheit, die man sich schlecht bei einer anderen Tätigkeit als Dekorativsein für reiche Männer vorstellen kann.

«Ich glaube, ich habe den Herrn schon öfters in der Bahnhofunterführung gesehen», bemerkt Kurmann unsicher.

«Kennen Sie ‹Yesterday› von den Beatles, junger Mann?», fragt er den Künstler.

Der reagiert nicht. Er verweigert sich.
In der Mitte des Saals steht eine riesige Eisbär-Attrappe an einem künstlichen Meeresstrand, dahinter tropische Palmenhaine aus Karton. In den Rücken des Tieres ist eine klobige Klimaanlage eingebaut. Das Kunstwerk nennt sich «Pragmatische Arktis».

Kurmann schält den nächsten Getreideriegel aus der Verpackung. Die Ausstellungsaufsicht mag eigentlich keine Lebensmittelversorgung in ihren Räumen, aber bei Kurmann haben sie es längst aufgegeben. Ausserdem kommt er fast jeden Monat zwei Mal, was ja auch nicht jeder macht. Er schlendert weiter zu einem Bild, mindestens vier mal vier Meter gross. Eine ältere Frau schaut wie gebannt auf das monströse Gemälde, das von der Farbe Rot dominiert ist. Wenn man lange genug hinschaut, meint man alles Mögliche zu erkennen. Über das Ganze ist, wie bei einem Kreuzworträtsel, eine Art Netz gelegt.

«Das könnte ein früher Montalbano sein», denkt Kurmann laut.

«Kennen Sie ihn?», wendet er sich der Frau zu.

Die Dame, als wäre es tiefster Winter, in Pelz gekleidet, mit einem Hund, einer Mischung aus Dackel und Schildkröte, auf den Armen, sieht ihn an, ohne auch nur mit der Wimper zu klimpern.

«Wen soll ich kennen?»

«Na, den Maler dieses Bildes. Montalbano war in den 90ern Innenminister von Nigeria. Er hat schon immer gemalt, aber erst im Gefängnis seine Bestimmung erkannt. In diesem Bild können Sie unschwer die kreative Verzweiflung erkennen, die ihn auch in die Politik getrieben hat.»

«Ich kann in diesem Geschmiere keine Verzweiflung erkennen. Für mich sieht das eher wie der ausgeschnittene Boden eines Schlachthofs aus», sagt sie schnippisch und geht weiter.

Bei einigen Künstlern ist sich auch Kurmann nicht sicher. Manche können unmöglich stolz auf ihre Arbeit sein und müssen die reichen Käufer verachten, die ihnen viel Geld dafür bezahlen.

Jetzt steuert Kurmann auf eine Fotoserie zu, die er von Weitem für ein Mosaik gehalten hatte. Auf dem ersten Bild erkennt man auf einer breiten Konzertbühne die Rockgruppe «U2». Darunter steht «Rock gegen Klimaerwärmung» und wie viel C02 die Rockband und ihre von überall her anreisenden Fans und Groupies pro Tournee in die Atmosphäre blasen. Auf der nächsten Fotografie windet sich Mick Jagger um ein Mikrofon. «Rock gegen Armut» steht da und auch wie viel die rollenden Steine jährlich an Gagen und Tantiemen kassieren. Auf dem dritten Bild sieht man den blanken Hintern von Robbie Williams: «Rock gegen Drogen».

Kurmann stochert in seinen Zähnen nach den Überbleibseln des Proteinriegels und schlendert von Bild zu Bild. «Rock gegen Drogen», «Rock gegen Bush», «Rock gegen Krieg», «Rock gegen Atomkraft», «Rock gegen Spekulation», «Rock gegen Kommunismus», «Rock gegen Neoliberalismus», «Rock gegen Salmonellen», «Rock gegen Wegwerfgeschirr» und ganz zum Schluss eine Fotografie der Wiener Philharmoniker mit dem Titel «Klassik gegen Rock».

Auf einer viereckigen, schmalen Säule entdeckt Kurmann ein angebissenes Sandwich. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich um ein Dinkelbrötchen mit Mayonnaise, Schinken, dünn geschnittenen sauren Gurken und einer tropfenden Tomate. Obwohl Kurmann kein Täfelchen mit dem Titel des Kunstwerks finden kann, zückt er seine Digitalkamera und schreitet zur Tat. Als das Makroobjektiv ausgefahren ist, greift eine ungepflegte Hand nach dem Brötchen. Er sieht dem kauenden Mann hinterher, der zur Hand gehört und einen auf dem Rücken mit «Elektro Müller» beschrifteten Overall und eine Klappleiter davonträgt.

