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Patrick Hegglin

Das heimliche Projekt zu Kuno Raeber

Kuno Raeber an den Solothurner Literaturtagen, 1989

(Bild: ©Yvonne Böhler)

Er liebte den Mythos und hasste das Dogma. Kuno Raeber sei völlig aus seiner Zeit gefallen, sagt Blogger Patrick Hegglin. Eine Einführung über sein Schaffen und seine Sinnkrisen soll uns den Schweizer Lyriker und Schriftsteller näher bringen.

Er liebte den Mythos und hasste das Dogma. Er suchte das zeitlos Schöne in seiner Lyrik und verband es mit dem Profanen in seiner Prosa. Kuno Raeber schuf radikal ambitionierte Werke und fiel völlig aus seiner Zeit.

 

Das Idol

Abgewetzt

von den Küssen gestürzt

vergessen verkauft und

fortgebracht übers Wasser geworfen

geschmolzen im Stadtbrand und wieder

vergessen und dann

der eine der andre

im zufällig auf-

gebrochenen Graben der eine

der andre vom goldenen Mantel

unter Kakerlaken unter

gelblichen Maden

golden der eine gefunden

golden der andere Faden.

«Abgewandt Zugewandt», Ammann Verlag 1985.

Es gibt derzeit nicht wahnsinnig viel Neues in Sachen Literatur in Luzern. Neben der ersten Luzerner Lesebühne – «The Beauties and the Beast» in der Loge, regelmässig mit MC Graeff, Sandra Künzi, Christov Rolla und André Schürmann – gibt es jetzt eine zweite Luzerner Lesebühne: «Rio Bumm Bumm Bumm» mit Stammpersonal Pablo Haller und Valerio Moser findet immer am letzten Mittwoch des Monats in der Metzgerhalle statt.

«Aber das wahrscheinlich relevanteste Projekt geht derzeit still und heimlich vonstatten.»

Ansonsten?

Der Verlag Pro Libro hat «Der Gotthard» von Carl Spitteler aus dem Jahr 1897 neu aufgelegt.

Aber das wahrscheinlich relevanteste Projekt geht derzeit still und heimlich vonstatten: die Online-Edition des grossen Luzerner Schriftstellers Kuno Raeber (1922–1992).

Zwar ist Raebers Werk eigentlich recht gut erschlossen. Herausgegeben von Christiane Wyrwa und Matthias Klein erschienen die ersten fünf Bände der ausgezeichneten Werkausgabe bei Nagel & Kimche und zwei weitere mit Texten aus dem Nachlass bei scaneg.

Der Nachlass ist zudem katalogisiert. Und doch ist vieles aus Raebers umfangreichem Lyrik-Werk bislang unzugänglich. Hinzu kommt, dass auch die veröffentlichten Texte erstaunlich unbekannt sind. Deshalb folgt nun eine nur minimal ausufernde Einführung zu Leben und Werk des wohl wichtigsten Luzerner Autors der letzten fünfzig Jahre.

Katholische Kindheit und Krisen

«Die Schönheit ist ein Bild Gottes, in ihr wirkt Gottes ewige Vollkommenheit, und deswegen liebe ich sie, müssen wir alle sie lieben, o Schönheit» 

Tagebuch, 31.5.1942 

Kuno Raeber wurde 1922 geboren und wuchs im erzkatholischen Luzern auf. Als er vier Jahre alt war, verliess der Vater die Familie. Der Grossvater Joseph Räber, der einen Vatikan-nahen Verlag betrieb, starb 1934 bei einem Besuch in Rom – am Karfreitag. Sieben Jahre früher hatte er Papst Pius XI. getroffen, anlässlich einer Denkmalseinweihung 400 Jahre nach dem «Sacco di Roma».

1989 würde Kuno Raeber die Plünderung Roms in den Mittelpunkt seines formal wohl radikalsten Buches setzen, das zunächst auch «Sacco di Roma» hiess, später als «Der Wirbel im Abfluss» neu aufgelegt wurde. Wir kommen darauf zurück.

