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Martina Clavadetscher

U-Bahn Dramolette

Die U-Bahn ist ein Ort der Begegnungen und Ereignissen. (Bild: Emanuel Ammon/AURA)

Linie U2 Richtung Pankow. Eine junge Frau döst. Gegenüber liest ein Mann das Buch «Poetik des Raumes».

1. Morgen

Linie U2 Richtung Pankow.
Eine junge Frau döst. Gegenüber liest ein Mann das «Poetik des Raumes».
Eine alte Dame häkelt seit der Station Bismarckstrasse an einer violetten Kordel.
Eine Frau mit Hut besteigt die Bahn und setzt sich. Sie bemerkt etwas auf dem Polster.
Es ist eine Zwei-Euro-Münze. Sie zeigt das Fundstück der jungen Frau neben ihr.

FRAU MIT HUT           Ist die Ihnen aus der Tasche gefallen?
JUNGE FRAU              Nein, wirklich nicht.

Die Frau mit Hut blickt in die Runde. Alle zucken mit den Schultern, schütteln den Kopf.

FRAU MIT HUT           Na, dann lassen wir die für den Nächsten hier.

Die Frau mit Hut legt die Münze wieder neben sich aufs Polster.
Alle fahren still weiter.


2. Nachmittag

Linie U7 Richtung Rudow.
Vier junge Frauen steigen an der Station Karl-Marx-Strasse ins Abteil.
Alle tragen viel Make-up, enge Hosen und grosse Ohrringe.

FRAU   1          Gib mir mal die Handcreme.
FRAU   2          Boah, die stinkt, Alter.
FRAU   1          Gar nicht. Das ist Mandel.
FRAU   2          Was ist denn mit deiner Hand?
FRAU   3          Zeig deine Hand!
FRAU   4          Ey, mein Arm hat eine Krankheit.
FRAU   3          Gar nicht.
FRAU   4          Oah! Jetzt muss ich euch meinen Traum erzählen.
                        Es war so schlimm. Ey, es ist Nacht und ich bin in einer U-Bahn-Station mit Esme,
                        und die geht einfach weg, und ich so: Esme, bleib hier. Weil da kommt so ein
                        Mann ganz in schwarz, weißt du, ein deutscher Penner. Und der fragt so, was ich
                        hier will. Der macht mich dumm an. Und ich weiss, der will mich vergewaltigen.
                        Total Angst hatte ich.
                        Dann kommen drei Typen mit Bart und ich denk gleich an ISIS. Und die fragen
                        mich halt, was los ist, ja, und ich so: Helft mir, ihr seid auch Muslime, ey, bitte
                        helft mir. Aber die fragen mich nach unseren Propheten, aber ich kenn die nicht.
                        Ich weiss halt nichts. Und dann laufen die einfach davon!
                        Ey, Scheisse, mein Tod ist geplant, ich sag’s dir.

Sie blickt bedeutungsvoll in die Runde.
Stille.

 

3. Abend

Linie U8 Richtung Hermannstrasse.
Die U-Bahn ist stark gefüllt. Viele Leute stehen.
Ein junger Mann, ein Magazinverkäufer, betritt den Wagen.

JUNGER MANN          Hallo Leute, ich will euch gar nicht stören, aber bald ist ja Weihnachten,
                                und wisst ihr, was das Schlimmste an Weihnachten ist? Das sind
                                diese falschen Harmonien, das ist ganz schlimm, mein Freund und ich
                                haben uns auch zerstritten, aber weshalb erzähle ich das eigentlich, Leute,
                                weil wir uns wenigstens ehrlich zerstritten haben, so ist das – wir haben
                                uns auch wieder zusammengerauft, aber darum geht es hier gar nicht.
                                Wenn ihr wollt, könnt ihr für 1,20 Euro ein Magazin kaufen, und was dazu
                                beitragen, dass ich mir wenigstens vor Weihnachten etwas nützlich vorkomme –

Ein älterer Mann mit Schirmmütze und Dreitagebart betritt den Wagen.
Er beginnt sofort laut und auf Portugiesisch zu singen.

JUNGER MANN          Ne, hey, warte!

Ohne etwas verkauft zu haben, kämpft sich der jungen Mann zum singenden Bettler durch.

JUNGER MANN          Ne, weisste, ich hab den Leuten hier grad Magazine verkauft. Warte.

Er vergräbt seine Hand in der Hosentasche.

JUNGER MANN          Hier, komm. Ich hab was. Ich geb mir mein Rotes.

Er reicht dem Bettler eine Hand voll Kleingeld.

JUNGER MANN          Hier nimm, ja. Ist über ein Euro zusammen. Da.                       
BETTLER                      Danke.
JUNGER MANN          Mach’s gut, ja? Tschüssi.

Der junge Mann steigt aus.
Der Bettler geht weiter durch den Wagen.

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