Jetzt zieht es Kurmann neuerlich zu einer Fotoserie. Auf dem ersten Bild sieht man eine etwas korpulentere Frau, die vor einem Kleinwagen steht. Die Frau wiegt laut Angabe 96 Kilo, das Auto 1’150. Auf dem zweiten Foto ist dieselbe Frau zu sehen, sie hat etwas abgenommen, das Auto ist etwas grösser geworden. Darunter liest man den Gewichtsverlust der Frau, die Gewichtszunahme des Autos. Auf dem dritten Foto hat die Frau neuerlich einige Pfunde verloren und der Wagen eine Dimension dazugewonnen. Das vierte Bild zeigt eine schon fast Magersüchtige vor einem riesigen Offroader. Zwei Tonnen Blech müssen bewegt werden, um 45 Kilo Frau zum Friseur, zur Maniküre, zur Therapeutin, zur Ernährungsberatung zu befördern. Titel der gesellschaftskritischen Collage ist «Off Road – Off brain».

Zwei unablässig auf und ab hopsende schwarze Kinder erregen Kurmanns Aufmerksamkeit. Sie versuchen einen Tisch zu erreichen, der an Ketten von der Decke hängt. Auf dem Schild steht «Gegessen wird, was auf den Tisch kommt», darunter klein gedruckt «Die afrikanischen Kinder werden stündlich abgelöst». Kurmann verteilt Getreideriegel.

Im nächsten Saal fällt zuerst ein dicker, grosser Mann auf. Er trägt einen dunkelblauen Anzug, ein blütenweisses Hemd, eine rote Krawatte und eine dicke Zigarre zwischen den Zähnen. Er presst Schulgloben in eine Art Monster-Schredder, einen nach dem anderen, unten spuckt der Apparat Geldscheine und auf der Rückseite Müll heraus.

«Money makes the world go flat», liest Kurmann das Schild und lacht.

«Kann ich auch mal?», fragt er den Dicken.

Der schaut ihn an, fletscht die Zähne und fragt, ob er 180 Billionen Dollar hätte.

«So viel ist eine Erde an der Börse nämlich gerade wert.»

«Nehmen Sie auch Kreditkarten?», entgegnet Kurmann, grinst freundlich und geht weiter.

Was zunächst wie das Fell einer Kuh aussieht, stellt sich bei näherer Betrachtung als politische Landkarte des Iraks heraus. Titel des Bildes ist «Die Bush-Demokratie». Die Karte ist in drei Sektoren eingeteilt: Bleifrei, Super, Diesel.

Die Statue davor trägt hochhackige Schuhe und die übertrieben umfangreich gestaltete Oberweite bestätigt Kunstkenner Kurmann, dass sich der Künstler hier trotzig den Gesetzen der Schwerkraft entgegenstellt. Ihre Beine sind schlank, ebenmässig, samten wie Seide. Der grazile, provozierend posierende Körper strahlt verheissungsvolle Verführung aus. Sie trägt einen extravagant geschnittenen Mantel, der an die Trenchcoats von 1940er-Romandetektiven erinnert. Das Gesicht wirkt puppenhaft. Die orientalisch anmutenden Mandelaugen strahlen wie echte und das Haar fällt wie Feen-Lametta weich auf die schmalen, zierlichen Schultern.

«Das ist mit Sicherheit eine Parodie auf das Scheitern des Feminismus. Der Model-Kult wirft die Weiblichkeit sozusagen wieder auf das rein Visuelle zurück», versucht Kurmann vor den anderen Betrachtern zu glänzen.

Ein Handy klingelt. Die Statue lebt, greift in die lachsfarbene Handtasche und zückt das mobile Telefon.

«Ja, Schatzi. Ich bin schon dort. Ich warte im zweiten Saal … du bist immer noch im Büro?!»

Kurmann erfährt eine gesunde Errötung und verzieht sich kommentarlos in den nächsten Raum, wo sich der Geldadel zur angekündigten Auktion versammelt hat, die bereits in vollem Gang ist.

«Das nächste Bild hat ein amerikanischer Präsident während seiner Alkoholentziehungskur gemalt, unter Anleitung seines Stilberaters», kündigt der Auktionator an und präsentiert eine kindlich wirkende Zeichnung mit verwackelten Häusern, Öltürmen und Kriegsschiffen.

«Wir vermuten, dass das Bild unter dem Einfluss eines schottischen Malt Whiskeys entstanden ist. Manche Experten halten auch einen 14-jährigen Virginia-Scotch für möglich. Ganz bestimmt kann es nicht Wein gewesen sein. Zum Bild erhalten Sie ein Echtheitszertifikat des zuständigen Therapeuten.»

Das präsidiale Kunstwerk geht für 315’000 Dollar über den Ladentisch.

«Beim nächsten Objekt handelt es sich um die persönliche Klobrille des französischen Präsidenten Mitterrand. Wie Sie alle sicherlich wissen, hat er sich nirgends auf eine Toilette ohne seine eigene Brille gesetzt. Das gute Stück ist von François Mitterrand, Helmut Kohl und den anderen Teilnehmern eines G8-Gipfels signiert worden. Das Erstgebot liegt bei 50’000.»