Attentat auf Michelangelo

Ohne Küchentischpsychologie betreiben zu wollen; das männliche Element war aus der Familie verschwunden. Es blieben die Mutter und zwei Tanten. Mit weiblichen Autoritätsfiguren und besonders der Figur der Mutter setzte sich Raeber 1981 in «Das Ei» auseinander. Es beginnt mit dem historischen Attentat auf Michelangelos Pietà in Rom 1972 – und dem Gefühl des Erzählers, dass ihm diese Tat weggenommen worden sei. Darauf kommen wir aus Überlängengründen nicht zurück.

Daher zu diesem Thema nur ein Zitat aus den Tagebüchern. «Was ich meiner Mutter vor allem übelnehme, ist, dass sie den Mann in mir unterdrückt, das weiche Weibische fördert. Und das ist wohl nur teilweise gutzumachen. Die Erkenntnis kam zu spät.» (28.12.1946)

«Raeber fühlte eine zunehmende Zerrissenheit.»

Der junge Kuno Raeber war fasziniert von den gewaltigen Bildwelten des Katholizismus. Er fand darin die Verbindung aller Dinge, die Idee von Ewigkeit. Im Katholizismus, so schrieb Raeber im Essay «Meine Geschichte mit der Kirche», habe er sich zugehörig, aufgehoben und zu Hause gefühlt.

Ghettokatholizismus

Was er damit meinte, war die «ästhetisch-mythische Seite», «Gott, der oben am Himmel auf einer leuchtenden Wolke sass und, wie auf Bildern von 1500, Strahlen aussandte, die unten auf der Erde, wenn auch gebrochen, anlangten und die Bergspitzen, die Wipfel der Bäume beglänzten, das war für mich die Essenz des katholischen Glaubens.» Demgegenüber stand die «moralisch-dogmatische» Seite, der «strenge Herr Jesus Christus», der vor die leuchtende Wolke trat. «Es gab den Katholizismus, den ich liebte, und das Christentum, das ich hasste.»

Darin lag eine erste Konfliktlinie. Eine zweite führte Raeber im selben Essay auf den Luzerner «Ghettokatholizismus» zurück. Hatten die «grossen Zentren des katholischen Mitteleuropas» wie Wien, Prag oder München eine Vereinbarkeit von Kunst und Glauben gefunden, einen «Kulturkatholizismus», indem sie «die Anregungen der auf protestantischem Boden erwachsenen klassisch-romantischen Geisteskultur aufgenommen und verarbeitet» hatten, war davon in der Innerschweiz nichts zu spüren.

In der Position des Seelenführers

Raeber fühlte eine zunehmende Zerrissenheit, die ihn dem Theologen Hans Urs von Balthasar zutrieb, den Raeber 1943 in Luzern kennenlernte und dem er im selben Jahr an der Universität Basel wieder begegnete, wo Raeber ein Studium begann und Balthasar als Studentenpfarrer fungierte.

«Balthasar hatte Germanistik, Philosophie und Theologie studiert und sich zum Ziel gesetzt, diese Disziplinen miteinander ins Gespräch zu bringen», schreiben Klein und Wyrwa in der Werkausgabe. Und weiter: «Der Studentenpfarrer konnte für den Studienanfänger Raeber immer stärker die Position eines ‹Seelenführers› einnehmen, weil er ihm das bisher mit der Glaubenswahrheit abträgliche Reich der gesamten Weltliteratur sowie der europäischen Kunst und Musik intensiv nahebrachte.»

«Eine weitere Konfliktlinie in Raebers Leben: die Sexualität.»

Zwei Jahre später folgte Raeber Balthasar als Novize ins Jesuitenkloster in Balzers, wo nach wenigen Wochen der Bruch folgte. Er habe beschlossen, «Gott herauszufordern, dass er mir den Glauben zurückgab», schreibt Raeber später über diesen letzten Versuch, zu glauben.

Aber: «Mein Verstand konnte die Mythen nicht mehr für wahr halten, er akzeptierte sie als historische Ereignisse nicht mehr.» Es sei an dieser Stelle anzumerken, dass keine Tagebucheinträge aus der von Balthasar geprägten Zeit (mehr) existieren. Es bleibt von Raebers Seite nur die nachträgliche Ausdeutung.

