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Adrian Hürlimann

Vollendete Tatsachen

Der Beobachterstatus, der sichere Wildstand gegenüber dem Weltgeschehen, das ist der Standpunkt der aktuellen, am Dichtestress und weiteren Symptom-Schmerzen leidenden Schweiz. (Bild: Vicimedia Commons)

Auch deutliche Zahlen und Statistiken können die menschliche Hilflosigkeit gegenüber gewissen Ereignissen nicht überdecken. Adrian Hürlimann findet dafür deutliche Worte.

Können Sie damit etwas anfangen: deutlich höhere Temperaturen? Dass das Wetter sich zum Besseren wende, und dies erst noch in aller Deutlichkeit? Die Deutlichkeitswelle in der Gebrauchsrhetorik unserer Medien hatte zu Beginn etwas Entschuldigendes. Sie schien der Hilflosigkeit der Saure-Gurken-Zeit entsprungen. Es gab einfach nichts Relevantes zu melden, und also behalf man sich mit Relativierungen, mit Feststellungen wie dem Ausbleiben von Katastrophen, dem Nichtansteigen von bedrohlichen Wertekurven. Weniger Besucher beim Festival als im Vorjahr. Aber manchmal tönt es auch alles andere als harmlos: Deutlich mehr Ebola-Todesopfer sind registriert worden, war gestern zu hören. In den Nachrichten aus dem afrikanischen Kontinent ging es die letzen Jahre sowieso immer nur um Zahlen. Opferzahlen. Im aktuellen Gazakrieg genauso. Woher kommt das Bedürfnis, Katastrophenmeldungen auf Messwerte hin zu relativieren? Wollen wir uns damit in eine gottähnliche, souveräne Position bringen, die das irdische Geschehen aus erhöhter Ferne beurteilt, ohne davon tangiert zu sein? Mathematiker, Statistiker statt Samariter oder Zivilcouragist? Oder geht es vielleicht um die angenehme Verzögerung der Schreckensmeldung, die so leichter auszuhalten ist? Die Zahl der Opfer ist ja noch gar nicht bekannt, die Zahl bleibt erst einmal abzuwarten. Wenn sie sich dann deutlich erhöhen sollte, können wir ja immer noch reagieren und den Einzahlungsschein eines Hilfswerks ausfüllen.

Saure-Gurken-Zeit, die Politik hierzulande ruht, das Schreckliche geschieht immer anderswo. Nein, die Deutlichkeitswelle bewegt sich nicht nur zur Ferienzeit, sie schwappte längst auf den gesamten Jahreskreis im helvetischen Alltag über. Sie muss folglich als Grundkonstante helvetischer Befindlichkeit angesehen werden. Der Beobachterstatus, der sichere Wildstand gegenüber dem Weltgeschehen, das ist der Standpunkt der aktuellen, am Dichtestress und weiteren Symptom-Schmerzen leidenden Schweiz. Der saturierte Hobbyjäger beobachtet die unzivilisierte Natur, sportlich ausgerüstet im Allwetter-Outdoor-Look. Das Blutige, Atavistische herkomme! Beobachten, aber mit kühlem Kopf, ganz ohne voyeuristische Erregtheit, Daten sammeln, Nachrichten im festen Rhythmus konsumieren, die bei SRF inzwischen «Informationen» heissen. Und wir stellen Theorien auf: Klimaveränderung, Kampf der Kulturen, Marktanalysen.

Auf der Alpe di Cama, im Moesano, nahe der Bernardino-Autobahn, befinden sich drei neuere, hintereinander gestaffelte Alphütten. Neben der untersten liegt ein Felsblock, grösser als das zweistöckige Haus, eine Ellbogenlänge neben diesem. Vor genau einem Jahr wurde unter dem Felsen die Älplerin erdrückt. Mutter von drei Kindern, das jüngste drei Monate alt. Es war eine Wissenschaftlerin der ETH, die alpine Rassen erforschte: Hochlandrinder, Ziegen. Es traf nur die Mutter, alle Angehörigen überlebten unverletzt. In der einzigen bewirtschafteten Alphütte gab uns die Wartin bekannt, dass nach unserem Abendessen nochmals eine Gruppe verköstigt werden müsse. Es handle sich um die Angehörigen jener Frau, die gekommen seien, um eine Jahrzeit zu begehen. Tags darauf sahen wir den Witwer mit dem kleinen Kind auf dem Arm vor der verregneten Zeltgruppe umherwandern, Richtung Felsblock. Wollten sie der Seele der toten Mutter begegnen? Der ungeheure Felsblock neben dem steinernen Rustico: ein Bild, das in seiner Deutlichkeit kein Deuteln zulässt. Die Felsstürze mögen 2013 deutlich häufiger und massiver ausgefallen sein als andere Jahre. Den Betrachter des Felsblocks auf der Alpe di Cama schert das wenig. Das Schicksal hat hier absolut zugeschlagen und ein Leben ausgelöscht. Ein Relativieren gibt es nicht. Der Block könnte auch ein Meteorit aus dem Weltall sein. Wissenschafter vom Schlag der jungen Frau können die Wahrscheinlichkeit von Felsstürzen errechnen. Für uns alle ist sie gering. Deutlich gering.

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