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Thomas Brändle

Warum klatschen Sie nicht?

(Bild: Emanuel Ammon/ Aura Fotoagentur)

Der Autor Thomas Brändle über andere Länder, andere Sitten. Nicht in jedem Land kommt man mit einem profanen Trinkgeld davon, wenn man mit dem Gebotenen zufrieden ist. In manchen Kulturen ist das motivierende Loben geradezu beispielhaft üblich.

«Sie sind American?»
«Das würde mich überraschen», antwortete ich meinem neugierigen Sitznachbarn. «Ich bin Schweizer.»
«Ah, aus Europa. Sind Sie ferienhalber hier?»
«Sozusagen.»
«Besuchen Sie Freunde?»
«Auch.»
«Waren Sie schon in Cartagena, an der Küste?»
«Natürlich.»
«Dort lebt unser Literaturnobelpreisträger», bemerkte er stolz.
«Ich weiss. Gabriel Garcia Marquez.»
«Haben Sie schon etwas von ihm gelesen?»
Mir käme gerade «Hundert Jahre Einsamkeit» in den Sinn, antwortete ich wahrheitsgetreu. Seltsam, meine plötzliche Sehnsucht nach Ruhe.
«Gefällt Ihnen Kolumbien?»
«Ausserordentlich.»
«Haben Sie Familie?»
«Unverschuldet.»
«Was ist Ihr Sternzeichen?»
«Müde.»
«Ihre Kontonummer?»
«Achtstellig.» 

Nachdem ich diesem penetrant geselligen Kolumbianer alle gewünschten Auskünfte erschöpfend mitgeteilt hatte, kehrte ich den Spiess um.
«Sie leben in Bogota?»
«Nein, ich habe da beruflich zu tun.»
«Aha? Sie machen in Panflöten?»
«Nein, ich bin Guerilla-Anführer.»
«Ach? Interessant», stammelte ich leicht verstört. «Hat man da viel zu tun?»
«Das kommt auf die Regierung an.»
«Ich nehme an, die aktuelle …»
«Muss gestürzt werden. Dieses Wochenende.»
«Nun, so genau …»
«Und Sie? Sie sind zufrieden mit Ihrer Regierung, Herr Schweizer?»
«Das kann man so nicht sagen, aber …»
«Sie haben eine Demokratie, wenn ich mich recht entsinne, nicht wahr? Dann können Sie die Regierung abwählen, wenn Sie …»
«Nicht unbedingt. Die Fehler müssen schon sehr gravierend sein.»
«Wenn sie Oppositionelle ermorden, Intellektuelle erschiessen oder Studenten verschwinden lassen?», listete er eine Auswahl möglicher Verfehlungen von Regierungen auf.
«Das wären sicherlich auch Gründe, aber …»
«Stimmt, sie sind ein tolerantes, zivilisiertes Volk. Vielleicht wenn sie alles in die eigene Tasche wirtschaften und …“
«Auch das genügt noch nicht … also, Minister Blecher zum Beispiel hatte sich oft im Ton vergriffen … man könnte sogar sagen, dass er schnippisch, ja, geradezu unfreundlich sein konnte. Und manchmal sagte er einfach ohne Vorwarnung was er tatsächlich dachte … solches hat in meinem Land keine Tradition.“

 «Tee oder Kaffee?», fragte die Stewardess, Flight Attendant oder wie auch immer sie gerade genannt werden sollen. Heutzutage verliert man ja gerne den Überblick durch das ständige Wechseln der Berufsbezeichnungen. Meistens ist es irgendwas Englisches. Facility Manager beispielsweise klingt einfach kosmopolitischer, als eben Hausmeister.
«Tee, bitte», antwortete ich erlöst. Ich hatte absolut keinen Bedarf, das dumpfsinnige Gespräch weiter zu vertiefen. Am Schluss werde ich am Flughafen noch als Mitwisser und Helfershelfer eines Terroristen verhaftet. 