Wyrwa und Klein ziehen bezüglich Balthasar konsequent das Bild des «Meisters» heran. Man kann es nachvollziehen. Es ist wohl auch nicht ganz verkehrt, an dieser Stelle eine dritte Konfliktlinie in Raebers Leben heranzuziehen: jene der Sexualität.

Fleischeslust

Es würde noch bis Ende der 50er/Anfang der 60er dauern, bis Raeber offen zu seiner Homosexualität steht, aber auch die heterosexuelle Fleischeslust war für Raeber lange Zeit wichtig. Dass die Kirche «meine Seele meinem Körper entgegenstellte, mein Fleisch zum Feind meines Geistes erklärte», habe ihn «vollends entfremdet». Er verortet dies in derselben Zeit, in der der Novizen-Versuch scheiterte.

(In seinem Prosawerk betreibt Raeber bezüglich der (Homo-)Sexualität eine interessante Operation. Wie etwa bei Jean Genet wird das Profane, von der Gesellschaft für abartig Erklärte, durch die Sprache erhöht und fast schon magisch aufgeladen.)

«Dichtung als mythische Aussage»


Der Gang 

Wer den finstern Gang betritt am Tempel,

wo die alten Bilder stehn, der Adler

mit der Wölfin und dem Stier, im Holze faulend:

ihn bestürzen die, die vor verwandelt,

in den Nischen hausen unterm Tropfgestein.

Und sie lecken ihm Gesicht und Hand, bis dass er,

selbst ein junges Tier, die Zitzen saugt der Wölfin

«Die verwandelten Schiffe», Luchterhand, 1957

Die grosse Sinnkrise

Es folgte nach dem endgültigen Bruch mit dem Glauben eine grosse Sinnkrise für Raeber. Der Süden, insbesondere Rom, wird 1946 zur «Offenbarung». «Ich betrat Rom, und der Schleier zerriss, ein Strahl fiel herein.»

Raeber, der bislang stark in einem «Entweder-Oder» verhaftet war, findet zu einer gewissen Balance. «Ich lernte, den Widerspruch zu ertragen, dass ich zwischen den Gegensätzen hing in einer endlosen Pendelbewegung, auch wenn mit der Zeit die Ausschläge weniger heftig ausfielen, das Hin und Her langsamer wurde.»

«Die Minderwertigkeitskomplexe begleiteten Raeber sein Leben lang.»

Es ist aber ein langsamer Prozess. Anfang 1947 schreibt er etwa noch im Tagebuch: «Auch Hans Urs v B. stets als Gespenst da. Ich bin sehr tief überzeugt, dass er mich verzaubert hat und aus seiner Vorstellungs- und Erlebniswelt nie mehr entlässt […] Tötende Minderwertigkeitskomplexe.» Die Minderwertigkeitskomplexe, die vergebliche Suche nach Anerkennung begleiteten Raeber sein Leben lang.

Die erste Publikation

Halt findet er im Schreiben. 1950 erscheint eine erste Publikation mit Gedichten: «Gesicht im Mittag» erscheint als Kleinstauflage im Basler Vineta Verlag. Im selben Jahr promovierte Raeber an der Universität Basel und heiratet Mareile Georgi. Für rund ein Jahr, zwischen 1951 und 1952, arbeitet er an der «Schweizerschule» in Rom. 

Der wiederholte Kontakt mit der Stadt Rom prägte sein Schreiben stark. Raeber hatte sich also in seiner Glaubenskrise vom Dogma abgewandt – die Mythen aber blieben wichtig.

Am 25.6.1948 schrieb er im Tagebuch: «Dichtung als mythische Aussage: Versuch, das Unsägliche auszudrücken, das sich anders nicht mehr ausdrücken lässt. Da wir alle anderen Aussageformen verloren haben.» Man beachte: nicht mehr, und wir haben verloren. Das klingt, vor allem in der Rückbesinnung auf starke, zeitlose Bilder, nach der Strategie der literarischen Moderne nach dem Ersten Weltkrieg. Man denke an Eliots «The Waste Land».

