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Adrian Hürlimann

Bilderverbot

Das Wort vor Ort war stärker, als es jede fiktionale Rekonstruktion je sein könnte.

Adrian Hürlimann – Das Bilderverbot war unserem Pfarrer, schien mir, eher ein wenig peinlich. Es betraf aber nur die Vergangenheit, als Zwingli und seine Mitstreiter den Bildersturm praktizierten und viel weissen Verputz über die Innenräume ausbreiteten.

Das Bilderverbot war unserem Pfarrer, schien mir, eher ein wenig peinlich. Es betraf aber nur die Vergangenheit, als Zwingli und seine Mitstreiter den Bildersturm praktizierten und viel weissen Verputz über die Innenräume ausbreiteten. Die Gegenwart schien davon nicht betroffen. Neben der Schulwandkarte von Galiläa erschien aber nie ein Bild im kargen Nebenräumchen der Reformierten Kirche. Dubiose Neoromanik von 1907. Schon gar nicht eines, das mit Körpern zu tun gehabt hätte, was doch zu den ach so offen angegangenen Fragen um die offenbar problematische Sexualität gepasst hätte, die wir damals unter moralischer Unterweisung zu bewältigen hatten. Dass Bilder mit Sinnlichkeit zu tun haben mussten, war uns Konfirmanden – den Konfirmandinnen wohl auch – allerdings klar. Mir besonders, hatte ich doch die unzähligen Aktzeichnungen und –bilder meiner Eltern als etwas kennengelernt, das zum Metier, zum Handwerk des Malens gehörte. Dass dieser nackte Teil der Arbeit kaum je ausgestellt wurde, überhaupt vor allem der Studienzeit geschuldet war und im späteren Familienleben eher im Schrank versteckt wurde (vor uns Halbwüchsigen), das gehörte jedoch auch zum Umgang mit dem Bild, mit gewissen Bildern.

Sie war offenbar nicht so leicht zu begradigen, die ambivalente Haltung gegenüber dem Bild als sinnliche Verführung und rationale Ästhetik. Musik war zugelassen, jämmerlich leidende Christusfiguren jedoch nicht. Sexualität war gut, aber nur als beherrschte, in Bahnen unser Pfarrer weiter.

Um andere Fragen, etwa die der Darstellung Gottes, drehte sich die Diskussion nicht. Theologie blieb aussen vor. Es blieb dabei: Daliah Lavi war nur für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen, als sie im Winnetou-Film nackt in den See sprang. Das Bilderverbot der Kirchengeschichte lebte fort als moralische Zensur, als Verbannung des Sinnlichen, vor allem der nackten Körper. 1968 änderte sich das ein wenig, aber die Filmzensur im Kanton Zug wurde erst letztes Jahr abgeschafft.

Das ganze Ausmass dieser Katastrophe wurde mir aber erst und für immer im unvergleichlichen Dokumentarfilm Shoah von Claude Lanzmann bewusst.

In den Achtzigerjahren lernte ich ein ganz anderes Bilderverbot kennen. Eines, das mich mehr überzeugte, betraf und mein Handeln bestimmte. Seit den Sechzigerjahren war ich im «Spiegel» immer wieder auf menschenverachtende, grausame Vorfälle gegen Juden gestossen, die sich nur wenige Jahre vor meiner Geburt zugetragen haben mussten. Ein riesiges Gefängnis, Konzentrationslager genannt, musste sich in unmittelbarer Nähe einer grossen deutschen Stadt befunden haben. Wieso hatte niemand etwas gesehen, niemand etwas gehört, niemand etwas unternommen? Nach und nach stiess ich auf diese Geschichte der Verfolgung, die das letzte Jahrhundert und die weitere Gegenwart bis heute bestimmt. Und auf die unrühmliche Geschichte der Schweiz, die sich als eine der Feigheit und der Anpassung herausstellen sollte.

Das ganze Ausmass dieser Katastrophe wurde mir aber erst und für immer im unvergleichlichen Dokumentarfilm Shoah von Claude Lanzmann bewusst. Die meisten der Kinobesucher im Zürcher Filmpodium – es muss 1985 gewesen sein – kamen tags darauf wieder, um den zweiten Teil zu sehen. Man wähnte sich in einem verschworenen Haufen und wusste: Was man gesehen hatte, würde unser Leben verändern. «Das ersetzt zehn Jahre Geschichtsunterricht», meinte ich zu einer Mitbesucherin. Die meisten blieben stumm. Der Schock sass tief. Überzeugt hatte mich auch die Form der Recherche: Es wird nur erzählt, es gibt nur das Wort. Lanzmann schleppt die Leute zurück an die Orte des Grauens, ihres Grauens, und bringt sie zum Sprechen. Die Interviews und Besuche mussten schnell geschehen, denn die Überlebenden und Beteiligten, die da Red und Antwort standen, würden sehr bald weg- und aussterben. Es war ein gigantisches Unternehmen, ein Wettrennen mit Zeit und Sterblichkeit, alles einzufangen, alle Stimmen, alle Orte. Es sollte die Geschichte, die Praxis und die Bedeutung des Dokumentarfilms völlig verändern. Nur das Wort galt als Dokument, und der Besuch der Stätten der Vernichtung, wie sie heute anzutreffen sind.Das Wort vor Ort war stärker, als es jede fiktionale Rekonstruktion je sein könnte.

In diesem Sinne bin ich plötzlich doch noch Protestant geworden

Es brauchte das Diktum Lanzmanns gar nicht, dass der Holocaust nicht darstellbar sei, schon gar nicht fiktional. Das Wort vor Ort war stärker, als es jede fiktionale Rekonstruktion je sein könnte. Stärker als vergilbte Filmdokumente, die das Leiden immer nur aus der Distanz der Nichtbetroffenen festhalten oder festzuhalten behaupten. Wir hatten es selber begriffen. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, «Schindlers List» anzusehen. Das Bilderverbot galt diesmal auch für mich. In diesem Sinne bin ich plötzlich doch noch Protestant geworden.

Derzeit gelangt ein neuer Film zum Thema in die Kinos. László Nemes, der ungarische Regisseur von «Son of Saul», lässt den Zuschauer seinem Protagonisten über die Schulter blicken, der die grauenhafte Tötungarbeit im KZ Auschwitz durchführen muss. Lanzmann hat dem Film sein Plazet gegeben. Ich nicht. Ich möchte weiterhin keine Bilder sehen, die den Wahnsinn auf ein erträgliches Mass herabdimmen.

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