«Was gefällt Ihnen in Kolumbien am Besten, Herr Schweizer?»
«Die schweigsamen, introvertierten Menschen.»
«Das Essen wahrscheinlich.»
«Si», bestätigte ich knapp.
«Und was sagen Sie zu unseren Chicas, Mujeres, Bellezzas, Senor Suizo?», fragte er mich mit einem Augenzwinkern, als wäre die Frage ganz besonders originell.
Die Passagiere in den drei Reihen vor und den drei hinter uns reckten erstmals neugierig ihre Köpfe in unsere Richtung. Das ist in südamerikanischen Gefilden gewissermassen die Kardinalsfrage. Daran erbaut sich das Nationalgefühl aller Lateinamerikaner.
«Reizend. Sehr reizend», entgegnete ich zurückhaltend.
Das Publikum fiel in begeistertes Klatschen. Ich hatte bestanden.

«Wissen Sie, wie wir uns finanzieren?», fragte mich der Guerillakämpfer genauso überraschend wie verschwörerisch.
«Das hatte ich nicht gefragt.»
«Cocaina.»
«So, so.»
«Wir haben ein Schweizer Nummernkonto.»
«Wie überraschend.»
«Das klappt übrigens hervorragend. Sie nehmen das Geld, stellen keine Fragen, wollen nichts wissen.»
«Tja, so sind wir halt. Diskret und zuverlässig.»
«In Südamerika wäre das nicht möglich. Wenn Sie mehr als 100 Dollar auf einmal zur Bank bringen, kommt der Direktor persönlich an den Schalter und lässt einen vorsorglich ins Gefängnis werfen, bis die nötigen Abklärungen gemacht werden konnten. Das kann dann Monate dauern.»
«Wie umständlich.»
«In Kolumbien geht man besser nicht zur Bank. Ausser, wenn man eine überfallen will. Das ist wesentlich unkomplizierter, als etwas auf ein Konto einzuzahlen. Weniger Papierkram, Sie wissen schon.»
Ich nickte.
«Sie fliegen das erste Mal mit der Colombian Cocaina Air?»
«Merkt man das?»
«Man sieht es den Maschinen vielleicht nicht auf den ersten Blick an, aber sie sind sehr gut im Schuss. Lassen Sie sich nicht von Äusserlichkeiten blenden», meinte er mich eher beunruhigend und tätschelte mir dabei kräftig den Oberschenkel. Der kameradschaftlichen Geste folgte ein Ritual, dass man in unserem Kulturkreis Leibesvisitation nennt.
«Sie sind unbewaffnet?», stellte er verwundert fest.
«Nun, bei der Gatekontrolle hätte es sicherlich keinen guten Eindruck gemacht, wenn ich …»
«Mutig, mutig», fiel mir der Kokainbaron ins Wort, «Sie sind offenbar das erste Mal in Kolumbien.» 

Erleichtert zog ich den Kopfhörer über und freute mich auf den angekündigten Film. Ich weiss nicht, welcher Komiker den Streifen ausgesucht hatte, aber ein Flugzeugabsturz in den verschneiten Anden, wo sich die Überlebenden schliesslich von den Erforenen ernährten, fand ich doch etwas unpassend – offenbar als einziger. Die restlichen Passagiere, ausschliesslich Südamerikaner in Begleitung ihrer Kinder, unterhielten sich offenbar bestens.
Das Durchschütteln durch Sturmböen und das schnelle Absinken in Luftlöchern quittierte die Menge ebenfalls mit grandiosem Gelächter. Ich suchte nach den Tüten. 