«Nein, Raeber war nicht politisch.»

Nun also die Frage, wie man nach der Shoah noch Gedichte schreiben kann? Nicht wirklich, Raeber fährt fort: «[D]ie Kritik hat sie unterhöhlt und unaufhörlich weggeschwemmt. Es bleibt nur noch das Sprechen in Bildern. Dichtung als […] Versuch einer Neu-Übersetzung des scheinbar (aus dem rationalen Raum) verlorenen Göttlichen in menschlichen Vorstellungsweise.»

Nicht im Kontext seiner Zeit

Nein, Raeber war nicht politisch. Seine Krise des Sagbaren und der Identität steht nicht im Kontext seiner Zeit; sie betrifft ihn ganz alleine. Sein Projekt ist die Reproduktion der leuchtenden Wolke, die die Bäume beglänzt – aber ohne den strengen Herrn Jesus. Eine bessere Stadt für dieses Projekt als Rom gibt es nicht.

1957 erschien bei Luchterhand der Gedichtband «Die verwandelten Schiffe», der Raeber einige Aufmerksamkeit brachte. Die Mutter war mittlerweile verstorben, und Ende der 50er begann Raeber homosexuelle Affären.

Die Beleidigung des Kuno Raeber durch den Kritiker Walter Jens

«Jene, die vom Künstler das Engagement verlangen, haben einen zu engen Realitätsbegriff. Sie glauben, die sie vom Augenblick bedrängenden politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Fragen seien die eigentlichen, alles andere sei uneigentlich, Ausflucht, bestenfalls Spiegelung des Eigentlichen.»

Tagebuch, 24.5.1959 

Durch seine Erfolge als Lyriker war Raeber im Umfeld der Gruppe 47 gelandet. Führen wir uns einige Umstände nochmal kurz vor Augen: Die Gruppe 47, wenn man das einmal so kollektiv ausdrücken darf, betrieb Nachkriegsliteratur, «litterature engagée», suchte neue Formen nach der Katastrophe.

Im Umfeld der Nachkriegsliteratur

1943, wie es Wyrwa und Klein pointiert formulieren, «als seine Altersgenossen, unter denen er später lebt, schon Hitlers Soldaten sind, sitzt Raeber noch im Gymnasium und schreibt eine Hymne an Apollo». Als sich der Krieg 1945 seinem Ende zuneigt, erlebt Raeber Sinnkrisen im Noviziat. Das grosse europäische Trauma zieht also im Hintergrund vorbei, während Raeber mit sich selber ringt. Dass sein autoreflexives Projekt im Umfeld der Nachkriegsliteratur einen schweren Stand hat, ist einleuchtend.

«Raeber hatte wenig Verständnis für zeitgeistige und politische Literatur.»

Als Lyrik mag es noch funktioniert haben, aber als Raeber sich eher der Prosa zuwandte, war die Form vielleicht zu drastisch, der Versuch zu gewagt, das Ergebnis zu wenig verankert in der Realität. Leider habe ich hierzu die Quelle nicht mehr gefunden, aber jemand sagte es sehr treffend: «Solange er Lyrik schrieb, merkte man nicht, dass er kein Nachkriegsschriftsteller war.» (Zitat möglicherweise ungenau.) Raeber seinerseits hatte wenig Verständnis für zeitgeistige und politische Literatur.

«Päderastenprosa»

1959 las Raeber bei einem Treffen der Gruppe 47 aus seinem 1960 als «Die Lügner sind ehrlich» erschienenen Roman (der sich mit der Beziehung zu Balthasar auseinandersetzt). Walter Jens kritisierte erst den Stil, den er schwerfällig fand.

Diese Kritik konnte wohl auch Raeber nachvollziehen. «Es war mir sofort klar, dass die fünf Seiten, die ich las […] allein schwer und dumpf wirken, wirkungslos bleiben mussten», schreibt er im Oktober 1959 im Tagebuch. Und die gefühlte «Ablehnung aus dem Hörerkreis» habe ihn «gelähmt, sich wie Blei auf mich gelegt […] Der Text verdorrte mir im Mund».