Bei den nächsten Steigerungsobjekten handelt es sich um Silvio Berlusconis Poesiealbum aus der Primarstufe in Milano, Popstar Madonnas von acht Liebhabern signierten Armgips, den sie sich beim Skifahren in Klosters abgeholt hat, um gefrorenes Badewasser aus dem Hause «Paris Hilton» und mit Zementmischer bis zur Ewigkeit einsturzsicher gemachten Original-Sandburg von Adolf Hitlers Lieblingsarchitekt Albert Speer.

Die künstlerisch und chronologisch aufbereiteten Silikonbrustimplantate von Pamela Anderson gehen für sagenhafte 1,15 Millionen an einen japanischen Galeristen, während der Erlös von 508’000 Dollar für die handbemalte Mittelstreckenrakete des persischen Schahs Reza Pahlevi eher enttäuscht.

«Beim nächsten Objekt handelt es sich um das bisher wichtigste Werk des noch unbekannten Kunstschaffenden Giuseppe Pintura. Aus Verzweiflung über seine bisherige Erfolglosigkeit hat er eine Farbbeutelattacke auf einen deutschen Ministerpräsidenten angekündigt, was seinem Gesamtwerk mit grosser Wahrscheinlichkeit zu internationalem Durchbruch verhelfen dürfte. Sie haben also heute Gelegenheit, hier eine weit unter Wert gehandelte Exklusivität zu ersteigern.»

Die beiden asiatischen Herren neben Kurmann unterhalten sich leise, wie hoch man beim Bieten wohl maximal gehen könne, ohne einen Verlust einzufahren. Der eine ist Notenbankchef Chinas, der andere Japans. Offenbar bleibt nichts unversucht, um die riesigen Währungsreserven möglichst unauffällig und ohne Wertverlust loszuwerden.

«Ist es beispielsweise der sächsische Ministerpräsident, wird das kaum positiven Einfluss auf die Preissteigerung haben», meint der Chinese.

«Bayerns Stoiber oder der Baden-Württemberger Ministerpräsident Öttinger würden mindestens 50 Prozent bringen, nachhaltig», verleiht der Japaner seiner Hoffnung Ausdruck. Beide nicken zustimmend.

Pinturas Werk ist eine Plastik, in die man eigentlich alles hineininterpretieren kann. Er selber nennt sie jedenfalls «Apokalypse verdura».

«Sie können auch mitbieten, wenn Sie keine Vegetarier sind», scherzt der Auktionator, ein junger Heisssporn, der unbescheiden und alles andere als diskret zwischendurch mit den Damen in der ersten Reihe flirtet. Die machen keinen Hehl aus ihrer Langeweile. In feinen, sexy Roben sitzen sie zwischen ihren dem Himmel um etliche Jahre näheren, sicherlich aber gut betuchten Begleitern.

Kurmann stutzt. Irgendwoher glaubt er die Plastik zu kennen. Vor allem das ganz spezielle Gelb auf den Seitenflügeln kommt ihm sehr bekannt vor.

«Hallo, Hanspeter.»

Kurmann dreht sich um.

«Yakin?! Was machst denn du an einer Kunstausstellung?»

«Ich bin Giuseppe Verdura.»

Kurmann erstickt fast an seinem Getreideriegel.

«Ich bin jetzt auch Künstler, Hanspeter. Und du hast mich auf die Idee gebracht.»

«Yakin, du bist kein Künstler. Du betreibst einen Kebab-Stand.»

«Mein Kebab-Wagen ist letzten Monat komplett ausgebrannt. Das da vorne auf der Bühne ist der geschmolzene Rest davon.»

Hanspeter Kurmann blickt zurück auf die Auktionsrampe, wo zwei breitschultrige Hünen neben dem ausgefallenen Kunstobjekt stehen.

«Die Plastik von Giuseppe Pintura ‹Apokalypse verdura› geht für 196’000 Dollar an die Frau mit der Schildkrö… dem Dackel. Gratulation! Den vielversprechenden Shooting-Star der internationalen Kunstszene Giuseppe Verdura sehen Sie übrigens da hinten», sagt der Auktionator und zeigt mit seinem Hammer in Richtung Yakin und Hanspeter Kurmann.

Kurmann hält den Atem an. Das Publikum klatscht und freut sich für den Künstler, der beschwingt die Arme hebt.

«So, damit kann ich eine ganze Kebab-Kette aufmachen. The Art of Kebab GmbH!», flüstert Yakin alias Pintura seinem Freund Kurmann zu.

Kurmann isst seine Getreideriegel nun im Stadtpark, wo junge Männer und Frauen ihren Schmuck und kleine Aquarellbilder mit leicht erkennbaren Motiven aus der Stadt oder der umliegenden Region feilbieten. Es hat ein paar recht Begabte dabei.

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