«Tee oder Kaffee?», kam die Serviererin wieder.
«Haben Sie keinen Alkohol?», flehte ich sie an, «ich möchte mich besinnungslos betrinken.»
«Wir dürfen leider keinen Alkohol ausschenken», antwortete sie derart erbost, als hätte ich sie gefragt, ob sie mit mir schlafen möchte.
Als ein kleiner, korpulenter Kolumbianer den Duty Free Wagen vor sich her durch den Gang rollte, schöpfte ich Hoffnung.
«Whiskey, Cognac oder ähnliches», gab ich meine Bestellung auf.
«Tut mir leid. Alkohol an Bord ist strengstens verboten, zu gefährlich. Vielleicht etwas Kokain, eine halbautomatische Uzi oder einen Patronengürtel in den Landesfarben gefällig?», entgegnete er geschäftstüchtig.

Nun ja, wie soll ich sagen. Es war zumindest ein aufregendes Flugabenteuer. Das sind Inlandflüge in Südamerika eigentlich immer. Andere Länder, andere Sitten.
Als die Maschine überraschend sanft aufsetzte, der rechte Flügel nur zwei Mal die Landepiste kratzte und ein kleines Wellblechhäuschen am Pistenrand enthauptete, begannen die Passagiere wie eine wild gewordene Horde Verrückter zu klatschen, als hätten sie gerade einer fantastischen Opernpremiere mit den Chippendales als Statisten beigewohnt.

«Warum klatschen Sie nicht?», wollte der gesellige Widerstandskämpfer von mir wissen.
«Weshalb sollte ich?»
«Das hat er doch gut gemacht.»
«Wer? Was?»
«Na, der Pilot, die Landung.»
«Ja, schon. Aber deshalb …»
«Dann klatschen Sie doch!»

Resigniert fiel ich in den Beifall ein. Entweder war der Pilot den Fluggästen bestens bekannt und man wollte ihn aufmuntern, weil ihm schon mehrmals die Fluglizenz entzogen wurde. Jeder braucht regelmässige Bestätigung für die Ausübung seines verantwortungsvollen Berufs.
Ich glaubte mich zu erinnern, dass in meiner Zeit als Kind bei Flugzeuglandungen auch noch geklatscht wurde. Oder eher beim Starten, weil man überrascht war, dass der Blechvogel tatsächlich abhob? Ich weiss es nicht mehr.

«Ich war zuerst!», setzte ich die vordrängelnde Frau in Kenntnis, als sie sich mein Taxi schnappen wollte.
«Wohin müssen Sie? Ins Zentrum? Dann können wir es uns doch teilen», schlug sie vor.
Warum eigentlich nicht.
Die ganze Fahrt über dachte ich an die klatschenden Flugpassagiere. Wieso werden eigentlich nur Flugkapitäne beklatscht? Ist doch auch nur ein Job wie jeder andere.
Als das Taxi vor ihrem Hotel anhielt, begann ich begeistert zu applaudieren. Sie schaute mich an, als wäre ich auf einem Drogentrip. Der Chauffeur richtete ebenfalls den Rückspiegel, um mich zu sehen.
«Warum klatschen Sie nicht? Er hat das doch toll gemacht.»
Mit von Verwirrung gezeichnetem Gesicht fiel sie ins Klatschen ein. Was blieb ihr auch anderes übrig.
«Ja, hat er natürlich», bestätigte sie kleinlaut.
«Na, also», triumphierte ich. 

Dasselbe wiederholte ich am Abend an der Bar, als ich meinen Whiskey serviert bekam. Es dauerte dann aber doch einige Abende, bis es auch für die anderen Gäste Usus wurde, die Kellner zu beklatschen, wenn sie das Essen oder die Getränke an den Tisch gebracht hatten.

Eines Abends servierte der Barkeeper meinem Nachbarn einen Drink, als der heftig zu applaudieren begann.
«Was fällt Ihnen ein? Wieso klatschen Sie?», stellte ich ihn zur Rede. «Sehen Sie denn nicht, dass er etwas verschüttet hat?»
«Doch, doch, aber ich dachte …»
«Gar nichts dachten Sie. Sie machen sich über den jungen Mann lustig und beleidigen gleichzeitig die anderen Angestellten, die sich mehr Mühe geben.»

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