Jens liess es aber dabei nicht bewenden und bezeichnete Raebers Text als «Päderastenprosa». Ein Vorwurf, der nichts mit dem Text zu tun hatte, sondern einfach eine persönliche Beleidigung war. Raeber war schwer getroffen – und fortan im Feuilleton marginalisiert.

Es folgte die Scheidung von Mareile Georgi, mit der er drei Kinder gezeugt hatte. Die nächsten Jahre waren geprägt vom Akzeptieren und Ausleben der eigenen Homosexualität, vom Schritt zum Berufsschriftsteller, noch einigen Gedichtbänden und Gelegenheitsarbeiten.

Wir überspringen diese, und 20 weitere Jahre, und betrachten noch punktuell zwei Werke aus den 80ern.

Literatur als Hypnose: «Sacco di Roma»

«Das Wasser, kaum dass du den Pfropfen herausziehst, fliesst aus der Wanne, langsam zuerst und dann schneller und schneller, den Abfluss hinunter …»

«Sacco di Roma», 1989, Ammann Verlag. 

Das spätere zuerst: «Sacco di Roma» erschien 1989 im Ammann Verlag. Wie sehr weit oben erwähnt, erschien es später als «Der Wirbel im Abfluss» erneut. Was es genau damit auf sich hat, konnte ich nicht eruieren. In den Tagebüchern nennt es Raeber jedenfalls bis zur Veröffentlichung bei letzterem Namen, danach bei ersterem. Item.

Form ohne zeitlichen Ablauf

In «Sacco di Roma» betreibt Raeber die Übertragung seiner poetologischen Prinzipien auf die Prosaform wohl so konsequent wie sonst nirgends. Christiane Wyrwa umschreibt es in «Text+Kritik» 1/16 so: «Ein spiralförmig kreisendes punktloses Satzgefüge», das «keine Aussagen über etwas macht, sondern die Wörter führen in mimetischer Präzision die Bewegung des Wassers auf, die sie zugleich aussagen».

Darin spiegelt sich, wie für Raeber das Gedicht funktionierte: Von einer «strahlenden Mitte» aus sollte alles ins gleiche Licht getaucht werden. Eine Form ohne zeitlichen Ablauf. Man erinnere sich an die Wolke.

Weiter Wyrwa: «Im Zentrum steht die Engelsburg, als wandelbarer Ort der Dauer, und drinnen ist in ständigen Metamorphosen der Stadtpatron Laurentius mit dem Lorbeer des Dichtergottes im Namen rastlos tätig, dem Verschwinden aller Menschen und Dinge das Bemühen um Bewahrung entgegenzusetzen.»

Das unverfälschte Bild

Ein ähnliches Bild entwarf Raeber 1973 im Essay «Plädoyer für den Elfenbeinturm», wo eben dieser Elfenbeinturm im Zentrum steht und dem Dichter als Ort seiner Verwandlungen dient:

«Der Elfenbeinerne Turm steht mitten im Zentrum des Sturms, seine Wände schirmen ihn zwar ab, doch seine Fenster gewähren Aussicht und Einblick in alles. Nur dadurch, dass er sich in diesen Turm zurückzieht, sich darin, indem er sich der Welt entschieden verweigert, einschliesst, gelingt es dem Dichter, die Dinge zu erkennen und ihr neu geordnetes Bild als Gegenwelt zu erschaffen.»
Diese Gegenwelt entspringt aus dem «unverfälschten Bild», das der Dichter in seinem Geist besitzt und in seinem Werk wiederherstellt.

Aleida Assmann, ebenfalls in Text+Kritik 1/16, zieht eine Parallele zwischen dem Gebäude der Engelsburg und dem Aufbau des Romans: Beide besässen eine «Palimpsest-Struktur», das heisst, sie werden permanent erweitert, überschrieben, variiert. Schon 1952 schrieb Raeber über diese Form im Tagebuch.

Van Gogh, schreibt er, male immer wieder «neue Bilder vom gleichen Strauch». Wenn aber ein Dichter sein Motiv wiederhole und variiere «so tadelt man das sofort als Monotonie, empfindet es als einen Mangel». Dabei komme es «immer nur auf die Intensität, auf die erhellende, enthüllende Kraft des künstlerischen Prozesses an». 37 Jahre später verhallt dieses Credo weiter ungehört. «Sacco di Roma» stösst auf wenig Interesse.

Rückkehr ins Ghetto: «Abgewandt Zugewandt»

«Die Sprachsituation in diesem Land, das Verhältnis der Schweizer zu ihrer Sprache bleibt ein unverrückbarer Stein des Anstosses für mich. Und zwar vor allem wegen seiner Wirrheit, seiner völligen Inkonsequenz.»

Tagebuch, 22.9.1980 

Luzerner Alemannisch

Raeber hatte nach 1950 nicht mehr viel mit der Schweiz zu tun gehabt. Tübingen, Hamburg, München, New York, immer wieder Rom waren seine Orte. Umso überraschender mutet es an, dass Raeber 1985 mit «Abgewandt Zugewandt» im Ammann Verlag Gedichte auf Hochdeutsch und «Luzerner Alemannisch» veröffentlichte.

Wie es Peter von Matt, einmal mehr in Text+Kritik 1/16, formuliert: «Hätte er plötzlich lateinische Gedichte geschrieben, man wäre weniger überrascht gewesen.» Von Matt sieht die Gründe für die Rückkehr ins heimatliche Idiom vor allem im klanglichen Reiz und der Einzigartigkeit gewisser Wörter. Tatsächlich; dem «Chosle» ist ein Gedicht gewidmet, dem «Chübel», der «Gottere» dem «Schlöttli ond Gschtältli».

Den Schweizern Grenzen aufzeigen

«Einen so unwiderstehlich rhythmischen Zug hat in der Dialektlyrik der Schweiz kein anderer erreicht», findet von Matt. Tatsächlich könnte man Raebers Mundartgedichte heute problemlos auf einer Bühne lesen, und es würde ganz zeitgemäss Spoken-wordig wirken. Er war halt einfach 30 Jahre früher damit.

Vielleicht, wenn man das obige Zitat miteinbezieht und das Nachwort liest, wollte er den Schweizern auch einfach die Grenzen «ihrer» Sprache aufzeigen, die provinzielle Attitüde im Verhältnis zur Standardsprache, die man ablehne und für importiert halte.

«Als ob nicht alle Hochsprache, das liegt in ihrem Wesen, überall ausser in der Gegend ihrer Entstehung ‹importiert› wäre.»
Kuno Raeber

Geistige Landesverteidigung

Er führt dies unter anderem auf die geistige Landesverteidigung zurück, und bemerkt (völlig richtig): «Als ob nicht alle Hochsprache, das liegt in ihrem Wesen als überregionale Idiome, überall ausser in der Gegend ihrer Entstehung ‹importiert› wäre. [… D]as Hochdeutsche ist in der Schweiz nicht mehr und nicht weniger ‹importiert› als in ganz Westdeutschland und wurde hier zuerst einmal früher und leichter angenommen als etwa in Alt-Bayern.»

Warum also Grenzen aufzeigen? Es gibt in «Abgewandt Zugewandt» etwa das hochdeutsche Gedicht «New York I–II» und das allemanische «Neu York I–II». Das erste beginnt so:

Was für Blumen was

für Blätter weg–

geworfen die Stengel

schwarz und zertreten

die Zypresse

über den Bäumen und über

Pylonen die

Pyramide.

Das zweite beginnt so:

Gönder öbere

gönder ond hender

ke Angscht det äne

heigs nümeh heigs nüd

ond nümeh vo dem was es bes jetz

emme gha hed es

Hus ond es Liecht

ond mängisch

e Wolke?

– Weischwienimeine?

Schluss

S Libli

Ond deh sig de Tod

usecho seidmer ond heig e de Hand e

glänzegi Sägesse gha on är heig

nome es wiesses

Libli agha öber sim Greppi das sig

grad gäbig gsi seidmer mer heig

dor sis Libli dore em Tod

sini Reppi seidmer

ganz reng chönne zelle.

«Abgewandt Zugewandt», Ammann 1985.

 

Kuno Raeber starb 1992.

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